– im “Kölner Stadtanzeiger” verharmlost?

In der Wochendausgabe des “Kölner Stadtenzeiger”, eigentlich eine Zeitung, die sich im Geiste ihres großen Herausgebers Alfred Neven Dumont gerne liberal geriert, berichtet Claudia Lehnen über das Plakat der Medizinerinnen und Mediziner gegen Antisemitismus im Landtag NRW. Unter der Überschrift “Niemand will diesen gemeinsamen Schmerz ausdrücken” wird über antisemitische Anfeindungen gegen jüdische Ärzt*innen und andere Formen des Antisemitismus berichtet. In derselben Ausgabe des KStA findet in der Beilage “Reise und Urlaub” unter der Überschrift “Gebäude mit Geschichte” eine üble Verharmlosung des NS-Staates statt.

Was ist passiert? Als “Aufmacher” über vier Spalten prangt, fast die obere Hälfte der Seite ganz ausfüllend, ein Foto der SS-“NAPOLA” Ballenstedt über drei weiteren, z.T. verfallenden Ruinen im Harz, die der Autor des Artikels, Christian Carstens, als “Lost Places” bezeichnet. Der Artikel, der die eine oder andere belanglose Anekdote über Geschichte oder Verwendung der zum Teil gespenstischen Gemäuer berichtet, weist  fett gedruckt darauf hin, dass es versicherungsrechtliche Probleme geben könne, wenn man Privatgelände betrete. Soweit so belanglos. Wirklich belanglos? Die fassungslose Leserin fragt sich, ob Carstens wirklich weiss, worüber er schreibt und welche Redaktion das abgesegnet hat.

Nationalsozialistische Kaderschmiede nach Rassekriterien

NAPOLA, Napobi oder NPEA waren Eliteschulen des Hitlerregimes zur Heranzüchtung nationalsozialistischen Führungsnachwuchses auf Basis der nazistischen Rassenlehre. “Hauptaufgabe der NPEA war die „Erziehung zu Nationalsozialisten, tüchtig an Leib und Seele für den Dienst an Volk und Staat“. Die Schüler sollten die kommende Führungsschicht Deutschlands bilden.” So Wikipedia. Sie dienten als Nachwuchsschulen für SS und Wehrmacht, in ihnen wurden nach der NS-Rassenlehre Kinder von SS-Männern und Frauen, die mindestens die NS-Bräuteschule besucht hatten, im Sinne von Hitlers Rassenwahn indoktriniert. Die Kinder – vorwiegend Jungen – wurden nicht als Schüler, sondern als “Jungmannen” bezeichnet. Die Ausbildung war militärisch und lag schwerpunktmäßig auf körperlicher Ertüchtigung, Führertum, Rasseideologie, nachrangig auf konventionellen schulischen Bildungsinhalten wie Sprachen oder Naturwissenschaften. Eine davon war in der Tat Ballenstedt, erbaut von 1934-1936 in nationalsozialistischer Protz- und Einschüchterungsarchitektur. Auf diesen Schulen wurden fanatische und besonders linientreue Nationalsozialisten für SA und SS und die kommende “Herrenrasse” erzogen.

Emphatielose Einordnung der Brutstätte des Mörderischen

Angesichts dieser Sachlage beschreibt Autor Carstens auf 24 Zeilen mit relativerenden Zahlen unter der Zwischenüberschrift: “SED-Parteischule in Ballenstedt” die ideologische Brutstätte der Unmenschlichkeit – in NRW gibt es ein Gegenstück mit der Burg Vogelsang – als Gebäude, das eben “zwei Diktaturen”, als Kaderschmiede gedient habe. Nun ist es ist sicher ebenso geschichtslos und mehr als peinlich für die DDR, die glaubte, ohnehin den Antifaschismus für sich gepachtet zu haben und die Nachfolger des Nationalsozialismus ausschließlich in der BRD suchte, ausgerechnet ein NS-Parteigebäude als Parteischule genutzt zu haben.

