Beueler-Extradienst

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Wer ist Hubert Aiwanger wirklich?

Der Landtag des Freistaat Bayern hat Markus Söder erneut zum Ministerpräsidenten gewählt. Am 2. 11.2023 werden die von Söder ernannten Minister vom Landtag bestätigt. Darunter ein gefährlicher Rechtsaußen, der sich in Trump-Manier erfolgreich zurück ins Amt gequengelt, gejammert und geschimpft hat. Unser Gastautor hat sich die Mühe gemacht, den inkriminierten Text näher zu analysieren und kommt zum überraschenden wie erschreckenden Ergebnis, das auf Indizien beruhen muss, weil die Aiwangers jede plausible Einlassung zur Tat verweigern.

Hubert Aiwanger war wohl kein Antisemit. Dies belegt unter anderem das Flugblatt, das in seiner Schultasche gefunden wurde. Diese Aussage gilt ganz unabhängig davon, ob er das Flugblatt verfasst hat oder sein Bruder. Ob er, der „Hubsi“, der gern auch einmal den Hitlergruß zeigte, es in seiner Schultasche spazieren geführt oder verteilt oder eingesammelt oder wer weiß was damit angestellt hat. Vielleicht hat der offensichtlich begabte Hitler-Imitator es auch in schnarrender Diktion unter dem Gejohle Gleichgesinnter vorgetragen. Wer weiß.

Das alles ändert aber nichts daran, dass Hubert Aiwanger wahrscheinlich kein Antisemit war. Was war der „Hubsi“ dann als Elftklässler in Mallersdorf-Pfaffenberg?

Zur wahrscheinlichen Entstehung des Flugblattes

Um die Frage der damaligen Geisteshaltung von Hubert Aiwanger zu klären, sind Geschichte der Entstehung und der Inhalt des Flugblattes hilfreich. Aiwanger hat jede Autorenschaft verneint. Stattdessen hat sein Bruder Helmut sich als Autor geoutet. Es gibt auf den ersten Blick keinen Grund, an diesen Aussagen zu zweifeln. Sich als Autor eines dermaßen bösartigen Flugblattes zu outen, macht niemand freiwillig. Doch gibt es Indizien, die an den Aussagen der Aiwanger Brüder zweifeln lassen.

Da sind zunächst die damals sehr unterschiedlichen Charaktere der Brüder. Darüber berichtet der Münchner Merkur ausführlich unter Berufung auf die Bildzeitung. Auf den Punkt gebracht: Hubert war der Gerade. Man konnte den Eindruck gewinnen, er habe einen Spazierstock verschluckt, so kerzengerade. Gerader Blick, sich auch bei Kälte immer abhärtend und manifest seine rechte Gesinnung zeigend. Ganz anders Helmut, der langmähnige, offenbar oft angetrunkene Helmut, der so gar nichts von dem ausstrahlte, was seinen Bruder auszeichnete, dieser grade Blick und der aufrechte Gang. Helmut Aiwanger ist nie wegen rechtsradikaler Gesinnung aufgefallen. Insofern ist es mehr als überraschend, dass ausgerechnet er der Autor des Flugblattes gewesen sein soll. Die Zweifel werden auch nicht geringer, wenn man die Begründung von Helmut hört, „er wollte sich für erlittene Ungerechtigkeiten an seinen linksradikalen Lehrern“ rächen.

Rächt man sich so? Rächt man sich nicht an den konkreten Lehrern, von denen man sich ungerecht behandelt fühlt? Und geht es dann nicht eher darum, diese konkreten Lehrer in Misskredit zu bringen? Das aber wird durch das Flugblatt nicht erreicht.

Dieses Flugblatt ist ausgefeilt. Da stecken schon intime Kenntnisse über die Mordmaschinerie des Dritten Reiches dahinter. Das zielt nicht auf Lehrer. Die Erklärung von Helmut Aiwanger, er habe sich an seinen Lehrern rächen wollen, ist daher genauso unglaubwürdig, wie die Einlassungen seines Bruders zum Flugblatt. Er hätte sich zum Inhalt schon näher einlassen müssen. Das hat er nicht getan. Wenn Rache, warum dann in dieser Form?

