2024 wird unsere Verfassung 75 Jahre alt. Die freiheitslichste Verfassung, die Deutschland je hatte, und die in Europa ihresgleichen sucht,  wird derzeit nicht gefeiert, obwohl es Anlass dazu gäbe, an jeden einzelnen Artikel zu erinnern. Erinnern an die immer wieder gefährdeten Individualrechte, an die sozialen Grundrechte, die – wie durch die Wohnungsnot und soziale Schieflage, mit viel zuviel Reichtum, explodierenden Mieten und Wohnungsnot und das Gewürge um die Kindergrundsicherung – vernachlässigt werden, und an das Friedensgebot des Grundgesetzes, das ein kollektives europäisches Sicherheitssystem anmahnt. Stattdessen wird die Öffentlichkeit derzeit überflutet mit Bildern und Statements der NATO, die ebenfalls 75 Jahre alt wird. Wenn man bedenkt, dass die Initiatoren ursprünglich mit einem Bündnis auf Zeit für etwa zehn Jahre gerechnet hatten, ein ziemlich zähes Leben.

Dabei steht nicht nur der Konflikt mit Russland und dessen Überfall auf die Ukraine im Mittelpunkt. Schon am ersten Tag des NATO-Gipfeltreffens in Brüssel stand auch immer wieder China, Taiwan und die Situation im fernen Osten im Mittelpunkt der Statements und der Berichterstattung. Die kritische Zuschauerin reibt sich bisweilen die Augen: NATO – N orth Atlantic Treaty Organization‚Organisation des Nordatlantikvertrags bzw. französisch OTANOrganisation du traité de l’Atlantique nord bedeutet ein Militärbündnis von Staaten ursprünglich zur Verteidigung westeuropäischer Demokratien gegen die kommunistischen Staaten des “Warschauer Pakts”. Mit dem fernen Osten und dortigen Konflikten hat die NATO nichts zu tun. Deshalb sollte es auch erfahrenen Gipfeljournalist*inn*en befremdlich erscheinen, welchen Stellenwert die Situation um Taiwan neuerdings in der Strategie und der Berichterstattung über die NATO einnimmt. Aber das ficht die meisten Vertreter*innen der demokratischen Öffentlichkeit offensichtlich nicht an: Dass die USA auch unter Joe Biden China zum “wichtigsten Rivalen” – das Wort “potentieller Feind” wird umschlichen – erklärt haben, beschäftigt das Bündnis, obwohl es eigentlich nicht seine Aufgabe ist. Nun mögen manche argumentieren, dass in der globalisierten Welt alles mit allem zusammenhängt, aber das trifft nur teilweise zu: Schließlich blockiert der US-Senat derzeit weitere Munitions- und Waffenhilfen für die Ukraine und im Falle von Trumps Wahl zum Präsidenten droht ein weiterer Entzug der Waffenhilfe für die Überfallenen in der Ukraine.

Was plant die NATO-Bündniszentrale?

Die NATO ist  – im Gegensatz zur EU als Staatenbündnis, das sich wirtschaftlich, rechtlich, finanziell und politisch geeinigt hat und über gemeinsame Verfassungsinstitutionen wie ein Parlament, Kommission und Ministerrat, sowie Gerichtshof und gemeinsame Gesetze und viele Behörden verfügt – ein reines  zwischenstaatliches Bündnis ohne eigene Exekutivfunktionen. Trotzdem versucht nun Jens Stoltenberg, ein finanziell anspruchsvolles Hilfsprogramm für die Ukraine von 100 Milliarden Euro auf fünf Jahre vorzubereiten, das auf dem NATO-Gipfel in den USA im Juli beschlossen werden soll. Die eine Frage ist, ob dieses Paket im Sommer nicht völlig zu spät kommen wird. Denn wenn die Ukraine Munition, Waffen und Gerät braucht, dann jetzt! Im Sommer wird es zwar ein Wahlkampfpunkt für die Regierung Biden sein (oder auch nicht), aber für die Ukraine möglicherweise zu spät kommen. Der ganze Gedanke dahinter muss aber generell hinterfragt werden: Bisher ist die NATO ein Bündnis, das von den aktuellen Beiträgen ihrer Mitglieder lebt und auch darauf angewiesen ist, was diese souverän beschließen. Denn die NATO hat keine eigenes Mandat. Was Stoltenberg aber plant, ist eine Art Vorratsbeschluss, aus dem die NATO als Organisation dann schöpfen kann. Dafür aber gibt weder das NATO-Statut, noch die Vertragssituation etwas her. Denn ohne die USA war und ist die NATO niemals gedacht worden. Die NATO ist zudem kein politisch selbst handelndes Subjekt, sondern von den Beschlüssen der Parlamente oder Regierungen ihrer Mitglieder jederzeit abhängig. Das ist bei einem Militärbündnis auch richtig so. Selbst wenn eben Donald Trump Präsident wird und seine gewendeten Republikaner die Mehrheit in Senat und Repräsentantenhaus haben.

