Anmerkungen zum Versagen der politischen Mitte

Der unsägliche Hubert Aiwanger, der auch der nächsten bayerischen Staatsregierung als stellvertretender Ministerpräsident angehören wird, verstieg sich am Wahlabend in einem Interview zu der Behauptung, den Freien Wählern sei es zu verdanken, dass die AfD in Bayern nicht noch stärker geworden sei. Dahinter steckt die Logik, dass man Rechtsextreme und Verfassungsfeinde am besten bekämpft, indem man ihr Programm übernimmt. Während Aiwanger dies inhaltlich nicht besonders schwer zu fallen scheint, müssten die demokratischen Parteien erhebliche Verrenkungen vornehmen, folgten sie der Logik Aiwangers. Sie haben aber schon vor den Landtagswahlen in Bayern und Hessen ohne sichtbare Anzeichen von Rückenschmerzen damit begonnen.

Bei Friedrich Merz muss man dabei keine Sorge haben, dass er sich zu sehr verbiegt. Hat er sich doch mit seiner neuen Zähne Polemik, zum Vorreiter fremdenfeindlicher Politik qualifiziert.

Andere Politiker des demokratischen Spektrums tun sich auf dem Weg der Übernahme rechtsextremer Programmatik etwas schwerer. Markus Söder tauchte aber bereits im Wahlkampf mit dem verfassungswidrigen alten Hut der Obergrenze auf. Etwas seriöser aber inhaltlich auf der gleichen Linie bringt Markus Blume, bis vor kurzem noch Generalsekretär der CSU, die dafür notwendige Verfassungsänderung ins Spiel. Die FDP fordert per Präsidiumsbeschluss nicht nur eine „Wende in der Migrationspolitik“. Sie geht sogar weiter. Christian Lindner verlangt eine explizite Abkehr von der Migrationspolitik Angela Merkels.

Nancy Faeser vollzog bereits Anfang Mai ihre persönliche Migrationswende: Beschleunigte Grenzverfahren innerhalb von drei Monaten an den EU-Außengrenzen, Haftzentren für abgelehnte Asylbewerber und kurze Einspruchsfristen bei abgelehnten Asylbescheiden. Genützt hat es ihr und der SPD nichts. Gewählt wird im Zweifel das Original und nicht die durchschaubare Kopie.

Nicht wirklich überraschend, aber doch in dieser Deutlichkeit mehr als frech der moralinsaure Ex-Bundespräsident Joachim Gauck mit seiner Forderung das Undenkbare zu denken. Die Regierung müsse wieder „Kontrolle über das Geschehen“ bekommen. Ob Gauck damit auch den unkontrollierten Zustrom von Flüchtlingen aus der Ukraine (ca. 1,2 Mio.) meint? Wohl eher nicht, denn er fordert im ZDF-Interview (Berlin direkt vom 17. 09. 2023) die Politik auf, über den im Artikel 16a des Grundgesetzes verbrieften Schutz vor Verfolgung („Politisch Verfolgte genießen Asyl“) zu diskutieren. Im bisherigen Berichtsjahr des Bundesamts für Migration wurden 233.744 Asylanträge vom Bundesamt entgegengenommen. Dies bedeutet nach der Statistik eine Zunahme der Antragszahlen um 73,3 % im Vergleich zum Vorjahr. Die meisten von Ihnen kommen allerdings aus der Türkei (36.000) und Afghanistan (41.000), beides, wie man weiß, astreine rechtstaatliche Demokratien.

Angesichts der nach den Landtagswahlen an Dynamik gewinnenden Debatte um eine „Asylwende“ erinnert man sich unwillkürlich an Alexander Gauland, den früheren hessischen Staatssekretär von Walter Wallmann (CDU) der bereits 2016 angekündigt hat, die Altparteien in der Asylfrage „vor sich herzutreiben“ (Phoenix, 16. März 2016).

Ängste im eigenen Land zu schüren, scheint erfolgversprechender zu sein als eine nüchterne Analyse der Ursachen der weltweiten Migration vorzunehmen. In der Forschung werden die Motive für die Migration in Push- und Pull-Faktoren aufgeteilt. Als Push-Faktoren (Druck in einem Land, der zu Auswanderung bewegt) gelten u.a. Krieg, Verfolgung, Armut, Hunger und Umweltkatastrophen. Als Pull-Faktoren (Anreize, in ein bestimmtes Land zu wandern) gelten Arbeitskräftebedarf, hoher Lebensstandard und (soziale) Sicherheit (vgl. dazu u. a. die Übersicht des Demokratiezentrums Wien).

Der wissenschaftliche Dienst des Bundestags hat dazu im November 2020 unter dem Aktenzeichen WD 1 – 3000 – 027/20 eine umfangreiche Dokumentation vorgelegt, dessen Quintessenz lautet: Die Ursachen für Migration sind komplex. Politische Konzepte müssen diese Komplexität berücksichtigen.

Die Parteien der „demokratischen Mitte“ tun jedoch genau das Gegenteil. Ihre Exponenten liefern sich einen Wettbewerb im Anprangern tatsächlicher oder vermeintlicher Pull-Faktoren und wundern sich, wenn die AfD einen Wahlerfolg nach dem anderen einfährt. Gaulands Konzept scheint aufzugehen.

Das Gefährliche daran für unsere Demokratie ist die völkische Verengung des Demokratiebegriffs. Von Aiwangers Reden vom wirklichen Willen der Bevölkerung ist es nicht mehr weit zur Roland Freislers Definition von Recht. Recht ist, was dem Volke frommt. So hat der Präsident des sogenannten Volksgerichtshofs seine Auffassung von Recht definiert, das er dann u. a. in den Todesurteilen gegen die Attentäter des 20. Juli 1944 anwendete.

Gaulands Triumph haben sich die Parteien, der „demokratischen Mitte“ zu einem Großteil selbst zuzuschreiben.

Ja, die Zeiten sind nicht einfach. Deutschland hat einen deutlichen Wohlstandsverlust zu verkraften und zwar nicht zugunsten der Mühseligen und Beladenen dieser Welt.

Die Wirtschaft schwächelt und zusätzlich zu dem Krieg in der Ukraine jetzt auch noch ein neuer (alter) Krieg im Nahen Osten, der sich hoffentlich nicht zu einem Flächenbrand entwickelt.

In beiden Fällen sind es nicht liberale Demokratien, die das Unheil anrichten. Krieg und Elend herrschen dort, wo autoritäre Regime das Sagen haben. Der Iran und seine von ihm finanzierten Milizen im Gaza-Streifen und im Libanon sind erklärte Gegner westlicher Demokratien mit ihren liberalen Wertvorstellungen. Im Falle von Putin haben AfD-Politiker/-innen mehrfach offene Sympathie gezeigt.

Die Wahlergebnisse von Bayern und Hessen sind eine deutliche Warnung. Die liberale Demokratie ist keineswegs selbstverständlich. Der freiheitliche Rechtsstaat beinhaltet Werte, für die sich einzutreten und zu streiten lohnt. Bei den Höckes und Weidels wäre er nicht in guten Händen.

Über Dr. Hanspeter Knirsch (Gastautor):

Der Autor ist Rechtsanwalt in Emsdetten und ehemaliger Bundesvorsitzender der Deutschen Jungdemokraten. Er gehörte in seiner Funktion als Vorsitzender der Jungdemokraten dem Bundesvorstand der F.D.P. an und war gewähltes Mitglied des Landesvorstands der F.D.P. in NRW bis zu seinem Austritt anlässlich des Koalitionswechsels 1982. Mehr zum Autor lesen sie hier.

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