Recherchen oder Irreführung? – Nord Stream und die Ukraine: Über geheimdienstliche Plaudertaschen, Washington Post und Spiegel+, und was das alles mit DDR-Elefanten-Witzen zu tun hat
Zu meinen Lieblingswitzen in der DDR gehörte der, wie verschiedene Länder über den Elefanten schreiben. Die USA gaben einen Band heraus: Alles über den Elefanten. Es folgte Frankreich mit zwei Bänden: Alles über den Elefanten und Das Liebesleben des Elefanten. Die Sowjetunion veröffentlichte drei Bände: Der Elefant vor der großen sozialistischen Oktoberrevolution, Der Elefant nach der großen sozialistischen Oktoberrevolution und Der Elefant im Kommunismus. Die DDR publizierte vier Bände: drei waren Übersetzungen aus dem Russischen. Der vierte titelte: Der DDR-Elefant – der kleine Bruder des sowjetischen Elefanten.
Dieser alte Witz ging mir durch den Kopf, als ich die Veröffentlichungen des Rechercheteams von Washington Post und Spiegel bei Spiegel+ (Bezahlschranke), bzw. in der Washington Post las und beides verglich. Beide beglückten mit jeder Menge geheimdienstlich zugeraunter Beinahe-Gewissheiten, aber ganz unpatriotisch flog mein Herz dem Washington Post-Artikel zu.
Diese imperiale „Erstausgabe“, flott geschrieben für ein heimisches Publikum, das nur um sich selber kreist, rückte schon mal eingangs alles in den richtigen Kontext. Also die Attacke auf Nord Stream war eine „umstrittene Sabotageaktion“, die die USA und auch Europa mit Besorgnis erfüllt hatte. Was daran genau „umstritten“ war, verraten die Verfasser nicht. Die öffentlich verlautbarte Besorgnis in Übersee, aber auch in Europa hielt sich bekanntlich in Grenzen. Die erste Erklärung des US-Außenministers Blinken war ungefähr so dramatisch wie eine Durchsage, dass der nächste Bus, der im Takt von 20 Minuten fährt, leider ausfällt.
Später fiel ihm auf, welche „großartige strategische Möglichkeit“ alles bot. Frau Nuland fand es „erfreulich“, dass Nord Stream nur noch ein Stück Metall am Grund der Ostsee ist, Im Übrigen hieß es, dass alles genau untersucht werden muss. Und Nein, wir Amis waren das nicht. Der Kreml lügt wie gedruckt.
Obschon, irgendwie traf die Einschätzung der Washington Post auch zu. Schließlich was der Anschlag auf Nord Stream so spektakulär (Spiegel+), man kann auch sagen, ein fürchterliches Jahrhundertereignis, staatswohlgefährdend, zumindest für Deutschland, dass deshalb (?) alles geheim bleiben muss. Sonst erfahren wir nichts von anderen Geheimdiensten. Da ist schon zu begrüßen, dass eine ganze Geheimdienstwelt inzwischen schwatzt, dass es nur so kracht.
Zeigefinger nach Osten
Ganz besonders, wenn die Spur wegführt von Nato-Manövern und staatlichen Akteuren und der Zeigefinger unverdrossen Richtung Osten weist, wenn schon nicht nach Moskau, so doch wenigsten nach Kiew, was ja früher auch mal sowjetisch war, und das erklärt schon mindestens die Hälfte des ganzen Kuddelmuddels. Den Rest besorgte Selenkyj, denn der würde so etwas erklärtermaßen nie machen. Ich jedenfalls glaube ihm, denn der ukrainische Jude Zelenskyj, inzwischen wiedergeborener Churchill, oberster Feldherr aller siegreichen Ukrainer, würde nie lügen.
Das dachten allerdings auch die Flüsterer aus den drei-Buchstaben-Institutionen, wie die Washington Post informiert. Die hatten ihren ukrainischen Kollegen immer wieder freundschaftlich geraten, ein bisschen vorsichtig zu sein und es nicht zu übertreiben. Sonst könnten die Russen eskalieren. Wir sind zwar auch betroffen, was Nord Stream angeht, aber das war den Flüsterern irgendwie entfallen, bei all dem deutschen Schweigen, allenfalls unterbrochen von deutschen Träumen, nunmehr „kriegstüchtig“ zu werden. In dem Fall jedoch hört man in Übersee vor allem die Kassen klingeln.
