Auf der „Sea-Watch 3“: „Die EU-Behörden wollen, dass die Menschen sterben“ – Adrian Pourviseh hat Rettungsaktionen der „Sea-Watch 3“ begleitet. Die schockierenden Erlebnisse hat er in einer Graphic Novel verarbeitet.

Am 5. Oktober 2023 erschien die Graphic Novel „Das Schimmern der See“ von Adrian Pourviseh beim Avant-Verlag. Das Buch ist ein Augenzeugenbericht von drei Rettungseinsätzen, die Pourviseh als „Sea-Watch“-Fotograf 2021 erlebt hat. Anhand von diesen drei Einsätzen durchleuchtet Pourviseh die mörderischen, schwer zu durchschauenden Grenzstrukturen der EU und ihre Zusammenarbeit mit der sogenannten libyschen Küstenwache. Das Buch basiert auf dem Tagebuch von Pourviseh, das er auf der „Sea-Watch 3“ geführt hat. Die im Buch benutzte Schrift „Seasummer“ wurde von der Schriftgestalterin Céline Hurka mit Stefa Bodnia gestaltet. Sie basiert auf Pourvisehs Handschrift, die auch in den Tagebüchern zu finden ist. Die Schrift spiegelt Pourvisehs Emotionen wider und wurde für sämtliche europäische Sprachen sowie auch das ukrainische Kyrillisch ausgebaut und besitzt fünf Alternativen pro Buchstaben, um dem unregelmäßigen Charakter seiner Tagebuchschrift treu zu bleiben.

Wer bist du und wie kamst du dazu, diese Graphic Novel zu machen?

Mein Name ist Adrian Pourviseh. Ich habe einen Master in Entwicklungsökonomie. Im Jahr 2015 kam ich zum Aktivismus. Ich habe als freiwilliger Dolmetscher für unbegleitete geflüchtete Minderjährige gearbeitet. Die Zeit war superprägend: Das waren Kinder, die nichts lieber wollten, als zur Schule zu gehen, und es nicht konnten aufgrund des Versagens der deutschen Behörden. Und sie wussten, dass ihnen möglicherweise eine Abschiebung droht, wenn sie, bis sie 18 sind, nicht zumindest eine Ausbildung angefangen haben. Im Jahr 2018 habe ich mit einer Freundin geredet, die auch als Übersetzerin mit sehr ähnlichen Sprachfähigkeiten auf der „Aquarius“, einem SOS-Schiff, eingesetzt war. Mir war nach dem Anruf relativ schnell klar, dass ich keine richtige Ausrede habe, dort nicht auch zu helfen, weil ich dieselben Fähigkeiten und Privilegien wie sie habe und mich auch bereit dafür gefühlt habe. Daraufhin habe ich mich beworben.

Wann war dein erster Einsatz?

Im Jahr 2019 war ich zum ersten Mal auf der „Sea-Watch 3“. Dort war ich bei zwei Einsätzen dabei, aber das Schiff durfte nicht aus dem Hafen. Das war kurz nachdem Carola Rackete in den Hafen von Lampedusa eingefahren ist und ein großer Eklat folgte. Dementsprechend war die „Sea-Watch 3“ insgesamt sechs Monate im Hafen festgesetzt und ich war zweieinhalb Monate mit dabei. Wir waren eine Crew von 22 ausgebildeten und trainierten Leuten, die jeden Morgen mit den Nachrichten aufgewacht sind, dass so und so viele Leute einige 100 Seemeilen südlich von uns umgekommen sind. Und wir saßen in einem startklaren Rettungsschiff im Hafen, was nicht rausdurfte aufgrund der italienischen Behörden und deren fadenscheinigen Begründungen. Dadurch versteht man wirklich, wie sehr die italienischen Behörden und auch die EU-Behörden eigentlich wollen, dass die Menschen sterben.

Deine Graphic Novel handelt aber nicht über diesen Einsatz?