Forensische Indizien sprechen gegen einen Einzeltäter

Insofern gibt es bei genauerem Hinsehen Indizien, die gegen die Autorenschaft, zumindest die alleinige Autorenschaft Helmut Aiwangers sprechen. So bleibt die Frage nach der eigentlichen Autorenschaft offen.
Hier hilft vielleicht die formale Analyse des Textes weiter. Stilistische Ungereimtheiten lassen es als unwahrscheinlich erscheinen, dass das Pamphlet von einer Person allein verfasst wurde. Vielmehr ist es wahrscheinlich, dass mindestens zwei, vielleicht auch noch mehr Personen an der Erstellung des Flugblattes beteiligt waren, entweder als Mitautoren oder zumindest als Ideengeber für die perverse Preisgestaltung. „Das Flugblatt war offenbar die Reaktion auf den Schülerwettbewerb ‘Deutsche Geschichte um den Preis des Bundespräsidenten’, nach eigenen Angaben größter historischer Forschungswettbewerb für junge Menschen in Deutschland. An diesem hatte sich die Schule der Aiwangers schon mehrmals erfolgreich beteiligt.“ (Süddeutsche Zeitung vom 25.08.2023)

Rechtsextreme Tötungsfantasien

Diesen Bezug legt die Überschrift nahe. Dort heißt es: Bundeswettbewerb: Wer ist der größte Vaterlandsverräter?

Es folgen 6 „Preise“. Die Auflistung der widerlichen „Preise“ ist in sich völlig unlogisch. Die ersten drei Preise beinhalten in unterschiedlichen Formen jeweils den Tod des „Gewinners“. Der vierte „Preis“ erscheint dann vergleichsweise fast human. Ein Jahr Dachau. Da besteht vielleicht eine Überlebenschance. Mit dem fünften „Preis“ aber gehen dann die Todesfantasien weiter. Unter Bezugnahme auf das Fallbeil und die „ewigen Jagdgründe“ versprachen die „Preise“ fünf und sechs ebenfalls den Tod. Abschließend kommt der Sammelpreis 7 bis 1000 eine Nacht im Gestapo-Keller.

Es gibt bei der „Preisverleihung“ eine deutliche Asymmetrie. Warum sollte die Liste der zu erwartenden Todesarten unterbrochen werden zu Gunsten eines einjährigen KZ Aufenthalts? Da bestünde zwar auch eine hohe Wahrscheinlichkeit, diesen Aufenthalt nicht lebend zu überstehen, aber in der Logik der im Flugblatt ausgelobten Preise müsste der 4. Preis eigentlich der 6. sein, dem dann der Sammelpreis 7 bis 1000 folgt. Das wäre die logische Abfolge.

Gemeinschaftswerk mehrerer Autoren?

Diese Unlogik spricht gegen die Autorenschaft aus einer Hand. Vielmehr ist sie ein Hinweis darauf, dass möglicherweise mehrere Autoren an der Erstellung des Flugblattes beteiligt waren. Einer hat die Idee oder den Anlass. Er mag allein angefangen haben. Hat sich an die Schreibmaschine gesetzt und begonnen, zu schreiben. Er bekommt Besuch, vielleicht vom Bruder. Der Besucher ist begeistert über das, was er sieht, erklärt aber, was hier vergessen worden sei, nämlich das Fallbeil, ein im dritten Reich auch sehr beliebtes Tötungsinstrument. Zwischen 1940 und 1945 fanden in Deutschland 2805 Hinrichtungen mit dem Fallbeil statt. (Mark von Lüpke in Der Spiegel vom 9.12.2013). Das müsse doch unbedingt Erwähnung finden. Das leuchtet natürlich ein. Auch die ewigen Jagdgründe (Karl May) dürfen nicht fehlen. Leider kann keiner der Jungs so richtig gut Maschine schreiben. Daher wird der Vorschlag, noch einmal neu anzufangen, verworfen. Sonst hätte man neu abgeschrieben und die Preise getauscht. Aber auch so ist ja die Begeisterung schon groß. Wir zeigen es dem Bundespräsidenten mit seinem bekloppten Bundeswettbewerb.

