Der Körper der Frauen als Territorium des Krieges – Straflosigkeit als Spektakel, Grausamkeit als Botschaft
Ein Dossier über Gewalt und Strategien dagegen muss zeigen, dass die herrschende Gewalt zutiefst patriarchal ist und gesellschaftliche Machtverhältnisse widerspiegelt und gleichzeitig verstärkt. Die argentinisch-brasilianische Soziologin Rita Segato, die unter anderem durch ihre Analyse zu den Frauenmorden im mexikanischen Ciudad Juárez bekannt wurde, arbeitet die Verbindungen zwischen kolonialer und patriarchaler Gewalt sowie zwischen Körper und Territorium heraus. An dieser Stelle veröffentlichen wir Auszüge aus Rita Segatos Beitrag im Sammelband „Geographie der Gewalt“.
Wir sprechen von einer Welt, in der es nicht mehr genügt, von Ungleichheit zu sprechen. Ich denke, die heutige Welt lässt sich am besten durch eine Welt der Eigentümer (1) darstellen. Sie ist von Eigentümerschaft, das heißt von herrschaftlichem Besitz geprägt. Wir leben in einer Art groß angelegter Refeudalisierung der Welt, mit viel größeren Lehnsgütern als denen des Mittelalters. Der gemeinsame Raum wird hier praktisch abgeschafft oder ist im Begriff, zu verschwinden.
Ciudad Juárez und Ayotzinapa – das Spektakel der Straflosigkeit
Ich habe Straflosigkeit diskutiert, seit ich begann, mich mit Ciudad Juárez auseinanderzusetzen. Meiner Meinung nach haben Ayotzinapa (2) und Ciudad Juárez die gleiche Struktur. Denn genau genommen ist es nicht so, dass es einfach ein „Problem der Straflosigkeit“ gibt, sondern dass die ermordeten Frauen in Ciudad Juárez und die Verschwundenen in Ayotzinapa „Spektakel der Straflosigkeit“ darstellen, was genau das Gegenteil ist. Mit diesen Formen der Gewalt gegen Kollektive von Menschen soll der Gesellschaft und dem Staat gezeigt werden, dass es Eigentümer bestimmter Territorien gibt, in denen sie Straflosigkeit genießen und willkürlich richterliche Funktionen ausüben. Ich glaube, dass das Verbrechen ein Ziel ohnegleichen verfolgt. In diesem Kontext ist die Sinnlosigkeit so offensichtlich, dass – wie ich schon oft argumentiert habe – das Motiv eher expressiv, kommunikativ als instrumentell begründet ist. Ein Beispiel dafür sind die Entführungen von Mädchen in der U-Bahn von Mexiko-Stadt. Eine erste – dem gesunden Menschenverstand zugängliche – Interpretation lautet, es handelt sich um Straftaten im Zusammenhang mit Menschenhandel.
Aber denken wir einen Moment darüber nach: Wenn beabsichtigt wird, jemanden für den Menschenhandel einzuspannen, wird nicht auf eine solch spektakuläre Aktion zurückgegriffen. Dann rekrutiere ich anders, an einem anderen Ort, nicht in der U-Bahn von Mexiko-Stadt.
Damit komme ich zu meinem Punkt: Das Spektakel der Straflosigkeit ist die Absicht, nicht das Problem. Es ist eine Bedeutungsumkehrung. Deshalb darf die Straflosigkeit nicht verschwinden, denn die Art und Weise, die Menschen zu kontrollieren, besteht darin, deutlich zu machen: Es gibt Eigentümer, Herrscher über die Gerichtsbarkeit, und diese „Lords“ oder „Gebieter“ gehen aufgrund dieser „Eigentümerschaft“ straffrei aus. Es gilt, den Menschen dies genauso zu vermitteln und es an die Öffentlichkeit zu bringen. Den Menschen muss diese Eigentümerschaft über das Territorium klargemacht werden. Es handelt sich dabei um „Verbrechen gegen die Gerichtsbarkeit“.
