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Weltanschaulich

In Berlin dürfen Lehrerinnen künftig mit Kopftuch unterrichten. Berlin war das letzte Bundesland, in dem ein solches Kopftuchverbot galt. Gegen eine Entscheidung des Bundesarbeitsgericht, dass ein pauschales Kopftuchverbot unzulässig sei, hatte Berlin Verfassungsbeschwerde eingelegt. Diese war jedoch Anfang des Jahres abgelehnt worden. 1995 hatte das Bundesverfassungsgericht andere Maßstäbe angelegt und die Vorgabe der Bayerischen Volksschulordnung für verfassungswidrig erklärt, wonach in jedem Klas­senzimmer ein Kruzifix anzubringen war.

Berlin hatte sich auf sein Neutralitätsgesetz von 2005 berufen, das „die Beachtung der staatlichen religiösen und weltanschaulichen Neutralität im Öffentlichen Dienst“ sicherstellen soll. Danach dürfen Lehrer/innen, Richter/innen und Polizist/innen keine sichtbaren religiösen oder weltanschaulichen Zeichen tragen. Zudem gibt es ein beamtenrechtliches Neutralitätsgebot, das Beamte verpflichtet, bei politischer Betätigung innerhalb und außer­halb des Dienstes „diejenige Mäßigung und Zurückhaltung zu wahren, die sich aus ihrer Stellung gegenüber der Allgemeinheit und aus der Rücksicht auf die Pflichten ihres Amtes ergeben“.

Die Bundesbeauftragte für Antidiskriminierung, Ferda Ataman, begrüßte die Neuregelung als „guten Tag für die Religionsfreiheit“. Offenbar verkennt sie, dass das Kopftuch zumeist keine Bekleidungsfrage ist, sondern eine religiös-politische Demonstration. Vertreter/innen freisinniger und säkularer Überzeugungen erheben daher deutlichen Widerspruch und kritisieren die Äußerung von Ataman als unsensibel und kontraproduktiv. Sie sehen im Ende des Kopftuchverbots für Lehrerinnen einen schlechten Tag für den weltanschaulich neutralen Staat. „Neutralität ist nicht grundgesetzwidrig“ heißt es da, und es wird vor dem Eindringen islamistischer Ideologien in die Schulen gewarnt.

Besonders deutlich formuliert das Institut für Weltanschauungsrecht (ifw) seine Kritik.„Das Ende des Kopftuchverbots …. ist kein guter Tag für die Religionsfreiheit, sondern vielmehr ein schlechter für den weltanschaulich neutralen Staat und die Gleichberechtigung der Geschlechter.“ Das ifw fordert vom säkularen Rechtsstaat, die Religions- und Weltanschauungsfreiheit zu garantieren. In einem Kurzgutachten wird die Frage aufgeworfen, „wie weltanschaulich neutral eine orthodoxe islamische Lehrerin sein kann, die nicht einmal für die begrenzte Zeit ihrer sichtbaren Berufsausübung auf ein demonstratives Glaubenssymbol verzichten will.“

Die Meinung des Bundesverfassungsgerichts, erst dann, wenn der Schulfrieden gestört wird und ein Konflikt eskaliert, könne ein Kopftuchverbot verhängt werden, ist nach Ansicht des ifw weder praktikabel noch zufriedenstellend. Diese Haltung vernachlässige den Grundsatz des weltanschaulich neutralen Staates. Zudem werde das Kopftuch bekanntlich oft als Instrument zur Unterdrückung von Frauen eingesetzt, wie insbesondere Afgha­nistan und der Iran beweisen.

Anders als in anderen Staaten sieht das deutsche Grundgesetz bedauerlicherweise keine strikte Trennung von Staat und Religion vor. Der Staat arbeitet mit den Religionsgemeinschaften zusammen und regelt in Art. 140 GG deren Rechte und Pflichten. Im aktuel­len Fall könnte jedoch die Bestimmung relevant sein, dass die staatsbürgerlichen Pflichten nicht durch die Ausübung der Religionsfreiheit beschränkt werden dürfen.

In einer Online-Umfrage zum Kopftuchtragen von Lehrerinnen sprachen sich nur 27 % dafür aus, dass „auch an öffentlichen Schulen kulturelle Vielfalt und Religionsfreiheit gelebt werden können“, während 73 % meinten, dass „religiöse Symbole an öffentlichen Schulen nichts verloren haben“. 57 % der Befragten befürworteten sogar – nach österreichischem Vorbild – ein Verbot des Kopftuchtragens an Grundschulen.

