Wohin man auch hört und schaut, überall geht es um die Schuldenbremse. Vor 14 Jahren war das anders. Als ich damals hörte, es solle eine Schuldenbremse im Grundgesetz verankert werden, dachte ich an Profilierungsversuche einzelner Abgeordnete. Doch dann wurden es immer mehr Befürworter, sogar Professoren der Wirtschaftswissenschaft. Am 29.5.2009 wurde in Art. 109 (3) und 115 (2) eingefügt, dass „die Haushalte von Bund und Ländern grundsätzlich ohne Einnahmen aus Krediten auszugleichen sind“ und dass diesem Grundsatz entsprochen ist, wenn die Einnahmen aus Krediten 0,35 vom Hundert im Verhältnis zum nominalen Bruttoinlandsprodukt nicht überschreiten. Ausnahmen sind zulässig bei einer von der Normallage abweichenden konjunkturellen Entwicklung sowie „bei Naturkatastrophen oder außergewöhnlichen Notsituationen, die sich der Kontrolle des Staates entziehen und die staatliche Finanzlage erheblich beeinträchtigen.“
Ziel war, „das Prinzip der Nachhaltigkeit und Generationengerechtigkeit stärker als bisher in der Finanz- und Haushaltspolitik zu verankern.“ Die große Koalition unter Merkel und Steinbrück beschloss die Schuldenbremse mit der nötigen Zweidrittelmehrheit. Grüne und Linke stimmten dagegen, die FDP enthielt sich. Wenig später stimmte auch der Bundesrat der Grundgesetzänderung zu, nur Berlin, Mecklenburg-Vorpommern und Schleswig-Holstein enthielten sich. Die Gewerkschaften und viele Verbände lehnten die Schuldenbremse ab. Befürchtet wurde, dass bei Engpässen vor allem Investitionen im Bildungs- und Sozialsektor gekürzt würden. Viele Wissenschaftler/innen teilten diese Kritik, im Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung („Wirtschaftsweise“) fand sich nur eine Mehrheit von 3:2 Stimmen.
Eindimensionaler quantitativer Indikator
Befürworter der Schuldenbremse stufen offenbar Staatsschulden als gefährliche Quelle wirtschaftlicher Instabilität ein. Dabei ist eine Parallelität von hoher Staatsverschuldung mit Außenhandelsdefiziten und mangelnder Wettbewerbsfähigkeit nicht beweisbar. Die Schuldenbremse ist ein eindimensionaler quantitativer Indikator, der der Komplexität des Problems nicht gerecht wird. Sie verringert den Spielraum für eine antizyklische Finanzpolitik und eine rasche Reaktion auf Krisen. Sie kann Anlass dafür sein, notwendige langfristige Projekte zu vernachlässigen oder an falschen Stellen zu streichen.
Die aktuelle Rechtslage ermöglicht Ausnahmen von der Schuldenbremse: Erstens eine Kreditaufnahme von 0,35% des Bruttoinlandsprodukts. Dieser Wert wurde 2009 willkürlich gegriffen, er war Ergebnis politischen Schacherns. Dennoch wurde er im Grundgesetz verankert. Zweitens gibt es Ausnahmen bei Notlagen. Hier ist bemerkenswert, dass eine einfache Mehrheit des Bundestages ausreicht, um solche festzustellen. Bekanntlich wurde diese Ausnahmemöglichkeit bereits genutzt: 2020 und 2021 wegen der außergewöhnlichen Notsituation durch die Corona-Pandemie und 2022 wegen Pandemie und Ukrainekrieg. 2023 sollte eigentlich wieder die Schuldenbremse gelten, doch hat die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 15.11. dem einen Riegel vorgeschoben.
Umgehungsmöglichkeiten
Das Gesetz zur Schuldenbremse bietet zudem Umgehungsmöglichkeiten, wie die Schaffung einer Vielzahl von Sondervermögen zeigt. Diese bilden in Wirklichkeit gar kein Vermögen ab, sondern Schulden. Sie unterliegen nicht der Schuldengrenze, erhöhen aber gleichwohl die Verschuldung und müssen verzinst und getilgt werden. Ein weiteres Schlupfloch ist der Erwerb von Beteiligungen. Ausgaben für diesen Zweck unterliegen nicht der Schuldenbremse. Wie in der Vergangenheit kann der Bund – in kreativer Auslegung der neuen Regeln – Banken und Unternehmen (oder Anteile daran) erwerben, die in Not geraten sind, und diesen Kauf durch Kredite finanzieren. Solche Beteiligungen können dann ihrerseits wieder selbst Kredite aufnehmen.
