Abnehmspritze Ozempic: Wie Pharmakonzerne Patienten gegeneinander ausspielen – Übergewichtige klauen Diabetikern aus Faulheit die Abnehmspritze, heißt es oft. Unser Autor hat einen Partner mit Adipositas und weiß: Die Probleme liegen woanders.
Ein normaler Sonntagmorgen strahlt durch die Fenster des Cafés. Tassen klirren fröhlich, der Duft von heißer Schokolade schwappt über die Tische, und Gemütlichkeit grinst selig auf den Gesichtern der Besucher. Auch ich sinke entspannt in die Kissen der Couch und tippe die ersten Zeilen einer Geschichte. Dann ist es mit der Ruhe vorbei.
„Schon gehört? Diabetiker kriegen Ozempic nicht mehr“, flüstert es am Tisch neben mir. „Weil die ganzen Dicken das jetzt zum Abnehmen benutzen.“ „Die fetten Schweine sollen mal weniger essen, anstatt kranken Menschen Medikamente zu klauen“, brummt die andere Tischseite zurück. „Oder Sport machen. Aber dafür sind die zu faul.“ Hätten Gefühle kochen können, mir wäre der Kakao wohl sprudelnd aus der Tasse gespritzt.
Wer fett ist, ist faul?
Jetzt könnten manche vielleicht denken, ich wäre einer von denen. Diesen „fetten, faulen Schweinen“, undisziplinierte Wänste, die durch die Straßen rollen und weinenden Diabetikern am helllichten Tag die Abnehm-Spritzen aus der Hand reißen. Weniger essen? Mehr Sport? Pah, was interessiert mich das, wenn ich auch Leben ruinieren kann? Tatsächlich bin ich seit meiner Kindheit mit natürlicher Schlankheit gesegnet. Flacher Bauch, Komplimente, neidische Blicke. Vielleicht wäre mir vor einigen Jahren noch ein ähnlicher Kommentar rausgerutscht, wie den eingangs erwähnten Kaffeetrinkern. Aber dann habe ich meinen zukünftigen Mann kennengelernt.
Jeden Abend der prüfende Blick in den Spiegel und dann zu mir, ob ihn das Hemd fetter aussehen ließ. Ein Tanzkurs? Schwimmen, oberkörperfrei? Undenkbar. Zu viel Scham hing an seinem Bauch, zu sehr schmerzten die Blicke und Tuscheleien der anderen.
Trotz physisch aktivem Beruf und unzähligen Diätversuchen saugen sich die Pfunde schon seit der Kindheit fest. Statt Komplimenten hagelt es Gelächter und Verurteilung, aus der Scham wachsen Fressattacken. Ein Teufelskreis.
Mit einem BMI über 40 litt er bis vor kurzem an „Adipositas permagna“, einer anerkannten Erkrankung, bei der medizinische Hilfe angeraten wird. Die meisten würden nicht auf die Idee kommen, Menschen mit diagnostizierter Depression einzureden, sie sollten „halt weniger traurig“ sein, oder Magersüchtigen ein „iss halt mehr“ vor die Füße zu werfen. Aber Fett, das ist keine Krankheit. Fett, das ist einfach nur faul. Dass Magersucht und Adipositas zwei Seiten derselben Medaille sind, in beiden Fällen oft schwer verwurzelte psychosoziale Dynamiken zu einer ernsten Erkrankung führen, wird geflissentlich ignoriert.
Und so glauben viele, dass mein Mann Diabetikern wie ein Bandit aus der Gosse das lebenswichtige Ozempic raubt, trotz offizieller Diagnose, trotz Verschreibung des Arztes. Dass er seit Beginn der Behandlung mit Ozempic 40 Kilo verloren hat, zählt nicht. Die gewonnene Lebensqualität, die verschwundene Scham, die belastbareren Gelenke, die ihm jetzt erlauben, mit dem Judo-Training anzufangen, zählen nicht.