Der damalige politische Hintergrund

Der war damals Richard von Weizsäcker, der in seiner Rede vom 8.Mai 1985 anlässlich des 40. Jahrestages des Endes des 2. Weltkriegs in Europa erstmals als „Tag der Befreiung“ würdigte statt als Tag der Kapitulation. „Der 8. Mai war ein Tag der Befreiung. Er hat uns alle befreit von dem menschenverachtenden System der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft.“

Aus diesem Blickwinkel heraus muss man auch den von v. Weizsäcker ausgeschriebenen Bundeswettbewerb verstehen. Er sollte der längst überfällige Aufarbeitung der Geschichte des Dritten Reiches dienen bzw. diese Aufarbeitung in der Jugend vertiefen.

Überbietungswettbewerb der Sadismen

Vor diesem Hintergrund entfalten sich Stoßrichtung und besondere Perfidie dieses Flugblattes. Man kann es sich schaudernd vorstellen. Gejohle und ein Überbietungswettbewerb an Sadismen. Wer bietet mehr? Wer spielt noch besser auf der Klaviatur der Perversionen. Vergnügungsviertel Auschwitz. Auf diese Idee muss man erst einmal kommen. Und dann ist es auch konsequent, wenn es am Ende des Flugblattes heißt: „Wir hoffen auf zahlreiche Teilnahme und wünschen den Gewinnern viel Vergnügen“. Wir die Autoren und Ideengeber. Dieses „Wir“ signalisiert nicht nur eine Mehrzahl von Autoren, dieses „Wir“ erschafft zugleich einen Bund, der da geschlossen wurde. „Wer ‘Wir’ sind, werdet ihr nicht erfahren.“ Dieses „Wir“ konstituiert zwei Welten, die Welt des Wir, der Naziversteher und -verehrer und „eure“ Welt der angeblich Geläuterten in ihrem schäbigen demokratischen Umhang.

Dieser Bund hält. Er hat gehalten, als bei Hubert Aiwanger das Flugblatt gefunden wurde. Der Hubert hat damals geschwiegen und der Bund hat auch jetzt, 2023 wieder gehalten. Der Helmut hat sich jetzt bekannt. Das sind zwei Seiten derselben Medaille.

Ein Bund der Abscheulichkeit, der bis heute hält

Ich gehe davon aus, dass das Flugblatt von mehreren Personen verfasst wurde oder dass mehrere Personen ihre Ideen zum Inhalt des Flugblattes beigesteuert haben. Auch wenn Hubert Aiwanger nicht der Autor gewesen sein sollte, an der Entstehung war er in der einen oder anderen Weise beteiligt. Er ist Teil des „Wir“. Nie waren sich die Brüder näher als in diesen fatalen Momenten.

So passt plötzlich auch alles zusammen. Der von Helmut eingestandene Hass auf die Lehrer, die ihn schikaniert hatten und sein zumindest damals Hitler-fanatischer Bruder. Auch wenn Helmut politisch indifferent gewesen sein mag, ein „Linker“ war er gewiss nicht. Das Flugblatt sollte ja gerade die linksradikalen Lehrer in Misskredit bringen. Vielleicht hat er mit dem jüngeren Bruder über seine Wut geredet, hat vielleicht die Idee eines Flugblattes gehabt. Vielleicht hat der Hubert, seine Spezialkenntnisse einbringend dann gesagt: „Schick sie doch alle nach Auschwitz.“ „Ja toll, wir machen einen Bundeswettbewerb daraus.“, mag der Helmut auf die Idee des Bruders eingestiegen sein. Wie es im Einzelnen gewesen ist, wissen wir nicht. Wir sind auf Vermutungen angewiesen. Der tatsächliche Geschehensablauf liegt begraben unter beider Bündnistreue. Aber es passt einfach alles zu gut zueinander, als das ein wesentlich anderer Geschehensablauf noch denkbar wäre. Ganz unabhängig vom eisernen Leugnen Hubert Aiwangers.

Zum ideologischen Gehalt des Inhalts

Das Flugblatt wurde in der Öffentlichkeit sofort als antisemitisch eingeordnet. Dafür spricht zunächst die Bagatellisierung der Verbrechen von Auschwitz und Dachau, die eine Beleidigung der jüdischen Opfer darstellen. Sie werden noch übertroffen von der Verherrlichung der Tötungen nach Nazi-Methoden.