Im Buch geht es um einen Einsatz im Jahr 2021. Da war ich als Fotograf dabei. Innerhalb von fünf Tagen hatten wir sechs Einsätze, bei denen wir insgesamt über 600 Leute gerettet haben. Mein Buch handelt von den ersten 72 Stunden und den ersten drei Rettungen. Dieser Zeitrahmen war genug, um das zu beschreiben, was ich beschreiben möchte, nämlich die Manifestation des europäischen Hasses, der in den Gesellschaften grassiert, den Populismus und Rassismus, der sich als absolute Hässlichkeit auf dem Mittelmeer manifestiert. In diesen Szenen sieht man die Leute in die Dunkelheit treiben und man fragt sich: Warum musste das passieren? Und die Antwort ist: Weil es so gewollt ist. Und diese Konstruktion des Elends und der Hässlichkeit beschreibt dieses Buch.

Hattest du die Intention, eine Graphic Novel zu machen, als du im Sommer 2021 auf der „Sea-Watch“ als Fotograf anwesend warst?

Nein. Ich war schon davor mit einem anderen Manuskript in Kontakt mit dem Avant-Verlag und musste die Idee erst einmal beiseitelegen, um auf die „Sea-Watch 3“ zu gehen. Dort habe ich, wie auch sonst, ein Tagebuch geführt, mit Worten und Zeichnungen. Zurück in Berlin habe ich mich wieder mit dem Verleger getroffen. Und als er meine „Sea-Watch“-Tagebucheinträge gesehen hat, meinte er: Wann fangen wir an, dieses Buch zu machen? Dann habe ich mich erst mal mit dem Gedanken arrangiert, Comicbuch-Autor zu sein, die nächsten eineinhalb Jahre meines Lebens damit zu verbringen – das hat natürlich alles viel länger gedauert. Ich kam traumatisiert zurück. Und meine Therapeutin hat auch noch mal bestätigt, dass dieses Buch auch was Therapeutisches für mich bedeutet. Das war einer der Gründe, aber nicht der Hauptgrund.

Kannst du sagen, was der Hauptgrund war, dieses Buch zu machen?

Also der Grund, warum ich das Buch schreibe, ist nicht, weil ich mein persönliches Trauma irgendwie verarbeiten will, sondern weil ich genau diese Szenen, die nicht fotografiert werden können, weil es absolute Notsituationen sind, zeigen will. Da legt jeder Fotograf, jede Fotografin die Kamera weg, um Leute aus dem Wasser zu ziehen. Und genau diese Szenen kann die Graphic Novel eben beschreiben. Du bist ja als Fotograf da, um alles zu dokumentieren, und irgendwann ändert sich dann deine Rolle. Du befolgst dann das Protokoll nicht mehr. Das ist dann im eigenen Ermessen, ob man denkt, man muss jetzt irgendwie ein Foto davon machen oder man muss vielleicht den Menschen aus dem Wasser ziehen. Und ich glaube, wir haben den menschlichen Reflex, andere aus dem Wasser zu ziehen.

Die Graphic Novel kann Bilder zeigen, die die Kamera in dem Moment nicht aufnehmen konnte.

Genau. Die Graphic Novel kann ganz neue Perspektiven, ganz neue Bilder geben. Wir sind völlig übersättigt von den Fotos vom Mittelmeer. Hat man eins gesehen, hat man irgendwie auch alle gesehen. So schrecklich, wie es ist, der Kopf macht zu, das Herz macht zu. Und dieses Gemalte, fast schon kindlich Anmutende erinnert, bringt uns eher in eine emotionale Zeit zurück, als man Kinderbücher gelesen hat – und es lässt unser Herz ein Stück weiter offen für die Geschichten, die hier so real sind und die erzählt werden müssen. Also die Art und Weise, wie ich das Buch gemacht habe, die Szenen, bei denen die Figur Adrian mit dabei ist, habe ich so miterlebt.

Die Szene nach der zweiten Rettung ist besonders bedrückend.

Hier wird die Hoffnung gezeigt, die die Menschen haben, nachdem sie einen unglaublich krassen Teil der Reise nach Europa überlebt haben. Sie wissen, wie knapp sie dem Tod entkommen sind und sie wenden sich Richtung Norden zu, mit einem hoffnungsvollen Blick zum Festland Europa. Natürlich ist es eine Farce, aber das wissen viele von ihnen nicht. Sie wissen nicht, dass sie monatelang in italienischen Lagern hausieren müssen, dass sie dort in elenden Zuständen untergebracht werden, dass sie von den Asylsystemen der Europäischen Union durch die Mangel gedreht werden, auf verschiedenste Art und Weise, durch Bürokratie und bürokratische Hürden springen müssen, dass sie sich nach jahrelangen Strapazen, dem Alltagsrassismus und dem realen Rassismus in der Europäischen Union in den jeweiligen Mitgliedsstaaten, obwohl sie nach Sicherheit suchen, so oft überhaupt nicht sicher fühlen können, dass diese ganzen Staaten triefen vor rassistischen Institutionen und Systemen, die ihnen das Leben schwer machen, denen selten oder vielleicht auch gar nie die Möglichkeit geben, richtig anzukommen. Das beschreibt dieser Moment.