Medien und der Schlankheitswahn
Auch die Medien stimmen fröhlich in diesen Chor mit ein. Titel wie „Abnehm-Hype stiehlt Diabetikern lebenswichtige Medikamente“ leuchten wie Richtfeuer im Journalismusdschungel. Geschichten von Männern und Frauen, die sich die Traumfigur mit Ozempic vom Schwarzmarkt erspritzen oder Übergewichtigen, die das Medikament trotz schwerer Nebenwirkungen einnehmen, weil es besser als Sport sei. Dass Menschen wie mein Mann mit Ozempic den eigenen Teufelskreis durchbrechen und nun endlich ihr Leben umstellen können, kommt in diesen Artikeln nicht vor.
Trotzdem bekommt man bei vielen Berichten den Eindruck, Diabetes sei eine ernstzunehmende Krankheit, starkes Übergewicht jedoch nicht – die Dicken sind schließlich selbst dran schuld. Diabetiker sind die Opfer, die fetten Schweine die Diebe. Wer in dieser Medienschlacht der größte Gewinner ist, fällt dabei meist unter den Tisch.
Novo Nordisk ist ein dänisches Unternehmen und Drahtzieher hinter Ozempic. Seit dem Hype sitzt die Firma auf einem Thron verkaufter Spritzen und nimmt den zweiten Platz der größten europäischen Unternehmen ein. Das liegt auch daran, dass Novo Nordisk ein Patent an Ozempic besitzt, Rivalen daher vorerst keine Medikamente mit gleichem Wirkstoff auf den Markt bringen können und Novo Nordisk damit das Angebot kontrolliert – ein Tropfen auf dem heißen Stein der Nachfrage.
Die eigenen Produktionskapazitäten sind längst ausgeschöpft, an Erweiterungen werde gearbeitet. Die gewaltige Nachfrage komme unerwartet, heißt es. Aber war es wirklich nicht abzusehen, dass ein Medikament mit Abnehmpotenzial früher oder später für den westlichen Schlankheitswahn instrumentalisiert werden würde? Dass auch übergewichtige Menschen in ihrer Verzweiflung zu jedem Mittel greifen, das helfen könnte? Im offiziellen Statement gibt sich Novo Nordisk als Unschuldslamm, beteuert, dass Ozempic primär ein Diabetes-Medikament sei und Engpässe durch anderweitige Verwendung vermieden werden müssen. Eine Recherche ergibt ein ambivalenteres Bild.
Big Pharma
Denn der Hype um Ozempic entstand hauptsächlich durch die Omnipräsenz in den Medien, Instagram, TikTok und Co. Der Clou: Laut der britischen Zeitung „The Guardian“ hat Novo Nordisk führende Experten bezahlt, um positiv über die Abnehmwirkung ihres in Ozempic enthaltenen Wirkstoffs Semaglutid zu berichten. Zwar hauptsächlich bezogen auf ihr für Adipositas entwickeltes Medikament Wegovy, welches ebenfalls Semaglutid enthält. Und immer im legalen Rahmen, beteuert Novo Nordisk.
Trotzdem wurde das Unternehmen im März 2023 laut Meldung des „British Medical Journal“ (BMJ) wegen schwerwiegender Verstöße vom britischen Verband der Pharmaindustrie (ABPI) suspendiert. Dabei ging es um ein weiteres Abnehm-Medikament von Novo Nordisk, Saxenda. Laut der Behörde habe Novo Nordisk Gewichtsmanagement-Kurse als groß angelegte Saxenda-Werbekampagnen missbraucht, ohne dies ausreichend zu kennzeichnen.
In diesem Licht scheint es unwahrscheinlich, dass sich Novo Nordisk der Sogwirkung ihrer Medikamente nicht bewusst war. Im Gegenteil – die Firma hat ordentlich Öl ins Feuer gegossen und zählt seine Gewinne, während Diabetiker von Apotheke zu Apotheke hecheln und Menschen durch Schwarzmarkt-Spritzen in Lebensgefahr geraten.
„Moment mal“, mag der aufmerksame Leser jetzt vielleicht raunen. Wenn Novo Nordisk mit Wegovy eine Spritze für adipöse Patienten mit selbem Wirkstoff auf den Markt gebracht hat, wo liegt das Problem? Wieso ringen die Scharen um schwindendes Ozempic, wenn es eine Alternative gibt?