Insofern vertreten das Institut für Weltanschauungsrecht und die anderen säkularen Institutionen offenbar durchaus eine Mehrheitsmeinung der Bevölkerung. Und warum gibt es ein spezielles Institut für Weltanschauungsrecht? Zwar sind das Gebot der Neutralität des Staaten in Fragen der religiösen und nichtreligiösen Weltanschauung und die Freiheit der Menschen, sich zu einer Weltanschauung zu bekennen und entsprechenden Gemeinschaften beizutreten, in Art. 4 des Grundgesetzes verankert, doch wird dies nach Überzeugung des ifw in Politik, Gesetzgebung, Rechtsprechung und Verwaltung vielfach missachtet. Das führte 2017 zur Gründung des ifW, einer gemeinnützigen, politisch unabhängigen und überparteilichen Institution.

Das ifw setzt sich dafür ein, dass alle Bürger/innen in Freiheit und Gleichheit leben und nicht aufgrund ihrer Weltanschauung diskriminiert werden. Keine Weltanschauung dürfe über oder neben dem Gesetz stehen. Weltanschauliche Neutralität sei somit ein objektives Verfassungsgebot, das dem staatlichen Handeln klare Grenzen setze. Das ifw betreibt rechtswissenschaftliche Forschung, Aufklärungs- und Öffentlichkeitsarbeit und die Publikation rechtspolitischer Forderungen. In konkreten Fällen werden Missstände öffentlich ge­macht, Gutachten erstellt und Betroffene in richtungweisenden Gerichtsprozessen unter­stützt.

Die Arbeit des Instituts wird aus Mitteln der Giordano-Bruno-Stftung finanziert. Zuschüsse aus öffentlichen Mitteln gibt es nicht. Das ifW publiziert Schriften zum Weltanschauungsrecht, u.a. ein Online-Lexikon zu diesem Thema. Als unregelmäßige Mitteilungen werden Stellungnahmen, Rechtsgutachten und Kommentare zu Gerichts- und Verwaltungsentscheidungen sowie Anfragen und amtliche Antworten nach dem Informationsfreiheitsgesetz veröffentlicht. Beim Deutschen Bundestag ist das ifw im Lobbyregister eingetragen.

Welch intensive Arbeit diese doch recht kleine Institution leistet, zeigen die Stellungnahmen und Publikationen der letzten drei Monate:

# Missbrauch in der Kirche – erhebliche Versäumnisse der Ermittlungsbehörden (27.9.)

# Ende des Kopftuchverbots (1.9.)

# Die Mitarbeiterrichtlinien der Evangelischen Kirche: Ein Verlegenheitsdokument (22.8.)

# Einrede der Verjährung – Rechtsmissbrauch durch die Kirche (18.7.)

# Staatsleistungen (an die Kirchen) – kein Ende in Sicht (16.8.)

# Religiös-weltanschauliche Neutralität – Zur rechtsdogmatischen Klärung und zur deutschen Realität (16.8.)

# Sexueller Missbrauch und Zwangsabtreibung – Klage gegen das Erzbistum Köln (13.7.)

# Kirchenaustritt – ein zulässiger Kündigungsgrund ? (8.7.)

# Sterbehilfe – Selbstbestimmung am Lebensende bleibt bestehen (8.7.)

# Beabsichtigte Leihmutterschaft – kein zulässiger Kündigungsgrund (1.7.)

Über Heiner Jüttner:

Der Autor war von 1972 bis 1982 FDP-Mitglied, 1980 Bundestagskandidat, 1981-1982 Vorsitzender in Aachen, 1982-1983 Landesvorsitzender der Liberalen Demokraten NRW, 1984 bis 1991 Ratsmitglied der Grünen in Aachen, 1991-98 Beigeordneter der Stadt Aachen. 1999–2007 kaufmännischer Geschäftsführer der Wassergewinnungs- und -aufbereitungsgesellschaft Nordeifel, die die Stadt Aachen und den Kreis Aachen mit Trinkwasser beliefert.

Ein Kommentar

  1. Iris Volk

    @extradienst Interessant. Ich hab neulich rausgefunden, dass das sogenannte “Kopftuchverbot” in Baden-Württemberg gar nie abgeschafft wurde. Das Schulgesetz wurde nur nach dem BVerfG-Urteil von 2015 anders ausgelegt… https://mastodon.social/@funkvolk/111108254029386276

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