Aber dann wurde es wirklich verwirrend laut Washington Post. Denn dann erfuhren die drei-Buchstaben-Leute von den Niederländern, dass sich in Kiew etwas zusammenbraut. Von den Niederländern? Im Oktober hatte die Washington Post der interessierten Öffentlichkeit noch erzählt, dass die CIA in Kiew alles aufgebaut habe und zwischen die Dienste kein Blatt Papier mehr passe. Nur mit den Kiewer Mordkomplotten hätte sie nie was zu tun gehabt. Nie. Kannste glauben, würde Pittiplatsch (der liebe) sagen.
Zank der “fünf Augen”?
War das etwa so ein Meister-Zauberlehrling-Ding? Aber dann fielen mir die „fünf Augen“ ein. Wie würden die Briten mit dieser beruflichen Schande umgehen, nichts mitgekriegt zu haben? Früher hatte die Washington Post noch ganz allgemein von einem „europäischen Geheimdienst“ gesprochen, und wer hätte da nicht gleich an London gedacht. Nun aber lüftet die Washington Post recht mitleidslos den Schleier. Haben wir etwa ein bisschen Zank im anglo-amerikanischem Geheimdienstmilieu?
Aber zurück zur Washington Post-Geschichte. Kaum hatten die tüchtigen Niederländer Washington (laut früheren Berichten war es die CIA) in Kenntnis gesetzt, dass etwas Sinistres in Kiew am Kochen wäre, wurde diese selbstverständlich aktiv und dachte, damit wäre die Sache gestorben. Aber nein, die ukrainischen Kollegen verschoben alles nur um drei Monate und rumms, waren drei Pipelinestränge kaputt. Da steht nun auch die CIA öffentlich da wie ein begossener Pudel, mit viel zu viel Vertrauen und viel zu wenig Einfluss auf das, was Kiew macht.
Fair ist das nicht. So aber findet sich wenigstens wieder eine gemeinsame Gesprächsbasis mit London. Der eine nicht im Bild, der andere nicht am Lenkrad, das schweißt wieder zusammen. Zudem verkündet die Washington Post, dass der Vorfall die US-Ukraine-Beziehungen belastet und Vorwürfe von US-Verantwortlichen nach sich gezogen habe. Man muss sich das einmal vorstellen: Da muss der amerikanische Präsident ein bisschen mit Selenkyj schimpfen und gleichzeitig unverbrüchliche Solidarität verkünden. Da ist es schon fast eine Gnade, wenn das Gedächtnis leicht brüchig ist.
Ganz anders hörte sich das bei einem deutschen Youtuber an. Was, wenn die Ukraine unsere Nord Stream auf dem Gewissen hätte? Also, wenn das wahr wäre, und schon fing er an zu verkünden, was dann alles nicht mehr ginge und überhaupt, so etwas gehört schon gar nicht in die EU! Seit Monaten sei man deswegen in der Bundesregierung schon hochnervös, wurde in einem Welt-Interview erklärt.
Nichts muss so sein, wie behauptet
Aber die Washington Post hatte auch Versöhnliches zu berichten: im Kiewer Intrigendschungel zwischen Armee und Sicherheitsapparat wird so viel geflüstert, dass man gar nicht weiß, ob alles stimmt, was dort die Runde macht. Das kennt man schon. Geheimdienste erzählen alles Mögliche im Brustton unerschütterlicher Überzeugung, aber immer mit der kleinen Fußnote versehen, dass nichts so sein muss, wie behauptet. Es könnte auch alles ganz anders sein. Denn zwischen Glauben und Wissen gibt es ein unergründliches, großes weites Feld.
Ist nun der einzelgängerische Ukrainer, dessen Name längst durch die Geheimdienstwelt gewabert sein soll, bis Washington Post (und Spiegel+) ihn in die Öffentlichkeit warfen, ein Terrorist oder ein politisches Opferlamm? Er soll nicht der Oberboss des Sabotageaktes gewesen sein, nur der Koordinator. Von ihm führt die Spur zu Saluschnyj. Wegen dem hängt aktuell sowieso der Haussegen schief in Kiew. Seit wann gehört es sich für ukrainische Generäle, ein offenes Wort zur miserablen Kriegslage zu verlieren, und das auch noch im britischen Economist? Das sei ganz und gar nicht hilfreich gewesen, tönte es aus dem Präsidenten-Palast. Und wupps, plötzlich bekam Saluschnyjs rechte Hand zum Geburtstag eine echte Granate geschickt, mit der Folge, dass dieser nun nicht mehr erzählen kann, wie dann eins zum anderen kam.
