Das Kölner Museum Ludwig richtet der 85-jährigen Füsun Onur eine Retrospektive aus. Sie ist eine ganz Große für die zeitgenössischen Kunst der Türkei
Abgesessene Möbel, Blechdosen auf Regalen, vergilbte Familienfotos an der Wand. In der altertümlichen Istanbuler Wohnung scheint die Zeit stillzustehen. Lautlos schreitet eine Katze durch ein leeres Wohnzimmer, vor dem Fenster glitzert die ewig bewegte Oberfläche des Bosporus. Der Eindruck von Nostalgie, den der türkische Videokünstler Ali Kazma in seinem Film „Home“ von 2014 eingefangen hat, täuscht. Denn das scheinbar verstaubte Kuriositäten-Kabinett im Stadtteil Kuzguncuk auf der asiatischen Seite der 15-Millionen-Metropole ist seit über 57 Jahren das Zuhause einer der großen Avantgarde-Künstlerinnen der Türkei.
In die Wiege geschrieben war diese Rolle Füsun Onur nicht unbedingt. Zwar wuchs die 1938, im Todesjahr des Staatsgründers Atatürk, geborene Künstlerin im kosmopolitisch geprägten, damals „Klein-Amerika“ genannten Stadtteil Kuzguncuk in einem kultursüchtigen Mittelklasse-Umfeld auf.
1956 begann Onur ihr Studium an der Staatlichen Akademie der Schönen Künste Istanbul, der heutigen Mimar-Sinan-Kunstuniversität, unter dem Rektorat des progressiven Bildhauers Ali Hadri Bara. Der Durchbruch zur Künstlerin eigenen Rechts gelang ihr erst 1970, drei Jahre nach der Rückkehr von ihren, mit einem Fulbright-Stipendium finanzierten Studienjahren in Washington und Baltimore. Die weißen Skulpturen, die sie in ihrer ersten Ausstellung damals in der Taksim Art Gallery präsentierte, verrieten die Frau unter Moderne-Einfluss, die ihre theoretische Abschlussarbeit im Kunststudium über den Existenzialismus geschrieben hatte. Onur experimentierte mit Formfragen wie Offen- und Geschlossenheit, Leichtigkeit und Schwere oder der Skulptur als Zeichnung im Raum.
Spätestens die Vitrine aus blauem Plexiglas, in die sie 1975 eine minimalistisch gezackte Figur mit Kugel stellte, macht ihr Œuvre zu einem Beispiel für den Versuch, den kalten Formalismus der Moderne sensitiv aufzubrechen. In der Türkei der 1970er und 80er Jahre mit ihrer Dominanz der Politkunst saß sie damit freilich lange zwischen allen Stühlen. Dabei ging die Begeisterung für die Form bei Onur durchaus mit sozialer Sensibilität einher. Mitten in das patriarchale und sexistische Herz der türkischen Mehrheitsgesellschaft zielte ihre Arbeit „Nude“ von 1974, mit der sie ungewohnt direkt auf einen Kulturkampf reagierte. Aus Protest gegen die Angriffe auf die Ausstellung „20 Skulpturen in Istanbul“ der dortigen Bildhauer-Gesellschaft ein Jahr zuvor, weil dabei im Stadtteil Karaköy die Statue einer nackten Frau aufgestellt worden war, spießte Onur die Diskrepanz zwischen öffentlicher und privater Moral auf: Sie setzte eine nackte Pin-up-Puppe, wie sie damals zu Tausenden an den Innenspiegeln türkischer Autos baumelten, in ein kleines, prismatisch verspiegeltes Holzkabinett. In Köln noch einmal zu sehen ist auch die Arbeit „Es war einmal …“, mit der Onur den Türkischen Pavillon auf der Biennale von Venedig 2022 bespielte. Darin verschmolz die Künstlerin das Kindlich-Spielerische, Fragile und Humorvolle ihres Œuvres mit dem Ernst einer zivilisatorischen Überlebensfrage.
Figuren aus Draht
Die aus Draht wie Kinderspielzeug gebogenen Figuren, die in einundzwanzig Szenen die Geschichte von Katzen und Mäusen erzählen, die sich zwischen Venedig und Istanbul zusammengeschlossen haben, um die durch Krieg, Umweltzerstörung und Konsumwahn verheerte Erde zu retten, hat auch in diesen Tagen nichts von ihrer Aussagekraft verloren. Mit der Retrospektive für Onur, der ersten in Deutschland nach der im Istanbuler Kunstmuseum ARTEr 2014, schielt das Museum Ludwig nicht vordergründig auf seine lokale Klientel.