Diesen Unterschied zwischen instrumenteller und expressiver Gewalt versuche ich deutlich zu machen. Die vorherrschende Denkweise betrachtet Gewalt als instrumentell: Sie richtet sich gegen etwas. Dagegen betone ich, dass es sich bei Verbrechen gegen Frauen um kommunikative, expressive Gewalt handelt. Denn bei der Gewalt gegen Frauenkörper greife ich nicht einen kleinen Soldaten der bewaffneten gegnerischen Seite an. Es ist keine rein kriegerische Instrumentalisierung im traditionellen Sinne. Das Verbrechen ist stattdessen eine Aussage, Teil einer Botschaft. Was wird dabei kommuniziert? Eben die Herrschaft über die Gerichtsbarkeit, die in der Straflosigkeit der Eigentümer klar zum Ausdruck kommt. Auf diese Weise wird die Grausamkeit in Form einer Botschaft isoliert.
Im Allgemeinen werden Frauen und auch Kinder als Unschuldige im Kriegsgeschehen angesehen. Im archaischen Imaginären werden sie nicht wie Soldaten als Kriegssubjekte betrachtet, die in den bewaffneten Truppen agieren. Aus Sicht der öffentlichen Meinung ist die Grausamkeit, die ihren Körpern angetan wird, eine Grausamkeit, die im eigentlich kriegerischen Sinn nutzlos ist. Daher muss ihr Nutzen ein anderer sein. Der Krieg hat sich jetzt feminisiert, in dem Sinne, dass die neuen Kriege auf den Körpern der Frauen ausgetragen werden.
Der Frauenkörper als Kriegsterritorium
Wie auch Carlos Beristain in diesem Band darlegt, wird mit dieser Art von Gewalt das Vertrauen des gegnerischen Lagers zerstört. Schon bei anderen Vorträgen habe ich den Vergleich mit einem Ingenieur angeführt, der Untersuchungen anstellt und identifiziert, wo der Sprengstoff platziert werden muss, damit ein Gebäude implodiert und zusammenbricht. Mit wenig Sprengstoff, mit wenig Aufwand, aber am neuralgischen Punkt, im Gravitationszentrum des Gebäudes. So ist es auch mit dem Körper der Frauen in einem gemeinschaftlichen Netzwerk, in einem durch das binäre Verständnis von Geschlecht strukturierten Kontext. Die Schändung der Tempel, der Weisen und der Frauen greift das Gravitationszentrum der Gemeinschaft an. Damit bricht das Selbstvertrauen des Kollektivs zusammen. Das der Gruppe Stabilität verleihende soziale Gefüge löst sich auf. Das Misstrauen wird übertragen. Es wird direkt im Kanon des Miteinanders in der Gemeinschaft und an den Frauen ausgetragen, wodurch diese ein weiteres Mal zu Opfern werden. Somit zerbricht die für den Zusammenhalt der Gemeinschaft elementare eheliche Reziprozität, durch die die Frauen und Männer ihre Reproduktionsfähigkeit für den Fortbestand der Gemeinschaft bereitstellen. Hier gilt es zu verstehen, dass die Ehe in einer indigenen bäuerlichen Gesellschaft eine völlig andere Struktur und Bedeutung hat als die Ehe in einer Gesellschaft von Individuen, wie etwa in Mitteleuropa. Was dort zerstört wird, ist der gegenseitige Austausch zwischen dem Körper der Frau und dem des Mannes im Sinne von paradigmatischen Rollen der gemeinsamen Fähigkeit, die Gemeinschaft zu reproduzieren. Das ist es, was mit der Schändung der Frauenkörper als kollektiv-ethnische Rechtsnorm zerbricht.
