Von den Huthis über die Ukraine bis zum russischen Angriff auf die Nato
Über solche, die uns auf Krieg trimmen wollen und solche, die widersprechen

Auf der Suche nach Geschichten und Meldungen, die interessant sein könnten, fand ich eine Diskussion auf Sky News. In der Sendung diskutierten Bill Browder und Dr. Myriam François unter anderem über die Bombardierung der Huthi im Jemen. Bill Browder verteidigte das militärische Vorgehen. Terroristen könne man keine Blockade erlauben. Er verwies auf Milliardenkosten und Inflation. Francois meinte, wer die Aktionen der Huthi beenden wolle, müsse den Grund dafür beseitigen und einen Waffenstillstand im Gaza-Streifen durchsetzen. Wie könne man es wagen, über Handel zu reden, während (im Gazastreifen) Kinder ohne Betäubung operiert werden müssten, fragte sie.

Gut, dachte ich, dass auf Sky News eine solche Debatte geführt wird, und wer ist diese Dr. Francois, die ihre Ausführungen damit beendete, dass sie auf den Studiotisch schlug und nach Waffenstillstand verlangte?

So stieß ich auf ihren Dokumentarfilm „Finding Alaa“, der bereits einen Preis erhielt. Der Film erzählt eine schwierige Geschichte (in französisch, mit englischen Untertiteln), die mit dem Terrorattentat auf das Bataclan in Paris 2015 begann. Wie gingen französische Eltern der Terroristen und die der Opfer damit um? Wie geht Frankreich mit den französischen Terroristen um, die nach Syrien gingen, den Terror auch nach Paris trugen, aber auch Kinder zeugten? Der Film erzählt, wie zwei Väter, die unterschiedlicher nicht hätten sein können, sich verbündeten, Freunde wurden und gemeinsam ein Buch schrieben. Einer verlor seine Tochter wegen des terroristischen Anschlags auf das Bataclan, der andere war der Vater eines der Terroristen, der dabei ums Leben kam. Der Guardian berichtete im Mai 2023 von den „Vätern der Vergebung“.

Nach Hilfe gesucht und keine gefunden

Im Film erfährt man, dass sie kein Einzelfall sind, es Gruppen in Belgien und Frankreich gibt, weil Hinterbliebene spüren, dass sie eine Verantwortung haben, damit Hass und Leid nicht neues Unheil gebären. Der Film erzählt auch von der Suche des Vaters des Terroristen nach seiner Enkeltochter Alaa, die 2015 in Syrien geboren wurde, gezeugt mit einer französischen Terroristin und in einem Lager lebte, im kurdisch kontrollierten Gebiet. Er wollte Alaa nach Hause holen, zu sich und seiner Frau. Alaa war an ihrem Schicksal nicht schuld, sie sorgten sich, es war ihr Fleisch und Blut, aber vielleicht war es auch ein Versuch einer Art Wiedergutmachung. Sie wollten ihr alle Liebe geben, die sie hatten. Die Ehefrau hatte die Radikalisierung ihres Sohnes über das Internet bemerkt und nach Hilfe gesucht und keine gefunden. Anwerbungen, so erzählt es der Film, vollzogen sich mit Bildern toter Muslime, die gerächt werden sollten, durch „echte“ Muslime.

Zum Zeitpunkt des Drehschlusses hatte Frankreich schließlich einige französische Terroristen und deren Kinder aus den Lagern in Syrien nach Frankreich geholt, darunter auch Alaa. Sie kam in eine Pflegefamilie. Die Großeltern hatten Alaa immer noch nicht gesehen. Gewidmet ist der Film einem Opfer des Terroraktes von Paris.

Auf X (twitter) von Francois fand ich auch eine Präsentation von Ilan Pappé, einem israelischen Historiker, gepostet am 23. 1. 2024. Pappé hat ein Buch geschrieben, das beim Westendverlag erschien, ich aber bisher nicht gelesen habe. Man soll es tun, wenn man den aktuellen Konflikt verstehen wolle, lautete eine Empfehlung des Deutschlandfunks.

Wann werden wir begreifen, dass Terror nur neuen Terror zeugt?