Fraglich ist, ob die Einordnung des Flugblattes als vorwiegend antisemitisch richtig ist. Wir haben uns daran gewöhnt, den Antisemitismus als die verabscheuungswürdigste Geisteshaltung zu brandmarken. Aus der furchtbaren Geschichte des Dritten Reiches heraus ist das verständlich. Aber gerade am Fall Hubert Aiwanger wird deutlich, dass die Brandmarkung „antisemitisch“ oft zu kurz greift. Da wird ein bestimmtes Verhalten dann in der antisemitischen Schublade abgelegt und eine weitere Analyse des inkriminierten Verhaltens erübrigt sich. Und das ist falsch!

Eine ungeheure Verhöhnung aller Opfer

Unzweifelhaft fühlen sich Juden durch dieses Flugblatt verletzt, aber auch alle anderen Opfer, die in Auschwitz ermordet wurden. Die perfide Herabwürdigung des Leidens in Auschwitz ist eine unerhörte Verhöhnung der Opfer. Daher ist die Einordnung des Flugblattes als antisemitisch auch berechtigt. Aber Antisemitismus war nicht das vorherrschende Motiv der Verfasser.

Sie berauschten sich an der Faszination der Todesmaschinerie. Die wird im Flugblatt gefeiert. Es geht gar nicht um die Opfer als solche, sondern um die Perfektion des Tötens. Ob die Opfer Juden sind, Sinti und Roma, Schwule oder Kriegsgefangene ist den Verfassern des Flugblattes völlig egal. Da sind sie völlig indifferent. Es geht um das Töten an sich. Auch die Überschrift des Flugblattes macht ja deutlich, dass es gerade nicht um Juden geht. Die Todesmaschinerie soll in Gang gesetzt werden für Vaterlandsverräter. Wer gemeint ist, kann man erahnen. Ganz sicher nicht nur Juden.

Vaterlandsverräter – ein Begriff der Rechten nach 1949

Es geht um Vaterlandsverräter. Handelt es sich dabei um Straftäter? Nein Es gibt im deutschen Strafrecht keinen Paragraphen, der Vaterlandsverrat unter Strafe stellt. Vaterlandsverräter ist kein justitiabler Begriff, vielmehr ist bzw. war er ein ideologischer Kampfbegriff in der Bundesrepublik.

Er galt im Wesentlichen dem damaligen SPD-Vorsitzenden und vormaligen Kanzler Willy Brandt. „Konservative bis reaktionäre Kräfte und die Springer-Presse schmähten ihn als Vaterlandsverräter; seine Zeit im Exil diente vielfach als Anlass für persönliche Attacken.“

In die Reihe derer, die Brandt so bezeichneten hatte sich auch schon früh Franz Josef Strauß eingereiht, der ihn im Wahlkampf 1961 als „Vaterlandsverräter“ bezeichnete. (Die Zeit, Ausgabe 51, 2013).

Diese Attacken erreichten einen unrühmlichen Höhepunkt nach dem berühmten Kniefall in Warschau 1970. Diese Geste der Trauer verbunden mit der Bitte um Vergebung wurde als Verrat an Deutschland gebrandmarkt. „Brandt habe die ‘Rechte der Ostdeutschen auf Heimat und Selbstbestimmung auf den Müllhaufen der Geschichte befördert*, schrieb Springers Berliner Morgenpost.“ Entsprechend wurde er auch als Volksverräter (Roland Freisler) auf Demonstrationen gebrandmarkt. In diesen Kontexten wurde er regelmäßig als Vaterlandsverräter beschimpft. Aus dem Hintergrund grüßt der umfassendere Begriff der „vaterlandslosen Gesellen“, eine auf Kaiser Wilhelm II zurückzuführende Schmähung der Sozialdemokraten.