Sexualisierte Gewalt als Kriegswaffe
Als ich ein Gutachten über den Fall Sepur Zarco (3) in Guatemala erstellt habe, sind wir auf ein an Soldaten gerichtetes Handbuch zur Kriegführung gestoßen. Neben Soldaten galt es auch für Mitglieder paramilitärischer Einheiten, die unter der indigenen Bevölkerung rekrutiert wurden. Vergewaltigung ist bei den indigenen Völkern keine gängige Praxis, ebenso wenig wie in der muslimischen Welt. Das heißt, nicht in allen Zivilisationen äußern sich das Patriarchat und seine Gewalt auf dieselbe Weise. Daher muss die Vergewaltigung trainiert werden. In diesem Handbuch heißt es dazu: „Diejenigen Soldaten, die Skrupel in Bezug auf die Körper von Frauen und Kindern haben, müssen trainiert werden, um diese Skrupel zu verlieren.“
Später, 1986, als es zu einer Unterbrechung dieses Krieges und des Genozids an den indigenen Völkern Guatemalas (diese Bezeichnung ziehe ich vor) kam und die Menschen aus den Bergen herunterkamen, vergewaltigten einige Soldaten weiterhin Frauen. Ihnen wurde gesagt: „Nein, jetzt dürft ihr nicht mehr vergewaltigen, denn das ist vorbei.“ Anders ausgedrückt: Es gab einen Befehl zur Vergewaltigung und einen Befehl, nicht mehr zu vergewaltigen. Es hat also einen Befehl zur Vergewaltigung als Kriegsstrategie gegeben. Somit wird Vergewaltigung zu einer kriegerischen Verhaltensweise, die den Anweisungen im Handbuch folgt. Dabei liegt der Fokus auf den Frauenkörpern als ein Mittel, um das Gebäude des sozialen Zusammenhalts in diesen Gemeinschaften zum Einsturz zu bringen. Des Weiteren geht es darum, der Welt die herrschende absolute, irrationale und willkürliche Straflosigkeit vor Augen zu führen. Dies geschieht ebenso im Fall von Ciudad Juárez und Ayotzinapa. So gesehen dürfen weder die Gewalt noch die Straflosigkeit ein Ende finden, da der Zweck dieser Verbrechen gerade darin besteht, zu zeigen, dass es absolute Eigentümer von Gerichtsbarkeiten gibt.
Das Mandat der Männlichkeit aufbrechen, die Politik feminisieren
Abschließend möchte ich eine Geschichte über gemeinschaftsbasierten Widerstand hinzufügen. Es geht um die Stadt Buenaventura an der kolumbianischen Pazifikküste. Die Stadt soll zum Zentrum des transpazifischen Freihandelsabkommens (TPP/CPTPP) werden (dessen Mitgliedschaft die vormalige Regierung Kolumbiens anstrebte, Anm. d. Red.). Dazu gehört ein Projekt zum Bau von drei Häfen und einem Hotelsektor für die Unternehmer, die ihre Exporte und Importe über diese Häfen abwickeln werden. Buenaventura ist ein Schauplatz enormer Gewalt, die darauf abzielt, das Gebiet für den Bau dieser beiden Komplexe – Häfen und Hotels – freizumachen und somit die Vertreibung der dort lebenden Menschen zu erzwingen. Betroffen sind Schwarze Gemeinschaften entlang der gesamten kolumbianischen Pazifikküste. Sie haben ein verfassungsmäßiges Recht darauf, die riesige Landfläche der kolumbianischen Pazifikküste zu bewohnen. Obgleich der Verfassungsartikel nicht im Detail geregelt ist, darf diese Bevölkerungsgruppe kraft Gesetzes nicht aus der Region vertrieben werden. Daher besteht der einzige Weg, sie zu verdrängen, in Gewalt, Grausamkeit und Schrecken. Es ist ein Krieg gegen die Menschen, der von angeheuerten kriminellen Banden geführt wird. Die Formen der Grausamkeit sind extrem.
Als ich auf einem Seminar in Buenaventura sprach, stand ein Mädchen aus dem Publikum auf und fragte mich: „Wie können wir diesen Krieg beenden?“ Ja, natürlich! Dieser Krieg konnte nicht durch einen Pakt wie dem zwischen der kolumbianischen Guerrilla FARC und dem Staat beendet werden. Denn es gab keine eindeutig identifizierbaren Parteien – nur die Banden und die Menschen. Dies ist zweifellos eines der herausragendsten Merkmale der neuen Kriegsformen: Es gibt weder einen Anfang noch ein Ende des Krieges, weder eine Kriegserklärung noch einen Waffenstillstand. Auch die Kriegsparteien oder Verantwortlichen für den Krieg sind nicht klar auszumachen. Aus diesem Grund fragte das Mädchen: „Wie kann ein solcher informeller Krieg beendet werden?“ In diesem Moment begann ich vor den Seminarteilnehmern laut über etwas nachzudenken. Hier zeichnete sich eine Antwort ab, die bis heute ein neues Kapitel in meiner theoretischen Reflexion aufgeschlagen hat: „Die einzige Möglichkeit, diesen Krieg zu beenden, besteht darin, das Mandat der Männlichkeit zu dekonstruieren.“
Ein Mandat, das Männer hervorbringt, die als Arbeitskräfte für diesen und alle Kriege rekrutiert werden. Das heißt, es gilt die Art und Weise, in der ein Junge sozialisiert und zu der Überzeugung gebracht wird, dass seine Männlichkeit von seinem Kriegspotenzial abhängt, zu demontieren. Das Mandat impliziert auch, dass diese jungen Männer bereit sind, in diesem und anderen Kriegen frühzeitig zu sterben. Nur wenn wir das Mandat der Männlichkeit aufbrechen, deartikulieren, dekonstruieren und neue Formen der Männlichkeit schaffen, werden wir in der Lage sein, Kriegen ein Ende zu setzen.