Nach Einführung der Schuldenbremse wurde in den Jahren 2013 bis 2019 tatsächlich eine „schwarze Null“ erwirtschaftet, also ein Haushalt ohne Neuverschuldung. Allerdings lag dies erstens an einer langen Phase wirtschaftlichen Wachstums mit entsprechend hohen Steuereinnahmen und zweitens an extrem niedrigen Zinsen. Letztere wirkten sich natürlich auch im Bundeshaushalt aus, wo sie 2019 nur noch ein Viertel der früheren Beträge betrugen. Auf diese Weise sparte der Bund damals rund 30 Mrd. € im Jahr.
Schon vor der Schuldenbremse gab es im Grundgesetz eine Kreditaufnahmebegrenzung.
Der bis Ende 2010 geltende Artikel 115 GG, in ähnlicher Form auch Bestandteil vieler Länderverfassungen, sah vor, dass die Nettokreditaufnahme die Summe der veranschlagten Investitionsausgaben nicht übersteigen durfte. Wachsender Verschuldung sollte also eine gleich hohe Zunahme an Vermögen gegenüberstehen. Ausnahmen waren nur zur Abwehr einer Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts möglich. Eine Kreditfinanzierung von Konsumausgaben war also auch in der Zeit vor der Schuldenbremse nicht zulässig. Allerdings gab es offenbar auch damals schon Tricks und Schlupflöcher.
Eine Kreditfinanzierung von Investitionen entspricht ohnehin wirtschaftlichem Verständnis. Kaum ein Unternehmen kann Erweiterungs- und Modernisierungsinvestitionen aus eigener Kraft finanzieren. Start Ups basieren oft nur auf Fremdmitteln. Autos werden geleast, auf Raten gekauft und mit Anschaffungsdarlehen finanziert. Kaum eine Mietwohnung oder ein Eigenheim entstehen ohne Hypotheken. Nur der Staat – so die überraschende Vorstellung – soll seine Investitionen aus eigenen Mitteln bezahlen. Dabei sind viele Investitionen ein Einsatz für die Zukunft, der sich rechnet. Sie erwirtschaften eine volkswirtschaftliche Rendite, erhöhen die Lebensqualität, verbessern die wirtschaftlichen Rahmenbedingen und sichern die Wertschöpfung und die Arbeitsplätze von morgen.
Dem Parlament Fesseln anlegen
Die Schuldenbremse wurde geschaffen, um die künftige Staatsverschuldung mittels Grundgesetzregelung zu begrenzen. Kritiker sehen darin eine Art Zwangsjacke, die den politischen Gestaltungswillen einengt. Befürworter sehen sie als Beleg fiskalischer Vernunft und Zuverlässigkeit. Union und SPD wollten offenbar mit der Schuldenbremse dem Parlament Fesseln anlegen. Man kann dies auch als Eingeständnis der eigenen Unzulänglichkeit werten. Oder die Schuldenbremse als Selbstzweck sehen.
Deutschland hat kein Schuldenproblem, sondern die niedrigste Quote aller großen westlichen Industriestaaten (66,5% des Bruttoinlandsprodukts). Großbritannien liegt bei 102,6% und Frankreich bei 111,1%, die USA melden 121,7% und Japan sogar 261,3%. Die deutsche Schuldenbremse stößt daher bei unseren Nachbarn auf wenig Verständnis. Zumal der deutsche Bedarf an Investitionen unstrittig ist: Immer wieder wird Nachholbedarf in verschiedenen Sektoren bemängelt: Infrastruktur, Wasserstoffwirtschaft, Klimaschutz, Wohnungsbau, Digitalisierung, Heizungserneuerung, Forschung und Bildung
Kaum wird das Wachstum geringer und die Zinsen steigen, da ist es mit der „schwarzen Null“ vorbei, und die Begeisterung für die Schuldenbremse sinkt. Vor allem, seit das Bundesverfassungsgericht am 15.11.2023 entschieden hat, dass es verfassungswidrig ist, eine 2021 wegen der Corona-Pandemie geschaffene, aber nicht benötigte Kreditermächtigung von 60 Mrd. € dem „Klima- und Transformationsfonds“ zuzuführen und somit nachträglich anderweitig zu verwenden. Offenbar hat sich das Verfassungsgericht nicht zuletzt deswegen so klar geäußert, weil es in den Sonderkonstruktionen zur Neuverschuldung Tricks zur Umgehung der Schuldenbremse sah.