Die NATO ist kein selbst handelndes Subjekt des Völkerrechts

100 Mrd. – wohl nach deutschem Modell der Sonderschulden – beschließen lassen und dann in eigener Regie zugunsten der Ukraine ausgeben – das mögen sich die Beamten des NATO-Apparats in Brüssel offensichtlich so gedacht haben. Was sie nicht bedacht haben, ist die Frage, in welche völkerrechtliche Situation die NATO dadurch eigentlich kommen könnte – oder wird. Die NATO ist ein Militärbündnis des Westens, beschänkt auf den nordatlantischen Raum und auf Verteidigung des Terretoriums der Mitglieder. Die Ukraine ist kein Mitglied der NATO und fällt daher nicht unter ihre Statuten und ist daher auch kein Staat, der den Bündnisfall nach Artikel 5 auslösen könnte. Aber was Stoltenberg nun plant mit der 100 Mrd. Initiative ist nicht nur politisch-militärisch schräg, weil es viel zu spät für die Ukraine kommt, wenn sie erst im Sommer beschossen werden soll.  Sie ist darüber hinaus auch geeignet, die NATO in den Ukraine-Krieg hineinzuziehen. Denn bisher werden Waffenlieferungen von den einzelnen Staaten der Ukraine-Koalition oder der EU gemeinsam beschlossen und gleistet. Würde nun die NATO mit einem eigenen Unterstützungspaket, das ggf. noch losgelöst von den US-amerikanischen Binnendiskussionen eingelöst würde, Partei für die Ukraine ergreifen, könnte sich völkerrechtlich die Frage stellen, ob die NATO dadurch doch – entgegen des Willens vieler ihrer Mitglieder – zur Kriegspartei im Ukraine-Krieg werden könnte. Ohne Beschluss der Parlamente der Mitglieder, ohne politische Diskussion der NATO-Regierungen und ihrer Parlamente – die Bundeswehr ist eine Parlamentsarmee – geschähe dies letztlich im politikfreien Raum. Angesichts der Brisanz des Konflikts und dem Streben der NATO-Zentrale nach “Vorratsbeschlüssen” auf diesem NATO-Gipfel, stellt sich die Frage, ob sich hier ein Bündnis zu verselbständigen droht. Ohne Beschluss der EU, der einzelnen Regierungen und ohne Legitimation. Es ist fraglich, ob diese Art von  NATO-Selbstermächtigungs-Strategie von dem  Bündnisvertrag, dessen Einfachheit Jens Stoltenberg in seiner Begrüßung so hervorgehoben hat, gedeckt ist.

Propagandistische Autosuggestion?