Auch von Weizsäcker geschmäht

Auch Richard von Weizsäcker wurde durch sein Eintreten für die Ostverträge der sozial-liberalen Koalition oft als Verräter geschmäht. Und auch seine Rede vom 8.5.1985 wurde scharf von CDU und CSU kritisiert. Strauß kann man da mit einem Zitat nennen, das sich auch Bernd Höcke heute zu eigen machen könnte. Strauß „…richtete dem Bundespräsidenten aus, es sei geboten, die Vergangenheit, ‘in der Versenkung oder Versunkenheit’ verschwinden zu lassen: ‘Die ewige Vergangenheitsbewältigung als gesellschaftliche Dauerbüßer-Aufgabe lähmt ein Volk!'” (so damals “Die Welt”)

Diesen Kontext gilt es bei der Beurteilung des Flugblattes zu berücksichtigen. Die Überschrift macht die eigentliche Stoßrichtung klar. Es geht um Bundespräsident Richard v. Weizsäcker und die Vaterlandsverräter in der SPD. Die Stoßrichtung ist gerade nicht gegen Juden gerichtet und insoweit nur mittelbar antisemitisch. Sie ist vielmehr gegen die politische Linke in der Bundesrepublik, und was dafür gehalten wird, gerichtet. Gegen Versöhnungs- und Verzichtspolitiker, die Deutschlands Gebietsansprüche aufgeben und verraten.

Zur Diskussion um das Flugblatt

In der öffentlichen Diskussion, soweit ich sie wahrgenommen habe, wird dieser Aspekt nicht berücksichtigt – mit einer Ausnahme. Marina Weisband hat bei Anne Will am 10.09.2023 einmal den Versuch gemacht, diese Perspektive in den Blick zu nehmen. Sie kritisierte die Forderung, Aiwanger möge sich bei den jüdischen Gemeinden entschuldigen. Vielmehr müsse er sich bei der Öffentlichkeit bzw. der Allgemeinheit entschuldigen. Das Flugblatt sei nicht nur antisemitisch. Die Autoren wollten Vaterlandsverräter durch die Schornsteine von Auschwitz jagen. Daher könne man die Last, mit dem Flugblatt umzugehen, nicht der jüdischen Gemeinde aufbürden. Vielmehr ginge es uns alle an. Dieser kluge Gedanke wurde in der Diskussionsrunde nicht weiterverfolgt. Damit wurde die Chance vertan, die Abgründigkeit des Flugblattes tiefer auszuleuchten.

Weisbands kluge Gedanken untergegangen

Diese meiner Auffassung nach richtige Einordnung des Flugblattes mit der erweiternden Perspektive auf die Allgemeinheit wurde leider soweit ich die Diskussion kenne, auch sonst in der Öffentlichkeit nicht weiter vertieft.
Der Antisemitismusvorwurf hat diese erweiterte Diskussion verhindert. Er erscheint geradezu wie ein Schutzschild, für die Autoren des Flugblattes, hinter dem sie ihre eigentliche niederträchtige demokratiefeindliche Gesinnung verbergen können. So wird der Antisemitismusvorwurf geradezu zum Schutz für die Täter pervertiert. Man hat ein Schlagwort. Dieses Schlagwort öffnet eine Schublade und in der kann dann das Flugblatt abgelegt werden.

Die erweiterte Dimension, der uns alle bedrohende umstürzlerische Gehalt des Flugblattes wird so nicht mehr sichtbar. Damit wird aber auch der Anspruch der Öffentlichkeit auf eine Erklärung von Aiwanger verkürzt. Aiwanger kann sich mit der Behauptung, er sei nie ein Antisemit gewesen, davonstehlen.

Kernthema verfehlt

Dass dieser grundsätzlich gegen die politischen Ordnung der Bundesrepublik der achtziger Jahre des vorigen Jahrhunderts gerichtete Impetus des Flugblattes nicht thematisiert wurde, ist ein schwerer Fehler und ein kaum noch gut zu machendes Versäumnis. Die ach so gründliche Abwägung Herrn Söders wäre vielleicht noch schwieriger geworden. Die billigen Rechtfertigungen Aiwangers hätte man ihm vielleicht nicht so leicht durchgehen lassen, wenn man sich eingestanden hätte, dass das Flugblatt damals zur Zeit seiner Entstehung ein massiver Angriff auf Teile des Staates gewesen war.