In der kurzen Präsentation erzählte Pappé vom israelischen Erlass Nr. 40 vom 25. November 1948. Es ging um elf palästinensische Dörfer nahe des heutigen Gaza-Streifens. Die Bewohner wurden vertrieben (in den heutigen Gaza-Streifen), ihre Hütten aus Lehm und Stroh angezündet, ihre Steinhäuser zerstört. Nach Pappé leben die Nachfahren dieser Vertriebenen im Gaza-Streifen. Sie können ihre alte Heimat sehen, wo inzwischen Israelis siedeln. Diese elf Siedlungen wurden von der Hamas am 7. Oktober 2023 angegriffen. Wann werden wir begreifen, dass Terror nur neuen Terror zeugt?

In der gleichen Sky-Sendung ging es auch um die Ukraine. Auf X, dem Konto von Bill Browder, ist ein Diskussionsausschnitt zu finden. Was passiert, fragte die Moderatorin, wenn die USA kein Geld mehr für die Ukraine bereitstellen. Browder sprach von einem „europäischen Moment“. Selbst wenn sich die USA zurückziehen sollten, das Problem bliebe. Man müsse der Ukraine neues Geld geben. Denn, wenn Putin nicht gestoppt würde, und er habe das schon angekündigt, dann werde er ein nächstes Land angreifen. (Francois dagegen verwies auf die prekäre soziale Lage vieler Menschen und meinte, sie kenne niemanden, der Lust auf noch mehrKrieg hätte.)

Hypothese, die von der Nato ausgeht

Wann erklärte Putin, er werde, wenn er mit der Ukraine „fertig wäre“, ein weiteres Land angreifen? Hatte ich da was verpasst? Offenbar nicht nur ich, denn im jüngsten Interview der Welt mit dem ukrainischen Außenminister Kuleba, wurde ihm die Frage gestellt: „Halten Sie es für möglich, dass Putin, dass die russische Armee Deutschland angreift?“

Darauf antwortete Kuleba: „Russland wird einen Nato-Staat angreifen. Ich weiß nicht, ob es gleich Deutschland sein wird, aber ich bin mir sicher: Wenn sich Russland in der Ukraine durchsetzt – was wir nicht zulassen werden, aber da Sie eine hypothetische Frage stellen, werde ich Ihnen eine hypothetische Antwort geben – wird sich der nächste Schritt gegen die Nato richten. Und sobald ein Nato-Staat angegriffen wird, kann sich Deutschland nur sehr schwer aus dem Konflikt heraushalten.“

Genauso hatte ich es bisher auch verstanden. Es ist eine Hypothese, die von der Nato bzw. der Ukraine ausgeht. Der deutsche Verteidigungsminister äußerte sich dazu in einem Interview mit dem Tagesspiegel (für Abonnenten), das Politico.eu partiell wiedergab: “We hear threats from the Kremlin almost every day … so we have to take into account that Vladimir Putin might even attack a NATO country one day…” sowie: „Our experts expect a period of five to eight years in which this could be possible.”

Übersetzung:

„Drohungen aus dem Kreml hören wir fast täglich … wir müssen also damit rechnen, dass Wladimir Putin eines Tages sogar ein NATO-Land angreifen könnte..“ sowie: „Unsere Experten rechnen mit einem Zeitraum von fünf bis acht Jahren, in dem dies möglich werden könnte.“

Der Vorzug des Politico.eu Artikels besteht darin, dass er auch andere Stimmen mit Originalquellen wiedergibt: Der litauische Außenminister sagte in Davos, dass Russland sich womöglich nicht auf die Ukraine beschränken könnte. Wenn die Ukraine den Krieg verliere, ende das auf keinen Fall gut für Europa. Die Ukraine sei „Europas Krieg.“ Der schwedische Verteidigungsminister warnte: Der Krieg könnte nach Schweden kommen. Man müsse sich mental vorbereiten. Polens Verteidigungsminister erklärte, man müsse sich auf jedes Szenario einstellen, seitdem Russland die Ukraine angegriffen habe. Der holländische Vorsitzende des Militärausschusses der Nato verlangte, das „Unerwartete zu erwarten“ und forderte die Nato zur „Kriegszeiten-Transformation“ auf.

