Corona-Aufarbeitung: Eine Enquete-Kommission reicht nicht aus – Die Aufarbeitung läuft Gefahr, politisch instrumentalisiert zu werden und gesellschaftliche Risse zu vertiefen. Zeit, über unorthodoxe Vorschläge nachzudenken.

Die Diskussion um die RKI-Protokolle zeigt, dass noch viel Gesprächsbedarf zur Corona-Zeit besteht. Die Pandemie hat tiefe Risse im demokratischen Miteinander, im Freundes- und Familienkreis hinterlassen.

Zur politischen Aufarbeitung wird inzwischen eine Enquete-Kommission oder ein Untersuchungsausschuss diskutiert. Das allein wird die sozialen Verwerfungen aber nicht kitten können – auch weil das Thema politisch instrumentalisiert wird. Parteien überschlagen sich auf einmal, dieses Thema zu besetzen. Der Eindruck entsteht, dass auch vermieden werden soll, dass maßnahmenkritische Parteien – vor allem der rechte politische Rand – von dieser überfälligen Debatte profitieren. Die jetzige Aufregung lässt erahnen, dass der Ton schärfer wird, wenn es um politische Verantwortung geht.
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Damit besteht die Gefahr, dass der Aufarbeitungsprozess die sozialen Risse sogar noch vertieft. Dies ist gefährlich, denn der Schaden am politischen Vertrauen ist hoch. Laut aktuellen Studien wollen 29 Prozent der Deutschen „Politiker bestrafen, die in der Pandemie Verantwortung übernommen haben“. Diese erschreckend große Minderheit weiterhin als „ein paar Spinner“ abzutun, ist demokratiepolitisch problematisch und ein Spiel mit dem Feuer. Gewaltbereite Reichsbürger und Verschwörungsmythen haben weiterhin Hochkonjunktur.

Wir glauben daher, dass es zusätzlich zur politischen Auseinandersetzung eine gesellschaftliche Aufarbeitung braucht. Wir müssen gemeinsam lernen, Zwischentöne zu hören, und nicht nur die lautesten Stimmen. Nur so kommen wir aus der emotionalen Polarisierung, der Entmenschlichung und der Verrohung wieder auf eine sachlich-inhaltliche Debatte.

Wir schlagen vor, diese Dynamik mit einem persönlich anteilnehmenden Ansatz zu durchbrechen: Wie ging es denn unserer arbeitslosen Nachbarin oder dem einsamen Arbeitskollegen wirklich in der Zeit? Wie war es für Menschen mit Beeinträchtigungen, erst bei der Triage zu merken, dass sie gar nicht mitgedacht wurden? Wie lebt es sich mit Long Covid? Wie gehen Mitbürger mit Migrationsbiografie heute damit um, dass ihre Gemeinschaft viel stärker von Krankheit und Sterblichkeit betroffen war als die Gesamtgesellschaft? Was für Spuren hat die Zeit bei unseren Kindern hinterlassen? Wie hat die Bevölkerung die Rollen der Medien erlebt?

Aufarbeitung braucht persönliche Anteilnahme

Indem wir unterschiedliche Betroffenheiten, Positionen und Interessen hören und gemeinsam einordnen, wird zwischenmenschliche Annäherung wieder möglich. Medien können aus dem Prozess auch lernen, wie polarisierungssensible Berichterstattung aussehen könnte.

Ein Dialogprozess muss von der Zivilgesellschaft gesteuert werden, um unterschiedliche Betroffenheiten und Bedürfnisse zu erreichen und widerzuspiegeln. Konkret lässt sich solch ein Prozess wie folgt umsetzen:

Persönliche Geschichten bieten die Grundlage und den Auftakt für lokal organisierte Gesprächskreise. Diese Dialoge sammeln Impulse für die Fragestellungen einer möglichen Untersuchungskommission. Gleichzeitig werden Erkenntnisse aus dem politischen Prozess laufend mit diesen Gesprächskreisen geteilt. Mitglieder des Untersuchungsausschusses oder der Enquete-Kommission erklären den Stand der Diskussionen und nehmen Impulse auf. Diese Verschränkung stärkt das Vertrauen in den politischen Prozess.

Es gibt bereits Erfahrungen, aus denen ein deutschlandweiter Dialogprozess lernen könnte.

Vorbild Corona-Bürgerräte

Die Regierung von Liechtenstein hat von 2020 bis 2022 fünf unabhängige Umfragen durchführen lassen, um das Krisenmanagement der Regierung zu beurteilen. Die Bevölkerung konnte beispielsweise Feedback geben, ob die Maßnahmen verhältnismäßig und angemessen waren oder nicht.

Inspiration gibt es auch aus diversen Corona-Bürgerräten, wo repräsentativ ausgewählte Interessierte schon während der Pandemie Forderungen an die jeweiligen Behörden stellen konnten. Während diese unterschiedliche Stärken und Schwächen hatten, haben sie doch gezeigt, wie Kommunikation zwischen Behörden und Bürgern organisiert werden kann. Lektionen aus der Praxis sind also da, auf die sich ein deutschlandweiter Prozess stützen könnte. Wichtig ist, dass die Stimmen aus der Bevölkerung auch tatsächlich in den politischen Prozess einfließen.

Es ist an uns allen, jetzt anzufangen und die Gesellschaft als Teil der Lösung mitzudenken – wenn nicht jetzt, wann dann?

Claudia Meier und Dr. Cordula Reimann sind Politikwissenschaftlerinnen. Claudia Meier ist Leiterin Europa beim Verein Build Up. Dr. Cordula Reimann ist Prozess- und Dialogbegleiterin und promovierte Friedens- und Konfliktforscherin. Die beiden bauen derzeit ein Projekt zur Corona- und Krisenverarbeitung in der Schweiz auf. Dieser Beitrag unterliegt der Creative-Commons-Lizenz (CC BY-NC-ND 4.0). Er darf für nichtkommerzielle Zwecke unter Nennung des Autors und der Berliner Zeitung und unter Ausschluss jeglicher Bearbeitung von der Allgemeinheit frei weiterverwendet werden.

Über Claudia Meier, Cordula Reimann / Berliner Zeitung:

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