Plötzlich klafft eine riesige Lücke im Haushalt. Viele Projekte stehen auf der Kippe, zumeist sind davon auch Bundesländer betroffen. Deswegen zeigen inzwischen alle Ministerpräsidenten eine gesunde Skepsis gegenüber der Schuldenbremse. Nur Markus Söder bekennt sich noch dazu, doch weiß man bei ihm oft nicht, was als nächstes kommt. Friedrich Merz ist gegen eine Aufhebung der Schuldenbremse. Aber er ist ja Oppositionsführer, und da muss man qua Amt dagegen sein.
In einem Interview hat sich Professor Christian Kastrop, einer der „Erfinder“ der Schuldenbremse, kürzlich ziemlich skeptisch zu „seinem“ Instrument geäußert. Statt eines deutlichen Bekenntnisses dazu hat er lieber Ausnahme- und Aufweichungsmöglichkeiten zur Schuldenbremse empfohlen. Wenn man – wie Kastrop – der Meinung ist, dass man die Schuldenbremse nach einiger Zeit prüfen und ggf. abschaffen oder modifizieren soll, muss man sich allerdings fragen, warum sie überhaupt im Grundgesetz verankert wurde. Kastrop erklärt inzwischen, 0,35% seien nicht in Stein gemeißelt und es könnten auch 0,5% oder 1% sein. 0,35% erlauben derzeit eine Verschuldung von 13 Mrd. €/a. 1% würde mithin 40 Mrd. € bedeuten. Wichtig ist laut Kastrop, wofür die Mittel eingesetzt werden sollten. Zukunftsaufgaben, die Wohlstand und Innovationskraft mehren, würde er privilegiert behandeln.
Wegen der durch das Verfassungsgerichtsurteil entstandenen Finanzlücke hat sich die Ampel darauf geeinigt, die Schuldenbremse im laufenden Jahr erneut auszusetzen. Als Begründung werden die finanziellen Folgen des Ukrainekriegs genannt. Für 2024 gibt es noch keine einvernehmliche Lösung. Lindner verweigert sich einer erneuten Aussetzung der Schuldenbremse. Wahrscheinlich hat er Angst vor einer neuen Ohrfeige des Bundesverfassungsgerichts. Steuererhöhungen kommen für ihn ohnehin nicht infrage. Natürlich könnte man alternativ zur Kreditaufnahme umweltschädliche Subventionen abbauen oder anderweitig sparen. Vorschläge gibt es genug, doch scheitern diese zumeist an der Uneinigkeit in der Regierungskoalition. Eine Lösung ist also noch nicht in Sicht.
Weitere “Sondervermögen”?
Der Wissenschaftliche Dienst des Bundeswirtschaftsministerium baut auf der bis 2009 geltende Grundgesetzbestimmung auf und schlägt vor, dass künftig eine unabhängige Kommission entscheidet, ob bestimmte Ausgaben als echte Investitionen gelten können. Tun sie dies, so sollen sie nicht bei der Schuldenbremse angerechnet werden. Andere Vorschläge stellen darauf ab, analog zum Sondervermögen „Bundeswehr“, das bekanntlich nicht der Schuldenbremse unterliegt, weitere Sondervermögen zu schaffen. Das Bundesumweltamt empfiehlt, den Bereich „Digitalisierung und Klimaschutz“ entsprechend auszustatten. Allerdings bedarf eine solche Regelung einer Zwei-Drittel-Mehrheit. Fachleute arbeiten bereits an Rechtskonstruktionen, die eine höhere Kreditaufnahme ohne Grundgesetzänderung ermöglichen.
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