Die Frage ist leicht beantwortet: Kilos kosten mehr. Für 0,25mg Semaglutid, enthalten in Ozempic, zahlt der Diabetiker 20,22 Euro. Dieselbe Dosis kostet Übergewichtige mit Wegovy 42,89 Euro. Gleicher Wirkstoff, doppelter Preis. Das ist dreist, wäre aber kein Problem, würden die Krankenkassen die Kosten dafür übernehmen – zumindest in riskanten Fällen, wie eben bei einem BMI über 40. Aber während die Weltgesundheitsorganisation (WHO) Adipositas schon seit dem Jahr 2000 und das europäische Parlament seit 2006 als chronische Krankheit anerkennt, bleibt es in Deutschland bei einem stiefmütterlichen Behandlungsprogramm aus dem Jahr 2020, welches Adipositas nicht offiziell als Krankheit anerkennt und sich eher auf Prävention bei Kindern fokussiert.
Krankenkassen lassen Adipositas-Patienten im Stich
Dementsprechend zahlen die Kassen nicht. Viele Patienten können sich eine Versorgung mit Wegovy daher schlicht nicht leisten, der Arzt verschreibt aus der Not heraus das bezahlbarere Ozempic. Das Problem ist also hausgemacht. Novo Nordisk leckt sich in Dänemark die Lippen und verkauft überteuerte Spritzen an verzweifelte Patienten, aus dem Elfenbeinturm der Bundesregierung brummen die Kaffeetrinker: „Sollen die fetten Schweine halt weniger essen.“
Ozempic und Wegovy sind keine Wundermittel. Studien zeigen, dass bei einer Absetzung der Medikamente das verlorene Gewicht in vielen Fällen direkt wieder auf den Rippen landet. Eine Tatsache, die Firmen wie Novo Nordisk gerne unerwähnt lassen.
Eine Umstellung des eigenen Lebens während der Behandlung, Sport und gesündere Ernährung sind daher unabdingbar. Dabei können die Medikamente aber helfen. Erst mit dem Verschwinden der Heißhungerattacken fand mein Mann die Kraft, sich mit seiner Ernährung auseinanderzusetzen und Portionen besser einzuschätzen. Mit den ersten medikamentös bedingten Gewichtsverlusten kam das Selbstbewusstsein, regelmäßig einen Sportkurs mit dutzenden Teilnehmern zu besuchen – früher ein Ding der Unmöglichkeit.
Studien zeigen auch, dass Adipositas kein vereinzeltes „Lifestyle-Problem“ ist: etwa 19 Prozent der Frauen und 23 Prozent der Männer gelten in Deutschland als adipös. Trotz gravierenden physischen, psychischen und sozialen Folgen steckt Deutschland nicht genug Geld in subventionierte Ernährungsberatung, Sportkurse oder in schweren Fällen eben in Medikamente wie Wegovy, die einen Ausbruch aus dem Teufelskreis bedeuten können. Anscheinend lässt man die Menschen lieber im Stich – und zahlt dann die Folgen des Problems: Laut Berechnungen der World Obesity Federation kosteten Deutschland 2020 die Behandlung von assoziierten Folgeerkrankungen sowie Arbeitsausfällen über 103 Milliarden Dollar. Hochkalorische Trinknahrung für Gewichtszunahme wird bei untergewichtigen Menschen übrigens durchaus von der Kasse übernommen. Vielleicht sollten wir Übergewicht also als gesamtgesellschaftliches Problem verstehen und Menschen helfen, anstatt sie über den Rand unserer Tassen hinweg auszulachen.
Der 1994 in München geborene Autor lebt heute zusammen mit seinem Mann in Berlin, wo er als freiberuflicher Dramaturg, Lektor und Autor tätig ist. Dieser Beitrag unterliegt der Creative Commons Lizenz (CC BY-NC-ND 4.0). Er darf für nichtkommerzielle Zwecke unter Nennung des Autors und der Berliner Zeitung und unter Ausschluss jeglicher Bearbeitung von der Allgemeinheit frei weiterverwendet werden.
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