Warum diese Diskussion nicht erfolgte, kann nur gemutmaßt werden. Die CSU und damit fast alle konservativen Kreise in Deutschland und natürlich auch die CDU haben an einer entsprechend erweiterten Diskussion schon allein deswegen kein Interesse, weil dann auch wieder Positionen der eigenen Parteien, die sie damals gehabt haben und derer man sich nur schämen kann, diskutiert worden wären. Die SPD lebt im programmlichen Nirwana, wird zunehmend gesichtslos und hätte wahrscheinlich fürchten müssen, dass eine entsprechende Diskussion in Bayern dazu geführt hätte, eventuell sogar die fünf Prozent Hürde zu reißen. Und die Grünen sind auch schon viel zu sehr mit sich beschäftigt und den Knüppeln der FDP, als dass sie in der Lage wären, eine weitere Diskussionsfront zu eröffnen, bei der Wählerstimmen jedenfalls nicht zu gewinnen wären.

Zur Untragbarkeit Hubert Aiwangers

Legt man nur die Aussagen Aiwangers aus dem ihm vorgelegten Fragebogen zu Grunde, ist es zulässig über den Schüler Hubert Aiwanger folgendes festzuhalten. Hubert Aiwanger ist während seiner Schulzeit zumindest bis in die elfte Klasse durch faschistische Verhaltensweisen aufgefallen. Weder hat er dementiert, gelegentlich den Hitlergruß gezeigt zu haben, noch dass er gelegentlich mit Hitlerbärtchen aufgetreten ist. Auch die Imitation von Hitlerreden können als erwiesen angesehen werden. Insgesamt hat sein Verhalten an der Schule den Verdacht nahegelegt, er stünde nationalsozialistischem Gedankengut nahe. Fest steht auch, dass er die besagten Flugblätter in seiner Schultasche hatte. Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass er Frage vier des Fragebogens unzureichend beantwortet hat. Frage und Antwort lauteten:

„4. Wie, weshalb und von wem wurde Ihre Schultasche durchsucht? Meiner Erinnerung nach wurde die Schultasche im Sekretariat unter Anwesenheit von Schulpersonal geöffnet. Das oder die Flugblätter wurden einbehalten. An Details kann ich mich nach 36 Jahren nicht mehr erinnern.“

Auf das „weshalb“ bleibt Aiwanger die Antwort schuldig. Das ist doch merkwürdig. Ich glaube, es gibt nicht viele Schüler die grundlos einer Taschenkontrolle unterzogen wurden. Die Antwort um die sich Aiwanger herumdrückt, liegt auf der Hand. Er ist ein schulbekannter Nazi und als das Flugblatt irgendwo in der Schule auftaucht, ist für die Lehrer klar, von wem das Flugblatt stammt, vom Aiwanger Hubert. Das will Aiwanger aber im Fragebogen lieber unter den Tisch kehren. So ganz gelingt es ihm durch die pauschale Beantwortung der Fragen 24 und 25 nicht. Aber er bagatellisiert ja, wo er kann.

Was zählt als Jugendsünde und ist verzeihlich?

Fraglich aber ist, ob diese seine politische Haltung als Schüler ihn heute als Minister einer bayrischen Staatsregierung disqualifiziert. Vom Grundsatz her wohl nicht. Da muss man nur an sich selbst oder an gute Bekannte denken und sich fragen: Was hatten wir für Einstellungen als Jugendliche? Manchem würde es die Schamröte ins Gesicht treiben. Seien wir nur froh, dass wir nicht wissen, was unsere Politiker als Jugendliche so alles gedacht und getan haben. Solange über diesen Dingen der Mantel des Schweigens liegt, muss sich auch keiner erklären. Aber wenn problematische Dinge plötzlich ans Tageslicht kommen, haben wir, jeder von uns, ein Problem. Das Problem kann mal kleiner, mal größer sein, der Kreis derer, die nähere Aufklärung verlangen können, dürfen und müssen, kann ganz privat sein oder eben auch, wie bei Politikern die Öffentlichkeit umfassen. Und so ist es auch im Fall Aiwanger. Diesbezüglich sei noch einmal aus den Antworten Aiwangers zitiert. „Der Vorfall war ein einschneidendes Erlebnis für mich. Er hat wichtige gedankliche Prozesse angestoßen.“ (Antwort 23, s. Link oben)

