Großes Entsetzen herrschte am 14.9. im thüringischen Parlament. Die oppositionelle CDU hatte für ihren Antrag auf Senkung der Grunderwerbsteuer dank der Stimmen der AfD eine Mehrheit erreicht. Damit war die alte Streitfrage wieder aktuell: Wie sieht es aus mit der Zusammenarbeit von CDU und AfD? Gilt die vielbeschworene Brandmauer noch? Gilt sie nur für vereinbarte gemeinsame Aktionen? Oder auch für Übereinstimmungen, die bewusst in Kauf genommen werden? Wie weit darf eine Kooperation mit der AfD gehen? Weit über Thüringen hinaus wurde das Vorgehen der CDU kritisiert. Sie habe sich sehenden Auges auf eine politische Entscheidung eingelassen, die ohne die AfD-Stimmen nicht möglich gewesen wäre.

Dabei ging es doch schon mal in Thüringen recht harmonisch zu. Nach dem Eklat um Thomas Kemmerich FDP, der Anfang 2020 mit den Stimmen von CDU, FDP und AfD zum (kurzfristigen) Ministerpräsidenten gewählt worden war, gab es zwar etliche Wochen ein politisches Durcheinander, dann jedoch Ende Februar eine Einigung. Wahrscheinlich war die CDU aufgrund der Kemmerich-Affaire umgänglicher als sonst..

Zwischen der Minderheitsregierung aus Linken, SPD und Grünen und der CDU-Fraktion wurde die sogenannte Stabilitätsvereinbarung geschlossen. Um sich nicht erneut von der AfD treiben zu lassen oder von ihr abhängig zu werden, sicherte die CDU der Regierung ihre Unterstützung zu, befristet und projektbezogen. (1) Die Abmachung galt bis zur Verabschiedung des Haushalts 2021 im Dezember 2020. Wegen der Coronapandemie wurde sie bis September 2021 verlängert

Rot-Rot-Grün verfügt im Landtag nur über 42 von 90 Sitzen und benötigt zur Mehrheit mindestens vier Stimmen von CDU oder FDP. Vereinbart wurde nun, dass die vier Parteien für ihre Anliegen und Anträge untereinander die erforderlichen Kompromisse suchen. Dies galt vor allem für den gemeinsam aufzustellenden Haushalt. Wenn keine Einigung gelang, kam eine Mehrheitsfindung durch Stimmenthaltung der CDU infrage. Mit dieser Methode wurde Bodo Ramelow (Linke) wieder zum Ministerpräsidenten gewählt. Auf Neuwahlen wurde verzichtet.

Politisch kann die Stabilitätsvereinbarung als Duldung oder Tolerierung der Minderheitsregierung gesehen werden. Die CDU spricht von einer Notfallvereinbarung und legt Wert darauf, dass es sich um „eine zeitlich eng begrenzte, projektorientierte Zusammenarbeit“ handele. Diese Klarstellung ist wohl vor allem wegen des CDU-Unvereinbarkeitsbeschlusses gegenüber der Linken erforderlich. Wegen der Vorgabe, Kompromisse zu finden und gemeinsam zu vertreten, kann man jedoch durchaus den Eindruck einer „ganz großen Koalition“ gewinnen, nur ohne CDU-Minister.

Anfang 2023 lehnte die CDU den Vorschlag der Linken ab, zwecks Verabschiedung des Haushalts eine neue Stabilitätsvereinbarung zu schließen. Die Union begründete dies mit einem Stillstand in der Koalitionspolitik und mit einer fehlenden Vertrauensgrundlage. In der Tat schafft ein Abkommen wie die Stabilitätsvereinbarung nicht nur die Chancen, eigene Vorstellungen durchzusetzen, sondern auch Abhängigkeiten und ein gegenseitiges Erpressungspotential

In der Bevölkerung fand die Stabilisierungsvereinbarung unterschiedliche Zustimmung. Kaum überraschend ist, dass sich die Anhänger der Grünen mit 75%, der SPD mit 67% und der Linken mit 66% positiv äußerten, während die Anhänger der nicht an dem Pakt beteiligten Parteien AfD mit 10% (immerhin!) bzw. FDP mit 26% nur wenig angetan waren. Die CDU-Anhänger waren gespalten: 46% dafür, 52% dagegen.