Alle reden im Konjunktiv, weil keiner etwas vorweisen kann. Es gibt keine offizielle russische Position, wonach Russland die Nato anzugreifen will, auch keine diesbezüglichen Äußerungen Putins. Im Gegenteil, sowohl Putin als auch Lawrow hatten im Dezember 2023 klargestellt, dass sie keine Absichten hätten, das Nato-Gebiet anzugreifen. Beide äußerten sich zu einer Verdächtigung des US-Präsidenten Biden.

Die Einzige, die mit der Gewissheit des Bill Browder sprach, war die republikanische Präsidentschaftskandidatin Nikki Haley. Am 4. Januar 2024 sagte sie: „Trump, Ron (Anm.: de Santis), sie alle haben gesagt, lasst uns die Ukraine verlassen. Lassen Sie mich Ihnen sagen, warum die Ukraine wichtig ist … Russland sagte, sobald es die Ukraine einnimmt, sind als nächstes Polen und das Baltikum dran…”

Hysterie und wilde Verdächtigungen statt ernsthafter politischer Dialog

Die Gefährlichkeit einer solchen Debatte sollte niemand unterschätzen. Die Aufrüstungsforderungen in der Nato könnten in Russland so verstanden werden, dass die Nato nach dem Ende des Ukraine-Krieges einen neuen Krieg plane. Da es keinen ernsthaften politischen Dialog zwischen dem Westen und Russland mehr gibt, sind Hysterie aber auch wilden Verdächtigungen auf beiden Seiten Tür und Tor geöffnet.

Gleichzeitig hat diese Diskussion auch etwas unendlich Makabres, das nur der ukrainischen Seite bewusst zu sein scheint. Sie betont inzwischen unentwegt, dass sie den Krieg gegen Russland gewinnen wird, während alle, die einen direkten Nato-Russland-Krieg am Horizont heraufziehen sehen, die Hoffnung auf den berühmten Siegfrieden der Ukraine aufgegeben zu haben scheinen. Wie geht man mit dieser veritablen Blamage in der Nato um? Da steckt man alles, was man hat, in diesen Stellvertreter-Krieg, und dann geht der auch noch womöglich verloren?

Also erfindet man gleich die nächste Katastrophe, den Dritten Weltkrieg, selbstverständlich ausgelöst von Moskau.

Die, die diese Horrorszenarien in die Öffentlichkeit bringen, tun so, als wäre es unvermeidlich, der russische Ansturm nur Monate oder wenige Jahre entfernt und das Einzige, was man tun könnte, wäre „kriegstüchtig“ zu werden.

Normalerweise, wenn sich eine politisch/militärische Bedrohung ankündigt und die Mahner vor russischer Aggression daran auch ernstlich glaubten, müssten sie es als ihre vordringlichste Pflicht ansehen, die Bedrohung abzuwenden. So aber sollen wir den nahenden russischen Angriff schon fast als gottgewollt akzeptieren, die Gürtel enger schnallen und uns mental und auch sonst vorbereiten. Ich hätte da auch so einige Vorschläge: Die Herstellung einer Art Kriegswirtschaft einschließlich aller Empfehlungen von Kästner aus seinem großen Gedicht “Die andere Möglichkeit”.

Falls jemand draußen war, bitte umgehend duschen

Man könnte zudem vorsorglich alle Privathaushalten wieder daran erinnern, welche unverzichtbaren Lebensmittel zu Hause zu bunkern wären, oder wie man sich bei im Falle eines Atomkriegs verhält (frei nach den Empfehlungen der New Yorker Behörden aus dem Jahr 2021: Bitte Ruhe bewahren, von Fenstern wegtreten und auf die Anweisungen der Behörden warten; falls jemand draußen war, bitte umgehend duschen.)