Ein wirklich Geläuterter könnte alles zugeben

Diese schmalen Äußerungen, die er zu seinem Gesinnungswandel von sich gegeben hat, reichen nicht. Sie sind unglaubwürdig und geben Anlass zu unguten Vermutungen. Marina Weisband hat die Anforderung an Aiwangers Erinnern bei Anne Will klar benannt. Er hätte uns am Prozess seines Gesinnungswandels teilhaben lassen müssen. Es ist seine Pflicht dies zu tun, wenn es den Gesinnungswandel denn gegeben hat. Es wäre gerade in dieser politischen Situation, in der rechtsradikale Populisten überall beginnen die Debatten zu beherrschen, so wichtig, einen glaubwürdigen Zeugen zu haben, einen, der sich hinstellt und erklärt, wie verblendet er war und welchen sicher nicht einfachen Weg er gehen musste, um heute als geachteter bayrischer Landesminister in einem demokratischen Bayern seinen politischen Weg vollendet zu haben. Das wäre ein Aiwanger, auf den Bayern und Deutschland stolz sein könnte. Das wäre einer, dem man seine Verirrungen der Jugend gern verziehen hätte, der ein Leuchtturm politischer Gesittung hätte werden können. Er hat diese besondere Chance aber vertan, der Demokratie in Deutschland einen großen Dienst zu erweisen.

Auf zweifelhafte Gedächtnislücke berufen

Er kann sich nicht mehr erinnern. Diese billige Ganovenattitüde ist eines bayrischen Staatsministers ebenso unwürdig, wie, das sei nur am Rande erwähnt, eines ehemaligen Bürgermeisters der Freien und Hansestadt Hamburg. Einschneidendes Erlebnis, wichtige gedankliche Prozesse. Da erinnert man sich doch! Und bei Aiwanger? Nichts! Die große Leere! Ähnlich pauschal seine Äußerungen in Donauwörth. Da räumt er ein, dass in seiner Jugend das Eine oder Andere gewesen sein mag. „Aber auf alle Fälle, ich sag seit dem Erwachsenenalter, die letzten Jahrzehnte: Kein Antisemit, kein Extremist, sondern ein Menschenfreund“, fuhr er wörtlich fort. Na vielen Dank Herr Aiwanger, da sind wir aber froh, dass Sie jetzt kein Antisemit mehr sind. Aber was hat denn den Gesinnungswandel bewirkt? Auch in Donauwörth dazu kein Wort.

Das provoziert die Frage, wie weit es denn mit dem von ihm behaupteten Sinneswandel überhaupt her ist. An das Flugblatt jedenfalls konnte er sich Zeit seines Lebens immer gut erinnern. Vielleicht doch der Stolz des Autors/Co-Autors? Oder doch die Angst, dass seine in jedem Fall unappetitliche Verstrickung in den Vorgang öffentlich wird? (Vgl. zu diesem Komplex: SZ vom 28.08.2023 Lügen Schweigen, Abtauchen)

Rechtsextrem, aber kein Antisemit?

Hubert Aiwanger will keinem Juden an den Kragen, er will keine Synagoge anzünden oder sich gegen jüdisches Leben in Deutschland engagieren. Juden sind Aiwanger schlicht egal. Sie spielen in seiner niederbayrischen Heimat keine Rolle. Er hat sie einfach nicht auf dem Radar. Dass das Flugblatt die Opfer beleidigt, das war nicht intendiert. Daher war und ist es ein schwerer Fehler, dass das Flugblatt nur unter dem Aspekt des Antisemitismus diskutiert wurde. So nutzt diese Diskussion sogar dem/den Täter/n. Aiwanger kann sich hinstellen und im Brustton der Überzeugung verkünden, er sei nie Antisemit gewesen.

Gegen Vaterlandsverräter da mag er dann schon eher etwas gehabt haben. Diese Gruppe Mensch sollte ja exekutiert werden. Da wäre zumindest die Frage angebracht gewesen, wen denn der Helmuthubsi da so im Blick gehabt hat, damals in Mallersdorf-Pfaffenberg.

