Grossbritannien — Über viele Jahrzehnte wurden die britischen Gewerkschaften abgeschrieben. Die Niederlagen der 1980er Jahre schienen ihnen das Genick gebrochen zu haben. Doch seit einiger Zeit wird auf der Insel wieder gestreikt: Kämpferisch, und auch über bestehende Antistreikgesetze hinweg
2024 jährt sich der Beginn des großen britischen Bergarbeiterstreiks von 1984 zum 40. Mal. Dieser Streik war das Fanal der britischen Gewerkschaftsbewegung gegen das von der konservativen Thatcher-Regierung durchgeführte neoliberale Kahlschlagprogramm. Und obwohl dieser Streik in einer Niederlage für die Gewerkschaften endete, hallt dessen Bedeutung bis heute nach: Die Politisierung einer ganzen Generation proletarischer Frauen, das Bündnis zwischen der aufkommenden queeren Bewegung mit den Bergleuten, die Konfrontation großer Teile der Bevölkerung mit der Polizei. All dies sind Facetten, die bis heute Teil eines Alltagsbewusstseins auf den britischen Inseln sind.
Allerdings wurde der Bergarbeiterstreik in der medialen Öffentlichkeit und auch in Teilen der Gewerkschaftsbewegung über viele Jahre hinweg als ein rein historisches Ereignis betrachtet. Etwas Einmaliges, das nicht wiederkommen wird. Dieses Jahr liegt die Sache etwas anders. Denn die Erinnerungen an den Bergarbeiterstreik fallen in ein sehr spezielles Zeitfenster. 2023 wurde in Großbritannien so viel gestreikt, wie seit 30 Jahren nicht mehr.
Ein Drittel will den Job wechseln
Große Berufsgruppen wie das Gesundheitswesen, die Eisenbahnen, der Nahverkehr, die Transportlogistik, Amazon, Beschäftigte kommunaler Unternehmen, Museumsangestellte und viele mehr gingen in diesem Jahr für ihre Rechte auf die Straße: Für höhere Löhne, die schon teilweise seit über einem Jahrzehnt nicht mehr angepasst worden waren, für kürzere Arbeitszeiten, und gegen nicht tolerable Arbeitsbedingungen im Job.
Überall brennt der Hut. Das wird unter anderem in einer neuen Massenumfrage unter Beschäftigten im englischen Gesundheitswesen NHS deutlich, an der sich über 700.000 der 1,4 Millionen Mitarbeitenden im NHS beteiligt haben. Diese Umfrage wird seit dem Jahr 2003 jährlich durchgeführt, und gewährt einen detaillierten Einblick in die Stimmung der Belegschaft eines der größten Arbeitgeber des Landes.
Das nun veröffentlichte Ergebnis der im Jahr 2023 durchgeführten Umfrage kommentierte Sharon Graham, Generalsekretärin der Gewerkschaft UNITE wie folgt: „Die Moral der Belegschaft im NHS hat einen Tiefpunkt erreicht. Die Zahlen lassen einem die Kinnlade runterfallen. Ein Drittel aller Beschäftigten wollen innerhalb des Jahres ihren Job wechseln. 70 Prozent sagen, es gibt nicht genug Personal, um die anfallende Arbeit ordentlich zu bewältigen. Und fast die Hälfte sagt, sie freut sich nicht darauf, zur Arbeit zu gehen.“
Da verwundert es überhaupt nicht, dass zum Beispiel die Nachwuchsärzte im englischen Gesundheitswesen seit dem Jahr 2022 inzwischen zehnmal gestreikt haben. Im vergangenen Jahr 2023 legten sie für 144 Stunden am Stück die Arbeit nieder, der bislang längste Streik in der Geschichte des NHS. Vom 24. bis 28. Februar ging die von der Fachgewerkschaft „British Medical Association“ geführte Auseinandersetzung in die nächste Runde – dieses Mal legten die Assistenzärzte für 96 Stunden die Arbeit nieder.