Die Hauptfigur, also Adrian, erlebt das in einer kurzen Konversation mit einem der Überlebenden, der ihn fragt: Wann kommen wir an? Und Adrian sagt: „Ich kann es dir nicht sagen“, weil er selbst, also ich selbst, mich auch manchmal frage: Bin ich angekommen? Bin ich angekommen, wenn mein Vater Rassismus erlebt, wenn ich selbst Rassismus erlebe? Wenn ich selbst nicht als Teil von Deutschland gelte, für viele Menschen in diesem Land und ich mich selbst auch oft nicht unbedingt als Teil fühle.

Du erwähnst ein paar Mal, dass die Menschen, die diese Reise antreten, Helden und Heldinnen sind. Die Heldengeschichte ist eine archetypische Geschichte, die immer und immer wieder auftaucht, und das schon seit Jahrhunderten. Weil die Menschen, die über das Mittelmeer fliehen müssen, nicht weiß sind, sind es aber keine Heldengeschichten.

Ich versuche, auf eine subversive Art und Weise noch einen Schritt weiterzugehen. Wenn man sich überlegt: Was macht in der westlichen Erzählweise eine heldenhafte Entscheidung aus und was macht einen Helden aus? Ein Held trifft Entscheidungen, die schwer sind. Also eine Entscheidung, die schwerwiegende Folgen haben kann. Und wenn man genau aufpasst, dann trifft keiner der rettenden Figuren je eine heldenhafte Entscheidung. Alles, was wir tun, ist vorgeschrieben von einem Protokoll, und wir halten uns nur an das Protokoll. Wir machen nur unseren Job. Die Entscheidungen, die wir treffen, haben nie Konsequenzen für unser Leben. Die heldenhaften Entscheidungen trifft der Mann, der sein eigenes Leben aufs Spiel setzt, damit eine andere Familie nicht getrennt wird. Der Mann, der in das Unterdeck eines brennenden Bootes kriecht und mit seinen eigenen Armen das Feuer ausschlägt, damit seine Kinder nicht verbrennen. Das sind die heldenhaften Entscheidungen und das sind die Entscheidungen, die am Rande der Geschichte erzählt werden. Ich versuche es mit jeder Faser zu verneinen, dass wir Retter die Helden sind. Es wird ganz schnell ein White-Savior-Narrative gesponnen.

Adrian Pourviseh: Das Schimmern der See: Als Seenotretter auf dem Mittelmeer. Avant-Verlag, Berlin 2023, 224 Seiten, 25 Euro. Der Autor wurde 1995 in Koblenz geboren. Er studierte Orientwissenschaften in Marburg und Rabat (Marokko) und Entwicklungsökonomie an der Lund University in Schweden. Zudem besuchte er Summer Schools in Teheran, Alexandria und Uppsala und war in Klima-Forschungsprojekten in Namibia und Pakistan sowie für die Entwicklungsbehörde der USA tätig. Im Jahr 2015 begann er neben dem Studium als Übersetzer für geflüchtete Jugendliche zu arbeiten. Ab 2019 ging er als Übersetzer und Fotograf auf die „Sea-Watch 3“ und half als Freiwilliger auf der Insel Lesbos. Seine Erlebnisse auf der „Sea-Watch 3“ hielt er als illustrierte Tagebucheinträge fest. Dieser Beitrag unterliegt der Creative Commons Lizenz (CC BY-NC-ND 4.0). Er darf für nicht kommerzielle Zwecke unter Nennung des Autors und der Berliner Zeitung und unter Ausschluss jeglicher Bearbeitung von der Allgemeinheit frei weiterverwendet werden.

Über Grashina Gabelmann (Interview) / Berliner Zeitung:

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