Aber darum geht es hier nicht. Der Autor schreibt über das Gebäude relativierend “…am Ortsrand von Ballenstedt erinnert ein großer Gebäudekomplex an die Zeit der deutschen Diktaturen des 20. Jahrhunderts. Hinter den Fassaden …ließen zunächst die Nationalsozialisten und später die Sozialisten junge Menschen zu linientreuen Gefolgsleuten ausbilden. Die Nazis haben in der Nationalsozialistischen Erziehungsanstalt Anhalt von 1942- Kriegsende mehr als 350 Schüler unterrichtet. …In 33 Jahren absolvierten mehr als 16.000 SED-Mitglieder einen jeweils einjährigen Lehrgang.”  

Skandalöse Verharmlosung nationalsozialistischen Unrechts

Der Autor des Artikels setzt nicht nur durch die Formulierung “deutscher Diktaturen des 20.Jahrhunderts” das NS-Verbrecherregime mit der soziaistischen Diktatur gleich, er verharmlost durch das scheinbar objektive Aufzählen von Absolventenzahlen den entscheidenden Unterschied: In der NPEA wurden Kinder und Jugendliche ab zehn Jahren, die sich nicht wehren konnten, einer ideologischen und militärischen Indoktrination nach rassistischen, menschenverachtenden  Dogmen unterworfen.

In der SED-Parteischule wurden SED-Mitglieder, die Erwachsene und in der Regel längst über 20 Jahre alt waren, zu sozialistischen Parteifunktionären weitergebildet, was fraglos der Stabilisierung der SED-Herrschaft dienen sollte. Die Definition der “Demokratie” im “realen Sozialismus” und der Diktatur des Proletariats in der DDR hatte zwar beileibe nichts mit Formen der offenen Gesellschaft und westdeutschen Demokratie des Grundgesetzes zu tun. Gleichwohl ist eine derart fahrlässige oder gar absichtliche Gleichsetzung mit der geistigen Vergewaltigung von Kindern durch die nationalsozialistischen Völkermörder ungeheuerlich und nicht entschuldbar.

Geschichtslosigkeit infolge der “Hufeisentheorie”?

Gerade in der aktuellen Situation, in der etwa Meron Mendel, Professor an der Anne Franck-Gedenkstätte in Frankfurt, im “Spiegel” die berechtigte Frage stellt, wieso nach dem Massaker der Hamas an friedlichen Bürgern, Frauen, Greisen und Kindern in Israel ein Aufschrei in unserer Gesellschaft, wie es nach 9/11, Charlie-Hebdo oder den Morden im Bataclan-Konzert erfolgten, ausblieben, ist es geboten, Antisemitismus, Rassismus und Völkermord zu erkennen und zu benennen. Wie kann da ein Redakteur in einem “Reise und Urlaub” Artikel unbeachtet und ungehindert eine derartige Relativierung und geschichtvergessene Verharmlosung publizieren? Ist sie Produkt einer naiv verstandenen Hufeisentheorie, der – falschen – Gleichsetzung von Links- und Rechtsextremismus? Wer, so stellt sich doch die Frage, in der KStA-Redaktion hat diesen Artikel redigiert oder abgenommen?  Oder ist er einfach so durchgerutscht? Gilt die Wachsamkeit gegenüber Antisemitismus im politischen Teil bis Seite 40, aber in den Beilagen wird nicht näher hingeschaut? Oder fällt bei “Reise und Urlaub” die Auseinandersetzung mit Antisemitismus und Rechtsextremismus einfach unter den Tisch?

Über Roland Appel:

Roland Appel ist Publizist und Unternehmensberater, Datenschutzbeauftragter für mittelständische Unternehmen und tätig in Forschungsprojekten. Er war stv. Bundesvorsitzender der Jungdemokraten und Bundesvorsitzender des Liberalen Hochschulverbandes, Mitglied des Bundesvorstandes der FDP bis 1982. Ab 1983 innen- und rechtspolitscher Mitarbeiter der Grünen im Bundestag. Von 1990-2000 Landtagsabgeordneter der Grünen NRW, ab 1995 deren Fraktionsvorsitzender. Seit 2019 ist er Vorsitzender der Radikaldemokratischen Stiftung, dem Netzwerk ehemaliger Jungdemokrat*innen/Junge Linke. Er arbeitet und lebt im Rheinland. Mehr über den Autor.... Sie können dem Autor auch im #Fediverse folgen unter: @rolandappel@extradienst.net