Im NHS gilt die Eigenheit, dass die Tarifverträge in Wales, Nordirland und Schottland mit den dortigen Regionalverwaltungen ausgehandelt werden, in England aber mit der britischen Regierung selbst. Seit 2008 haben die englischen Assistenzärzte keine Reallohnerhöhung mehr gesehen. Im Gegenteil sind sie seitdem um 26 Prozent gesunken. Noch schlimmer sieht es in Nordirland aus. Dort legten die Assistenzärzte am 6. März für 24 Stunden die Arbeit nieder. Ihre Reallöhne sind seit 2008 um 30 Prozent eingebrochen. Das Brutto-Einstiegsgehalt liegt hier um 5.000 Pfund pro Jahr niedriger als bei den Kolleg*innen in England.
Das Übel heißt Sparpolitik
Bedeutsam ist, dass das Jahr 2008 als Beginn des rapiden Lohnverfalls angegeben wird. Im Jahr 2008 brachen die globalen Finanzmärkte zusammen. Dies war unter anderem ein direktes Ergebnis der von Thatcher gewaltsam durchgesetzten neoliberalen Wende. Den Preis für den Finanzkollaps zahlen seither weltweit die Beschäftigten mit Lohneinbußen und der willentlichen Zerstörung öffentlicher Infrastruktur durch die Regierungen. Das betrifft vor allem den kommunalen Bereich.
Anfang März 2024 veröffentlichte die Gewerkschaft UNISON erschreckende Zahlen für England. Das Einkommen englischer Kommunen ist demnach seit 2010 um 41 Prozent eingebrochen. Über 1.000 Jugendzentren wurden in diesem Zeitraum geschlossen, ebenso 800 Büchereien. Für die Finanzierung ihrer Schulen setzen Kommunen zunehmend auf Crowdfunding-Initiativen. Und weil all das nichts hilft, erklärt eine wachsende Zahl von Kommunen die Zahlungsunfähigkeit. Das betrifft unter anderem die Millionenstadt Birmingham, aber auch andere Großstädte wie zum Beispiel Nottingham. Durch die Zahlungsunfähigkeit drohen nun weitere krasse Einsparungen, denen sich die lokalen Gewerkschaften bereits Anfang März mit Demonstrationen entgegenstellten. Streiks könnten folgen.
Ihre Entsprechung findet diese Situation bei den staatlichen Behörden. Hier hat am 18. März eine Urabstimmung begonnen, um Streiks für eine Reallohnerhöhung sowie eine deutliche Arbeitszeitverkürzung durchzusetzen. In einer zuvor abgeschlossenen Mitgliederbefragung hatten bereits 82 Prozent der Befragten ihre Streikbereitschaft bekundet. Das ist auch wichtig. Denn aufgrund neuer britischer Antigewerkschaftsgesetze müssen über 50 Prozent der in der Urabstimmung befragten Gewerkschaftsmitglieder für einen Streik stimmen, damit dieser juristisch legal stattfinden kann.
In den vergangenen Jahren hat die britische Regierung die Antistreikgesetze immer wieder verschärft. Die letzte Verschärfung kam mit Inkraftsetzung des „Minimum Service Levels Act“. Dieses Gesetz erlaubt es Arbeitgeber*innen in großen Teilen des öffentlichen Dienstes sowie des Transportwesens, eine bestimmte Zahl von Beschäftigten im Streikfall namentlich zur Arbeit zu verpflichten. Britische Gewerkschaften kritisieren dies als ein „Zwangsarbeitsgesetz“.
Ende vergangenen Jahres einigten sich die dem TUC-Gewerkschaftsbund angeschlossenen Einzelgewerkschaften darauf, die Umsetzung dieses Gesetzes zu verweigern. Eine Probe aufs Exempel gab es bereits. Als britische Eisenbahnunternehmen im Februar mit dem neuen Gesetz gegen geplante Streiks der Lokführergewerkschaft ASLEF vorgehen wollten, verkündete diese kurzerhand fünf weitere Streiktage. In direkter Folge verzichtete die Arbeitgeberseite auf Anwendung des „Minimum Services“-Gesetzes. Auch die walisischen und schottischen Regionalverwaltungen, sowie diverse Kommunen in ganz Großbritannien, haben bereits ähnliche Verzichtserklärungen bekundet.
Das Jahr 2024: Es bleibt aus gewerkschaftlicher Sicht spannend.
Dieser Beitrag ist eine Übernahme aus ver.di-publik, mit freundlicher Genehmigung der Redaktion.
Schreibe einen Kommentar