Besagter ukrainischer einzelgängerischer Geheimdienstler wiederum hält alles für russische Propaganda und sieht sich als Opfer politischer Verfolgung. Der berichtet von einem rachsüchtigen Selenskyj, der keine Kritik verträgt und von einem präsidialen Umfeld, das von Kreml-Leuten nur so durchsetzt sei. Auch der Yermak gehöre dazu, auch der. Aber da besagter ukrainischer Einzelgänger schon unter Janukowitsch (Achtung: Pro-Russe) aktiv gewesen sein soll, ist es vielleicht kein Zufall, dass der gleich zwei Operationen gegen Russland versaut hat. Für eine davon soll er sich nunmehr vor Gericht verantworten. Als Kidnapper dagegen lief es gut.
Sei es wie es sei, ganz Genaues weiß man nicht, aber es scheint, die Ukraine ist ein schlüpfriges Pflaster, auf dem man leicht ausrutschen oder wie im Fall einer Führungsmannschaft des Innenministeriums auch mal vom Himmel fallen kann.
“Schwere Konsequenzen”?
Gewiss kann die Ukraine eine Nord-Stream-Sabotage-Verantwortung so wenig gebrauchen wie einen Kropf. Die braucht Geld, Waffen, neue Soldatinnen, weil die Soldaten knapp werden und einen strammen Anführer, der seinen Laden unter Kontrolle hat. Wer gäbe noch Geld und Waffen aus immer leerer werdenden leeren Nato-Arsenalen, wenn die Ukrainer unsere schöne europäische Energieinfrastruktur in die Luft jagen? Das sollte doch schwere Konsequenzen haben, wie Ursula von der Leyen einst auf Twitter ankündigte. Umgekehrt ist es eigentlich eine ideale Situation: Nicht alle glauben, dass es die Ukraine war, und so kann die Ukraine weiter unterstützt werden, selbst wenn sie es doch gewesen sein sollte.
Und wenn der angekündigte Siegfrieden den Bach runtergeht, hat man überdies noch eine schnelle Entschuldigung zur Hand: Wer hätte gedacht, dass diese Ukrainer so unsichere Kantonisten sind, die auch mal zum Terror neigen? Ein bisschen delikater ist die Sache mit der ukrainischen Führung. Wahlen wird es 2024 nicht geben. Und nach all dem geheimdienstlichen Zwitschern stehen gleich mehrere Leute in Kiew recht betöppert da, die allesamt miteinander konkurrieren.
Der alte Hersh hört nicht auf
Washington dagegen versichert sich selbst, dass es so sicher sei wie das Amen in der Kirche, dass die amerikanische Geheimdienstszene auf keinen Fall etwas mit Nord Stream zu tun hat. Die haben immer abgeraten. Das ist doch schon mal sehr erfreulich, ganz besonders für alle, die von Hersh und seinen Thesen irritiert wurden, zumal der Alte nicht aufhört, auf die Biden-Administration zu zeigen, und neuerdings behauptete, in der CIA würde man glauben, dass der deutsche Bundeskanzler vom geheimen Plan, Nord Stream zu zerstören, gewusst habe. Ist das zu fassen?
Ist es da nicht viel tröstlicher, dass es ein Schiff gibt, mit Sprengstoffspuren und jeder Menge Hinweisen, die für Spiegel+ schon fast zu einer in Stein gemeißelten Sicherheit führen, dass diese Spur heiß ist und in Richtung Wahrheit weist. So weit wollte die Washington Post nicht gehen. Aber wenn der ermittelnde Bundesanwalt überzeugt ist, dass das Schiff eine Rolle spielt und nicht die Nato-Schiffe, die im Juni 2022 vor Ort waren, über dem Meeresspiegel und auch darunter, was soll man da noch entgegnen?