Was war dieser NATO-Gipfel? Wieder haben die Außenminister der Mitgliedsstaaten kämpferische Reden gehalten, die betonten, dass die Ukraine “siegen” muss. Angesichts der US-republikanischen Haushaltssperre für die Ukraine und dem existenzgefährdenden Engpass an Munition der Verteigiger in den von Russland überfallenen Gebieten ein Hohn. Armer Außenminister Kuleba, der gute Miene zum bösen Spiel seiner Unterstützer machte, wissend, dass er in absehbarer Zeit außer warmer Worte keine substanziellen Waffen wie die dringend benötigten, aber teuren, und von den USA hergestellten  “Patriot”-Systeme bekommen wird. Stattdessen durfte sich die skeptische europäische Offentlichkeit jede Menge “Pfeifen im Walde” der baltischen Staaten über das Böse in Russland, des unbelehrbaren und zu keinen Verhandlung bereiten Despoten Putin und des expansionistischen Russland anhören.  Ideologische Aufrüstung und Militarisierungsideologie für Europa statt konkreter Hilfen.  Diese Militarisierungslogik hat einen realistischen Effekt: Druck auf die Mitgliedsstaaten auszuüben,  das 2%-Ziel dauerhaft einzuhalten und die Bereitschaft in der Bevölkerung, weit mehr in Rüstung zu investieren, auch zulasten des Sozialstaates, vor allem in Europa zu verankern und zu verstetigen. Der estnische Außenminieter hat gar 3% ins Spiel gebracht. Aber den Betroffenen in der Ukraine hilft dies aktuell überhaupt nichts.

Kein Wort über Ziele, Verhandlungen, keine Sicherheitsarchitektur

Der Herausgeber hat auf kluge Analysen der aktuellen Kriegssituation hingewiesen. Das Zeitfenster für mögliche Verhandlungen der Ukraine mit US-Unterstützung mit dem Aggressor Russland wird kleiner, je weniger Systeme zur Selbstverteidigung die Ukraine bekommt. Das ist so sicher, wie Donald Trump Kandidat der Republikaner werden wird. In der Vergangenheit haben Autor*innen auf diesem Blog das Problem thematisiert. Seither hat sich nichts positiv zugunsten der Ukraine verändert.  Angesichts dessen ist es umso erstaunlicher, dass die NATO weiter an ihrer Strategie der alternativlosen Unterstützung der Kriegsführung der Ukraine bei offensichtlich mangelnder Waffenhilfe festhält. Angesichts dessen wäre nun Gelegenheit für die selbstermächtigt sachkundigen Strateg*innen Toni Hofreiter und  Marie-Agnes Strack(“Flak”)-Zimmermann, einmal das mangelnde Engagement der USA, der Ukraine “Patriot”-Systeme zu liefern, ebenso laut anzuprangern, wie sie es sonst gegenüber der eigenen Regierung und dem Kanzler tun.

Gespaltene Wahrnehmung der Öffentlickeit und der NATO

Die schicksalhafte, geradezu zynische Situation zwischen realer Kriegslage bei gleichzeitig  fehlender Unterstützung der Ukraine ist die folgende.  Aufgrund des von Trump und seinen Komplizen im US-Parlament blockierten Waffenpakets einerseits und den täglich von der NATO verkündeten Parolen andererseits, dass “Die Ukraine siegen müsse”, die “Ukraine auch unsere Demokratie verteidigt”  entsteht eine Glaubwürdigkeitslücke des Westens einerseits gegenüber der Ukraine. Dass Präsident Selenskij am Wochenende erklärt hat, dass er auch bereit ist, bei den USA Waffen auf Kredit zu beziehen (eine Trump-Idee), damit er so überhaupt Waffen bekommt, ist doch für die NATO und insbesondere für die USA und Trump mehr als beschämend. So bleibt am Ende die Frage danach, was eigentlich dieser NATO-Gipfel zu 75 Jahren Bündnis gebracht hat.

 

Über Roland Appel:

Roland Appel ist Publizist und Unternehmensberater, Datenschutzbeauftragter für mittelständische Unternehmen und tätig in Forschungsprojekten. Er war stv. Bundesvorsitzender der Jungdemokraten und Bundesvorsitzender des Liberalen Hochschulverbandes, Mitglied des Bundesvorstandes der FDP bis 1982. Ab 1983 innen- und rechtspolitscher Mitarbeiter der Grünen im Bundestag. Von 1990-2000 Landtagsabgeordneter der Grünen NRW, ab 1995 deren Fraktionsvorsitzender. Seit 2019 ist er Vorsitzender der Radikaldemokratischen Stiftung, dem Netzwerk ehemaliger Jungdemokrat*innen/Junge Linke. Er arbeitet und lebt im Rheinland. Mehr über den Autor.... Sie können dem Autor auch im #Fediverse folgen unter: @rolandappel@extradienst.net