Diese Frage hätte schlagartig die Diskussion verändert. Da waren keine Antisemiten am Werk, sondern junge Männer, die Spaß daran fanden, Menschen aus ihrer Mitte oder aus der Mitte des politischen Establishments in Rauch aufgehen zu sehen. Wäre diese Dimension diskutiert worden, dann wäre Aiwanger in den Bierzelten vielleicht noch mehr gefeiert worden, als der, der er war und ist: Ein Populist, dem die Demokratie gleichgültig ist. Er geriert sich ja in seiner Partei als eine one man show, oder um es einfacher zu sagen: als Führer.

Ein gefährlich unverbesserlicher Populist

Wie Aiwanger selbst durch sein Verhalten den behaupteten Sinneswandel konterkariert belegt u.a. sein Auftritt bei der Demonstration in Erding am 13.06.2023. Seine einpeitschende populistische Rede beschloss er mit dem später auch von der CSU scharf kritisierten Satz: „Holen wir uns die Demokratie wieder zurück.“

Diese Aussage, aber auch weitere Auftritte dieses rechtsnationalen bayrischen Bierzelthelden machen deutlich, dass ihm demokratische Regeln egal sind. Wenn es geboten erscheint, negiert er sie. Er ist seiner Gesinnung immer treu geblieben. Es gibt eine gerade Linie vom Flugblatt aus Mallersdorf-Pfaffenberg zur Rede in Erding. Es hat keine einschneidende Wende in seiner Geisteshaltung gegeben. Vielleicht vermeidet er heute antisemitische Vokabeln. Aber der rechtsnationale Demokratiefeind ist er geblieben. Aiwanger ist gefährlich.

Söder und die CSU sitzen mit Aiwanger im Boot

Mit ihm wird die CSU weitere vier Jahre koalieren. Und sie, die CSU, wird er, wenn es sich ergibt, mit der AFD verraten. Die Freien Wähler in Bayern sind unter der Führung Hubert Aiwangers kein Teil einer wie auch immer geARTEten Brandmauer. Vielmehr werden sie mit der AFD irgendwann zusammen gehen, damit zusammenwächst, was zusammen gehört.

Über Reinhard Fraenkel / Gastautor:

Unter der Kennung "Gastautor:innen" fassen wir die unterschiedlichsten Beiträge externer Quellen zusammen, die wir dankbar im Beueler-Extradienst (wieder-)veröffentlichen dürfen. Die Autor*innen, Quellen und ggf. Lizenzen sind, soweit bekannt, jeweils im Beitrag vermerkt und/oder verlinkt.

Ein Kommentar

  1. Claudia Regina Winck

    Kann man Hubert Aiwanger verzeihen? So titelte die FAZ online…

    Man könnte einer Person vergeben, die wie ein Erwachsener offen mit der Angelegenheit umgeht, sich dazu bekennt und e h r l i c h um Entschuldigung bittet.
    Eine Entschuldigung im Konjunktiv und mit einem relativierenden „aber“ im Nachsatz ist nämlich keine.
    Man könnte einer Person verzeihen, die sich nicht in Ausreden flüchtet und im Stile Donald Trumps eine „Hexenjagd“ gegen sich inszeniert, sich also vom Täter zum Opfer macht.
    Scheint modern heutzutage.
    Und man könnte einer Person verzeihen, die sich im Laufe ihres weiteren Lebens glaubhaft von Neonazisprech und antisemitischen Tendenzen verabschiedet hat und ein echter Demokrat ist.

    All das trifft auf Hubert Aiwanger nicht zu.
    Letzter Beweis: Seine unsägliche Rede in Erding.
    Aber schon zuvor ließen seine demagogischen und populistischen Äußerungen erkennen, dass sich ein roter Faden durchzieht vom geltungssüchtigen Jugendlichen zum späteren selbstverliebten Politiker.
    Die Parallelen zu Donald Trump sind erschreckend und treten immer mehr offen zutage.
    Und für mich absolut erschreckend ist die Nibelungentreue seiner Wähler, die unreflektiert diesem „Führer“ folgen und ihm alles durchgehen lassen.

    Ich teile die Ansicht des Autors, dass über kurz oder lang die Freien Wähler unter der Führung Aiwangers den Schulterschluss mit der AfD wagen werden.

    Quo vadis, Deutschland?

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