Wenn Wissenschaft auf EU-Kommission und Interessen trifft
I.

Am 11. Dezember ist die EU-Kommission im Agrarministerrat mit ihrem Vorschlag gescheitert, den grössten Teil neuer gentechnischer Verfahren so zu behandeln, als handle es sich bei den dadurch entstehenden Pflanzen um das Ergebnis natürlicher Auslese oder konventioneller Züchtung. Diese Pflanzen sollen in Zukunft ohne Prüfung und Zulassung, ohne Kontrolle und Kennzeichnung überall angebaut werden dürfen.

Deutschland hat sich der Stimme enthalten, weil es in der Bundesregierung keine gemeinsame Auffassung zu dieser Frage gibt. Bundeskanzler Olaf Scholz hatte sich schon 2021 klar dafür ausgesprochen, Gentechnik auch in Zukunft als Gentechnik zu behandeln. Die Grünen vertreten die gleiche Auffassung, während die FDP sich für die unkontrollierte Freigabe stark macht.

Jetzt bekommt die Europäische Kommission kräftigen Gegenwind aus der Wissenschaft, der schon wegen des Absenders nicht ignoriert werden kann. Die staatliche französische „Agentur für Lebensmittelsicherheit, Umwelt und Arbeitsschutz“ (Anses) hat kurz vor Weihnachten eine wissenschaftliche Stellungnahme veröffentlicht, die die Position der Kritiker stützt und den fachlich Zuständigen und politisch Verantwortlichen in der EU-Kommission Kopfzerbrechen bereiten wird.

Die Kommission behauptet, sie folge mit ihren Vorschlägen zur Deregulierung der Nutzung von gentechnischen Verfahren in der Landwirtschaft den Erkenntnissen der Wissenschaft.

Wer diese Vorstellungen kritisiert oder ablehnt, wird gerne als ahnungslos, ideologisch motiviert oder wissenschaftsfeindlich hingestellt. Bei uns in Deutschland steht in erster Reihe die in der Bundesregierung für Forschung zuständige Ministerin Bettina Stark-Watzinger von der FDP. Im „Handelsblatt“ vom 2. Juli 2023 behauptet sie, wir hielten „mit den Neuen Züchtungstechniken den Schlüssel für die grossen Herausforderungen der Menschheit in der Hand.“ Wer eine andere Auffassung vertritt, wird, wenig liberal, in den Senkel gestellt: „Umso bizarrer ist, dass sie in Deutschland seit Jahrzehnten von Aktivisten geradezu militant bekämpft wird.“

Spätestens nach der Stellungnahme der fachlich zuständigen französischen Behörde blamieren sich alle, die glauben, man könne die Debatte auf diesem Niveau führen.

In der 34 Seiten starken Stellungnahme, die das Datum vom 29. November 2023 trägt und am 21. Dezember 2023 veröffentlicht worden ist, wird der Vorschlag und die Begründung der Europäischen Kommission zur Deregulierung der neuen gentechnischen Verfahren ganz grundlegend kritisiert. Ihm fehle es an einer wissenschaftlich tragfähigen Begründung.

Die französischen Fachleute machen sich die Ergebnisse eines in ihrem Auftrag erarbeiteten Berichts unabhängiger Forscherinnen und Wissenschafter zu eigen, die auf Fragen der Biotechnologie spezialisiert sind.

Die Stellungnahme bestätigt, worauf andere Wissenschaftlerinnen und Forscher immer wieder hingewiesen hatten: Die neuen gentechnischen Verfahren sind weder so präzise noch so wenig problematisch wie ihre Befürworter das behaupten.

II.

Im Mittelpunkt der wissenschaftlichen Analyse durch die ANSES steht der Anhang 1 des Vorschlags der EU-Kommission. Dort heisst es dem Thema entsprechend sehr technisch:

„Eine Pflanze, die durch neue gentechnische Verfahren erzeugt wird, gilt als gleichwertig mit einer konventionellen Pflanze, wenn sie sich von der Empfänger-/Elternpflanze durch höchstens 20 genetische Veränderungen der in den Nummern 1 bis 5 genannten Typen in einer DNA-Sequenz unterscheidet, die eine Sequenzähnlichkeit mit der Zielstelle aufweist, die mit Hilfe von Instrumenten der Bioinformatik vorausgesagt werden kann.“

Diese Definition ist nach Auffassung der französischen Wissenschaftlerinnen und Forscher untauglich, weil ihr die wissenschaftliche Grundlage fehle.

Diese Feststellung ist so wichtig, weil nach einer am 30. November 2023 veröffentlichten Analyse des Bundesamts für Naturschutz „94 % der Pflanzen in der Entwicklungsphase, die mit neuen genomischen Techniken (NGT) hergestellt wurden und von dem hierzu vorgelegten Verordnungsentwurf der EU-Kommission betroffen sind, keiner Risikobewertung mehr unterliegen würden.“

Die von der EU-Kommission vorgeschlagenen Kriterien folgen, so die französischen Fachleute, nicht wissenschaftlichen Erkenntnissen. Stattdessen geht es offenbar schlicht darum, so gut wie alle neuen gentechnischen Verfahren durch europäische Rechtsetzung zur Nicht-Gentechnik zu erklären. Mit Wissenschaftlichkeit hat das nichts zu tun, aber viel mit versuchtem Etikettenschwindel.