Auch mich verführt diese Schiffgeschichte. Zum Träumen: Wie die Andromeda mit weißen windgeschwellten Segeln hinausfährt, während die Ostsee sie freundlich begrüßt, ohne Stürme, die das Schiff hin und her gerollt hätten. In der Kajüte auf dem Tisch lagert der Sprengstoff, und um ihn herum sitzen wenige Menschen mit ernsten, entschlossenen Gesichtern. Alle wissen, es ist eine gefährliche Mission, womöglich eine ohne Wiederkehr, beinahe ein „Selbstmordkommando“, wie ein dänischer Kapitän das Unterfangen einschätzte. Da tut es der Seele gut, dass eine Ärztin an Bord ist. Der Koordinator hatte scheinbar an alles gedacht und siehe, die „Slawa Ukraini“ – Götter waren dem heimlichen Tun gewogen. Diesmal hatte man es den Russen richtig gezeigt. Da vergisst man schon mal, den Tisch zu putzen oder das ganze Schiff. Hollywood würde an dieser Stelle einen Schnitt machen und im Abspann würde man lesen, dass diese Mission den entscheidenden Unterschied machte. Und dann, mit großem Schlussakkord könnte man die ganze Crew noch einmal sehen, älter geworden, auf einem anderen Boot, das in die Abendsonne segelt, von der Krim aufs Schwarze Meer hinaus. Mit Segeln, golden wie die Sonne und so blau wie Himmel und Meer.
Dann würde auch der Wunsch des US-Chefökonomen Brooks erfüllt sein. Brooks war früher bei Goldman Sachs und ist nun am Institute for International Finance. Der verkündete am 7. November auf X (Twitter): 1. Deutschland braucht billiges russisches Gas. 2. Der Weg, das zu kriegen, ist ein Regime change in Russland. 3. Nur dann kann Nord Stream wieder angestellt werden. 4. Eine finanzielle Krise in Russland könnte dazu führen usw.
Und schon verzeiht sich alles viel leichter. Man kann die Pipeline wieder reparieren, erneut billiges russisches Gas kaufen, wenn Gazprom kein russischer Staatskonzern mehr ist, sondern bewährtem westlichem Management unterliegt.
„Al-Qaida ist auf unserer Seite.“
Unterdessen gehen die offiziellen Untersuchungen weiter, aber was die ergeben, weiß man nicht und soll man auch nicht wissen. Man weiß lediglich, dass alles ganz anders ist als sonst. Der Versuch, Nord Stream den Russen in die Schuhe zu schieben, ging schief, und nun wird ermittelt und ermittelt und ermittelt, unter strengsten Sicherheitsvorkehrungen. Das ist neues Terrain. Denn normalerweise geht es ja so: Umgehend wird der mutmaßliche Scherge (der politische Gegner) identifiziert und an den politischen Pranger gestellt. Dann wird die Beweislage passend gemacht. Oder es wird gleich gebombt, so wie im Irak, bevor man sich auf die beschwerliche Suche nach nichtexistierenden Massenvernichtungswaffen und nichtexistierenden Al-Qaida-Verbindungen machte und von einem demokratischen Irak träumte. Ja, das waren noch Zeiten. Am 12. Februar 2012 schrieb der heutige Nationale Sicherheitsberater seiner damaligen Chefin Hillary Clinton ganz unverblümt: „Al-Qaida ist auf unserer Seite in Syrien.“
Was gut ist und was böse, kann wechseln
Aber das veröffentlichte Assange auf Wikileaks. In Hölle möge er auch dafür schmoren. Nun ja, da ist er längst, seit vielen Jahren. Was gut ist und was böse, kann wechseln. So ist das Leben. Aber auch nicht immer, nicht, wenn es um Russland geht. Die Russen sind der wahre Albtraum jeglicher Zivilisation.
Hätten die nicht den Krieg begonnen und ihre Energie als Waffe uns Deutschen auf die Brust gesetzt, hätte auch niemand diesen Sabotageakt an Nord Stream planen und durchführen müssen. Wer zerstört schon gerne eine milliardenschwere industrielle Infrastruktur, was schon fast einer Kriegserklärung gleichkommt. Na bitte, das macht niemand gern. Das ist, wie Madeleine Albright zu sagen pflegte, eine ganz harte Wahl. Deshalb hat es mich schon gewundert, dass die Washington Post darauf verzichtete, das in aller Deutlichkeit klarzustellen. Aber wenn die das nicht schreibt, kommt auch Spiegel+ nicht zu dieser doch völlig einleuchtenden Schlussfolgerung.
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