Es ist fast zum “ich-weiß-nicht-was”, feststellen zu müssen, dass der Verstand so vieler politisch Verantwortlicher ins Exil ging oder, um das Unwort des Jahres zu gebrauchen, „re-emigriert“ wurde. Wahrscheinlich waren das auch die Russen …

Obwohl, es könnte natürlich sein, dass all die Kriegspropheten deshalb in solcher Gemütsverfassung sind, weil sich die Nato in einer neuen Lage befindet. Weltweit kann sie nicht mehr so schalten und walten, wie sie will. Das jedenfalls stand im Bericht der Münchner Sicherheitskonferenz 2020. Das ist natürlich aus der Sicht der Nato übel und verführt zur Annahme, dass mit mehr Rüstung sich diese Lage wieder ändern könnte.

Friedenstüchtigkeit – Weg selbst verbaut

Gleichzeitig hat die Nato im Ukraine-Krieg lernen müssen, dass sie tatsächlich nicht auf einen solchen Krieg vorbreitet war. Russland ist kein Jugoslawien, kein Afghanistan, kein Irak, kein Syrien, kein Jemen. Das ist auch kein Anlass zur Freude, wenn man im Nato-Hauptquartier sitzt oder im Weißen Haus. Nur, statt jetzt die Vorbereitung zu starten, damit man „kriegstüchtig wird“, könnte man alternativ an einer Friedenstüchtigkeit arbeiten, also beginnen, die bekannten Konflikte mit Russland zu besprechen und sich um Kompromisse bemühen.

Da das aber wiederum dem vorherrschenden Narrativ widerspricht, das behauptet, Russland sei „naturhaft“ und anlasslos aggressiv, hat man sich selbst politisch und propagandistisch den Weg verbaut, wieder zur Diplomatie zurückzukehren. Da bleibt nur noch der Faktor der öffentlichen Meinung. Sie ist eine starke Kraft in einer Demokratie. Wenn hinlänglich viele der Meinung sind, dass die Welt und auch dieser Kontinent genug von Krieg gesehen hat, auch genug vom Krieg in der Ukraine, um künftig Frieden zu wollen, dann verändert sich die Lage vielleicht.

Möglicherweise gibt ja dem einen oder anderen eine Meldung vom heutigen Tag zu denken. Heute, am 24. Januar 2024, wurde ein russisches Flugzeug abgeschossen, auf russischem Territorium, nahe der ukrainischen Grenze. Dass es die ukrainische Seite war, stand in ersten ukrainischen Meldungen. Die Ukrainskaja Prawda berichtete, die Maschine hätte Waffen an Bord gehabt. Inzwischen wurden die Überschriften geändert. Tatsächlich waren an Bord neben der Mannschaft ukrainische Kriegsgefangene für einen Gefangenenaustausch. Eine zweite Maschine, ebenfalls mit Gefangenen an Bord, drehte ab. Die russische Seite behauptete, die Maschinen seien der ukrainischen Seite angekündigt worden. Die ukrainische Seite bestätigte, dass für den heutigen Tag ein Gefangenenaustausch geplant war. Außerdem wurden die ukrainischen Bürgerinnen und Bürger aufgefordert, nur den offiziellen ukrainischen Stellungnahmen zu vertrauen. (Achtung: russische Desinformation!)

Sei es wie es sei, nach den ersten Äußerungen aus Russland waren womöglich aus Deutschland gelieferte Waffen im Spiel (entweder US- amerikanische Patriots oder deutsche Waffen, hieß es). So richtig die Entscheidung des Bundestages war, aus Sorge, nicht zur direkten Kriegspartei zu werden, keine Taurus-Marschflugkörper zu liefern, wir sind so tief verwickelt in diesen Krieg und nun womöglich auch noch in diesen unglückseligen Abschuss. Oder wird es so sein, dass behauptet werden wird, die Russen hätten sich selbst abgeschossen? Um uns eins reinzuhauen?

Wann werden wir aufwachen und sagen, genug ist genug?

Über Petra Erler / Gastautorin:

Petra Erler: "Ostdeutsche, nationale, europäische und internationale Politikerfahrungen, publizistisch tätig, mehrsprachig, faktenorientiert, unvoreingenommen." Ihren Blog "Nachrichten einer Leuchtturmwärterin" finden sie bei Substack. Ihre Beiträge im Extradienst sind Übernahmen mit ihrer freundlichen Genehmigung.