Die französische Behörde kritisiert sehr viele Elemente des Vorschlags der EU-Kommission und der von ihr gewählten Herangehensweise. Ich beschränke mich im Folgenden auf Gesichtspunkte, die sachlich und für die politische Diskussion besonders wichtig sind.

Die Anses stellt in ihrer Stellungnahme fest, dass es „für die Zahl 20, die als Höchstgrenze der zulässigen genetischen Veränderungen gewählt wurde, keine Begründung gibt.“

So kritisiert sie, die EU-Kommission habe es versäumt, Risiken angemessen zu berücksichtigen, weil „unbeabsichtigte genetische Veränderungen, die aufgrund mangelnder Spezifität an Stellen mit einem gewissen Mass an Ähnlichkeiten oder gleichen Funktionen erreicht werden, zu den 20 zulässigen genetischen Veränderungen gezählt werden, ohne dass ihre potentiell negativen Auswirkungen berücksichtigt werden.“

Weiter heisst es in der Stellungnahme, „dass die blosse Grösse der Veränderung nichts über die Konsequenzen für die Funktion aussagt. Die Begrenzung … auf höchstens 20 Nukleotide hat keine biologische Bedeutung oder Rechtfertigung.“

Das Konstrukt der EU-Kommission fällt in sich zusammen, wenn die französischen Fachleute feststellen, „dass es keine wissenschaftliche Grundlage für die unterstellte Gleichwertigkeit von Merkmalstypen oder Risikoniveaus zweier Pflanzenkategorien auf der Grundlage gleichwertiger genetischer Variationen oder Modifikationen gibt, die ausschliesslich durch ihre Art, Grösse und Menge definiert sind.“

Dieses Argument betont die Stellungnahme noch einmal an anderer Stelle:

„Das technische Dokument (Anlage 1 des Vorschlags der EU-Kommission C.H.) besagt, dass Kategorien von Pflanzen, die nach Art, Grösse und Zahl der genetischen Variationen oder Modifikationen gleichwertig sind, auch in Hinsicht auf die Art der Merkmale und das Niveau der Risiken gleichwertig wären. Diese Behauptung hat keine wissenschaftliche Grundlage.“

III.

Man darf gespannt sein, wie sich die Diskussion über Regeln für neue gentechnische Verfahren auf europäischer Ebene, aber auch bei uns in Deutschland nach dieser Stellungnahme entwickeln wird.

Werden all die, die sich als die angeblich einzigen Hüter der Wissenschaftlichkeit aufspielen, die wissenschaftlichen Argumente gegen ihre Vorstellungen ernstnehmen?

Bisher sind die Feststellungen der Stellungnahme der französischen Behörde für Nahrungssicherheit, Umwelt und Arbeitsschutz in Deutschland noch nicht einmal zur Kenntnis genommen worden. Ob das mit der Weihnachtspause zusammenhängt oder Methode hat, wird sich in den kommenden Wochen zeigen.

Die Stellungnahme der Anses ist auf jeden Fall ein wichtiger Beitrag zur Versachlichung der Auseinandersetzung über den Umgang mit neuen gentechnischen Verfahren für Pflanzen und bei der Herstellung von Lebensmitteln. Jetzt sollte auch dem letzten klar sein, dass es bei dieser Auseinandersetzung nicht um die Frage geht: Wer steht auf der Seite der Wissenschaft und wer nicht.

Die Befürworter der Gentechnik, der alten wie der neuen, haben schon immer mit Ängsten gespielt und Hoffnungen geweckt, die sie bis heute nicht erfüllen konnten.

Die Mitgliedsstaaten der Europäischen Union und das Europäische Parlament, die in diesem Jahr über den künftigen Umgang mit den neuen gentechnischen Verfahren entscheiden müssen, sollten sich weder von Ängsten noch von Hoffnungen leiten lassen. Sie sollten ihre Entscheidung nach den Grundsätzen praktischer Vernunft treffen und nicht zulassen, dass sich wissenschaftliche Erkenntnis wirtschaftlichen Interessen beugen muss.

Dieser Beitrag erschien zuerst im “Blog der Republik”, hier mit freundlicher Genehmigung des Autors. Christoph Habermann hat nach Abschluss des Studiums der Sozialwissenschaften an der Universität Konstanz mehr als dreissig Jahre in der Ministerialverwaltung gearbeitet. Von 1999 bis 2004 war er stellvertretender Chef des Bundespräsidialamts bei Bundespräsident Johannes Rau. Von 2004 bis 2011 Staatssekretär in Sachsen und in Rheinland-Pfalz.

Über Christoph Habermann:

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