Die Stabilitätsvereinbarung war ein interessanter Versuch. Zwar hat sie nur eineinhalb Jahre bestanden und basierte auf der Verhandlungs- und Kompromissbereitschaft der Vertragspartner, doch hat sie einen Ansatz gezeigt, wie ein Parlament der Abhängigkeit von AfD-Stimmen entgehen kann. Sie kann ein Anstoß bzw. ein Modell für weitergehende Kooperationsformen sein. Dabei ist entscheidend, dass solche Vereinbarungen verbindlich abgefasst und frühzeitig – nicht erst im „Ernstfall“ – getroffen werden.

Wenn die Demokraten zusammenhalten, kann stets eine Parlamentsmehrheit ohne Einbezug der AfD-Sitze berechnet und gesichert werden. Erforderlich wäre, dass sich aus den demokratischen Oppositionsparteien genau so viele Abgeordnete der Stimme enthalten, wie es nötig ist, um die AfD-Stimmen zu neutralisieren. Hier ein Rechenbeispiel: Die Regierungskoalition hat 36 Sitze, die demokratische Opposition 30 und die AfD 16. Dann müssen sich bei kontroversen Abstimmungen 11 Mitglieder der Opposition der Stimme enthalten oder nicht an der Abstimmung teilnehmen. So ist es schon während der Stabilitätsvereinbarung in Thüringen gehandhabt worden.

Ein solches Neutralisierungsverfahren kann natürlich nur funktionieren, wenn alle demokratischen Parteien mitmachen und wenn es vor der Wahl verbindlich vereinbart wird. Je nach Wahl- und Koalitionsergebnis haben dann nach der Wahl alle die Möglichkeit, von dieser Vereinbarung zu profitieren. Die AfD hat keine Chance, Zünglein an der Waage zu werden, und die Brandmauer steht. Kein Mitglied der demokratischen Parteien muss gegen seine Überzeugung stimmen, Enthaltungen reichen.

Grundsätzlich ist ein solches Verfahren auf allen parlamentarischen Ebenen anwendbar. Wahrscheinlich bedarf es wohl noch mancher Überlegungen, Beratungen und Modifikationen, bis es umsetzbar wird. Die Überlegung zeigt jedoch, dass es eine Gemeinsamkeit der Demokraten schaffen könnte, die AfD konsequent aus der politischen Mehrheitsbildung herauszuhalten. Insofern wäre diese Idee auch ein Test, ob und inwieweit alle Parteien eine wirksame Brandmauer mittragen.

Rechtliche Bedenken gegen ein solches Verfahren gibt es wohl nicht. Schon heute legen sich Parteien vor der Wahl auf einen potentiellen Koalitionspartner fest bzw. schließen bestimmte Parteien aus. Und die grundgesetzlich garantierte Entscheidungsfreiheit der Abgeordneten wird nicht in Frage gestellt, ebenso wenig wie beim gängigen Fraktionszwang..

(1) 1) Der Stabilitätspakt. So geht es jetzt in Thüringen weiter. RedaktionsNetzwerk Deutschland vom 5.3.2020

Über Heiner Jüttner:

Der Autor war von 1972 bis 1982 FDP-Mitglied, 1980 Bundestagskandidat, 1981-1982 Vorsitzender in Aachen, 1982-1983 Landesvorsitzender der Liberalen Demokraten NRW, 1984 bis 1991 Ratsmitglied der Grünen in Aachen, 1991-98 Beigeordneter der Stadt Aachen. 1999–2007 kaufmännischer Geschäftsführer der Wassergewinnungs- und -aufbereitungsgesellschaft Nordeifel, die die Stadt Aachen und den Kreis Aachen mit Trinkwasser beliefert.