Nach Berlin ist Köln die deutsche Stadt mit der größten türkischstämmigen Community. Vielmehr zollt sie nach der großen Retrospektive zu Onurs Jahrgangsgenossin Nil Yalter vor vier Jahren an selber Stelle vernachlässigten Frauengestalten der neueren Moderne und den lange nicht beachteten „Großmüttern“ (Vasif Kortun und Erden Kosova) der zeitgenössischen türkischen Kunstszene Tribut.
Vor allem legt sie deren ästhetische Wurzeln frei. Wie Yalter war Onur eine Pionierin, ebnete den Weg für das „Kunstwunder“ am Bosporus, das ab den 1990er Jahren globale Aufmerksamkeit auf sich zog. Ohne die Wende zur poetischen Installation dieser beiden Künstler:innen wären auch solche Œuvres wie die der rund zehn Jahre jüngeren Künstlerinnen Gülsün Karamustafa und Ayşe Erkmen, aber auch des 1971 geborenen, konzeptuellen Tausendsassas Halil Altındere nicht entstanden.
Auch wenn Onur es hasste, in die Schublade irgendwelcher Ismen gesteckt zu werden und sich keineswegs in der Pop-Art zu Hause sah. Das Museum Ludwig ist der richtige Ort für eine Künstlerin, die Alltagsgegenstände und „niedere“ Materialien wie Plexiglas oder Tüll in ihr Œuvre integrierte, die dazu einlud, ihre Arbeiten zu benutzen, und sie ungern auf Sockeln sah.
Zu Beginn der Schau ist ihre „Shapeless Form“ zu sehen, die sie 1972 auf der „Biennale der Jungen Künstler“ in Paris zeigte. Ein flexibles, S-förmig geschwungenes Rohr, das die Besucher:innen mit dem Tritt auf eine Luftpumpe aufblähen konnten.
Wer direkt gegenüber in der Arbeit „Die Dritte Dimension in der Malerei – Tritt ein!“ von 1981 die bodenlangen blauen Fäden über den vier Seiten eines Holzkubus beiseite schiebt und sich mit dem Rücken auf das Kissen am Boden legt, blickt in die Wollfäden darüber wie in das Firmament – das Bild ins Dreidimensionale gewendet.
Keine Schwermut
Dieser partizipatorische Impuls ihres Werks atmet auch die neue, von Onur eigens für die Kölner Schau konzipierte Arbeit am Schluss des Parcours, den Emre Baykal, Chefkurator des Istanbuler ARTEr-Museums, und Barbara Engelbach vom Museum Ludwig in Köln angelegt haben. „Raum mit Muse“ hat die Künstlerin den fast leeren, in ein blaues Dämmerlicht getauchten Saal genannt. Nur ein paar hölzerne Schemel der Sorte, auf denen man in Istanbul auf der Straße Tee zu trinken pflegt, stehen darin. Von der Decke baumelt eine aus Draht gebogene Engelsgestalt, von fern sind leise Geigenklänge zu hören.
Wer den sphärischen Raum betritt, ist aufgerufen, ihn mit der Fantasie zu füllen, von der Onur behauptet, sie habe „für mich nie an Glanz verloren. Sie nimmt mich mit auf eine Reise und trägt mich zu einem Ziel. Wo auch immer sie mich hinnimmt, da komme ich an“.
Mit der Kölner Wiederentdeckung dieser außerordentlichen, jedem Trend widerstehenden, heute 85-jährigen Künstlerin setzt sich der „Prozess der Rekonstruktion“ (Süreyyya Evren) der Anfänge der Gegenwartskunst in der Türkei fort.
Was er bedeuten kann, ist offen. So wie sich die Künstler:innen in der Zange zwischen der immer massiveren politischen Repression in Recep Tayyip Erdoğans Autokratie und der immer rascheren Abwanderung winden.
Füsun Onur, die aus den USA zurückkehrte, weil sie „hilfreich für mein Land“ sein wollte, hat ihre Heimat seitdem nie wieder verlassen. Für schwermütige Rückbesinnungen war sie selbst jedoch nie zu haben.
„I never look back“, sagte sie einmal, „when it’s done, it’s done.“ Manche ihrer Arbeiten hatte sie gar, wenn sie ihren Zweck erfüllt hatten, kurzerhand in den Bosporus vor ihrem Elternhaus in Kuzguncuk geworfen.
Füsun Onur: Retrospektive. Museum Ludwig, Köln. Bis 28. Januar 2024. Katalog: 34,80 Euro. Dieser Beitrag ist eine Übernahme von taz.de, mit freundlicher Genehmigung von Autor und Verlag. Links wurden nachträglich eingefügt.
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