Das war meine Antwort, und ich glaube, es ist möglich. Daran glaube ich, weil ich in meinem Land auf der Straße oft Männer aus allen Altersstufen und sozialen Schichten begegne, die ich nicht kenne und noch nie gesehen habe, die mich jedoch grüßen und mir danken. Daraus schließe ich, dass das Projekt der Dekonstruktion von Männlichkeit im Gange ist. Und zwar genau in dem Sinne, von dem Mandat der Männlichkeit, das Männer und Frauen zu Opfern macht, abzurücken, sich ihm zu entledigen und ihm nicht zu gehorchen.
Gleichzeitig kündigt die Feminisierung der Politik, die Explosion und enorme Präsenz von Frauen auf der Straße das Ende einer Ära und den Beginn einer weiblichen Politizität an. Diese ist eng mit dem Gemeinschaftlichen, der Wiederherstellung der Gemeinschaft, eines sich erneuernden Gewebes der gemeinschaftlichen Bindungen verknüpft. Das begann sehr deutlich in Argentinien, später bei den chilenischen Frauen und schließlich in vielen anderen Ländern. Diese Feminisierung der Politik ist die Zukunft der Politik in Lateinamerika.
#MeToo in den Vereinigten Staaten richtet sich an den Staat, und das aussagende Subjekt ist das „Ich“: „me too“. Der Slogan „Ni una menos“ [Nicht eine weniger] der lateinamerikanischen Frauen richtet sich an die Kollektivität, an das „Wir“ als aussagende Subjekte (nicht eine weniger von uns) und an einen Wandel, der sich in der Gesellschaft vollziehen wird.
Alle Versuche, durch eine bewaffnete Revolution oder durch Wahlen die Macht in einem Staat zu ergreifen, um die Geschichte vom Staat aus neu auszurichten, sind gescheitert. Alle, ohne Ausnahme. Daher spricht dieses „Ende der Ära“ von einer Domestizierung der Politik, von einer Transformation des Lebens in der Gesellschaft, und das geschieht gerade. Es geschieht jetzt.
1) Rita Segato benutzt das generische Maskulinum.
2) Der Fall, bei dem am 26. September 2014 43 Studenten einer linken Hochschule für Lehramtsanwärter brutal überfallen und entführt wurden, sorgte international für Aufmerksamkeit. Bis heute steht Ayotzinapa sinnbildlich für die Verstrickung von Behörden und organisiertem Verbrechen und ihr brutales Vorgehen gegen soziale Bewegungen.
3) Während des guatemaltekischen Bürgerkrieges wurde 1982 in der Nähe der Maya Q’eqchi-Gemeinde Sepur Zarco ein Militärstützpunkt eingerichtet, in den die Soldaten Frauen aus der Gemeinde verschleppten. Sie wurden äußerst gewalttätig behandelt und vielfach vergewaltigt. Dieser Versklavungszustand dauerte sechs Jahre. Im Jahr 2011 reichten 15 überlebende Frauen Klage gegen Militärangehörige ein. Der Prozess endete im Februar 2016 mit der Verurteilung von zwei ehemaligen hochrangigen Militärs zu insgesamt 360 Jahren Haftstrafe wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Dieses Urteil erkennt erstmals an, dass sexualisierte Gewalt in einem bewaffneten Konflikt systematisch als Kriegswaffe eingesetzt wurde.
Übersetzung: Dorothea Hemmerling. Auszug aus: Timo Dorsch, Jana Flörchinger und Börries Nehe (Hrsg.), Geographie der Gewalt, Macht und Gegenmacht in Lateinamerika, Berlin 2022. Dieser Beitrag ist eine Übernahme aus ila 470 Nov. 2023, hrsg. und mit freundlicher Genehmigung der Informationsstelle Lateinamerika in Bonn.
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