Wenn es nicht gerade einmal 18 Tage her wäre, dass das Grundgesetz 75 Jahre alt wurde, und, wie wir alle, auch der Kanzler an die Gültigkeit der Grundrechte und ihre konstitutive Bedeutung für unsere Demokratie erinnert hätten: Wie kann ein Bundeskanzler im Deutschen Bundestag eine Rede halten, in der er – geschuldet einer putativen Stimmung des Verlangens nach einer “starken Hand”- oder auch nur des Markierens eines “starken Mannes”, sich dazu hinreissen lässt, sich mit populistischen Tönen über Recht und Gesetz zu stellen? Ein Sozialdemokrat (!) behauptet, man solle und könne Straftäter wie den Täter von Mannheim nach Afghanistan oder Syrien abschieben. Warum also lügt er?
Juristisch ist das glatter Unsinn, denn natürlich muss der Rechtsstaat solche Täter erst einmal verurteilen, sie müssen ihre Strafe – zwischen 15 und 20 Jahren – verbüßen, und erst dann stellt sich die Frage der Abschiebung. Wünscht sich Scholz – selbst Jurist – wirklich, dass ein solcher Täter für seinen Mord straflos bleibt und ohne Strafe nach Afghanistan abgeschoben und von den Taliban gar als Held bejubelt und beklatscht wird?
Eine Riesenchance für den Rechtsstaat verpasst
Wahrscheinlich nicht, aber wieso leistet sich ein sozialdemokratischer Bundeskanzler dann den Fauxpas, die Öffentlichkeit derartig um Rechtsstaatlichkeit zu prellen? Nur, um sich und der Welt die Wahrheit zu ersparen und sich mit den Realitäten von Flucht, Migration, der Realität von Abschiebehindernissen und der Menschenwürde auseinanderzusetzen, die eben im Verfassungsstaat auch für Straftäter gilt? Welche Größe hätte Kanzler Scholz beweisen können, indem er genau an diesem Beispiel des mutmaßlichen Täters des Polizistenmordes Schritt für Schritt aufzeigt, dass unser Grundgesetz und unsere demokratische Rechtsordnung ohne Ansehen der Person urteilt? Zu verdeutlichen, warum dies eine Errungenschaft ist, die unsere Verfassung von Willkürregimen und Volksgerichtshöfen unterscheidet? Warum tutet er stattdessen ins Horn von Populisten und macht sich der AfD anheischig? Warum hat er nicht diesen Fall dazu benutzt, um deutlich zu machen, dass die Forderungen nach “kurzem Prozess”, rigoroser Abschiebung ohne Urteil, genau die Verluderung unserer europäischen Rechtssysteme bedeuten würde, wie sie die AfD, Wilders, Meloni, Orban, Kickl (FPÖ) und andere Antidemokraten fordern?
Kanzler ohne Rückgrat?
Wieso hat ein sozialdemokratischer Bundeskanzler im Jahr 2024 nicht genügend Rückgrat, an diesem schrecklichen Beispiel zu erklären, was unser Rechtssystem von Willkürregimen und korrupten Rechtssystemen wie in Italien, Ungarn, Polen, Serbien, Rumänien, Bulgarien, der Türkei und natürlich Russland und Belarus unterscheidet? Was sollen denn gerade diejenigen denken, die noch oder wieder schwankend geworden sind, ob der rechtsextremistischen Eskapaden von Höcke, Weidel und Co., die schwankend geworden sind, ob sie lieber doch NICHT die AfD wählen sollten? Was werden sie tun, wenn der Chef der Ampelregierung sich der gleichen dummen und einfach falschen Parolen der Scheinlösungen bedient, wie Rechtsextremisten? Chance vertan, setzen, 6 minus, Herr Kanzler!
Grundrechte achten, anstatt sie populistisch zu verleugnen
Wäre ich Sozialdemokrat, müsste ich mich doppelt für den Kanzler schämen, als Grüner und Bürgerrechtler muss ich mich ebenso für einen Kanzler schämen, der einer Koalitionsregierung vorsteht, die unter allen furchtbareren Alternativen derzeit nun wirklich das kleinste Übel darstellt. Ist es denn so schwer, aus der Erfahrung zu lernen, dass es den bürgerlichen Parteien noch kein einziges mal genützt hat, den Parolen der Rechten nachzueifern? Nicht 1992-95, nicht 2015/16 und auch heute nicht. Es ist politikwissenschaftlich und demoskopisch erwiesen, dass rassistische Übergriffe, Fremdenfeindichkeit und Gewalt gegen Minderheiten immer dann anwachsen, wenn Parteien der demokratischen Mitte die Parolen der Neonazis nachbeten. Das hat die CDU/CSU und Teile der SPD in den 90er-Jahren gemacht, das hat die CSU 2015/16 gemacht und das wiederholen Merz, Söder und nun auch der Kanzler aktuell ebenso. Schimm ist, dass inzwischen nicht einmal mehr die Grünen dagegen halten, sondern die verfassungswidrigen Pläne von Asylverfahren an den EU-Aussengrenzen opportunistisch unterstützen. Dabei ist nicht nur zu erwarten, dass diese Pläne entweder faktisch mangels Bereitschaft von Drittländern und an den himmelschreienden Kosten oder juristisch am Bundesverfassungsgericht scheitern werden.
Lügen, Halbwahrheiten und Mutlosigkeit fallen auf die Politik zurück
Der politische Schaden, der dadurch entsteht, dass etwas vorgeblich beschlossen wird, was in der Praxix niemals funktionieren kann, es sei denn, Deutschland würde sich aus dem Kreis der zivilisierten und die Europäische Menschenrechtskonvention achtenden Völkergemeinschaft verabschieden. Das muss Scholz als Jurist wissen. Dass er trotzdem mutwillig die Unwahrheit sagt und nicht nur eine fadenscheinige Illusion aufbaut, die spätestens bei der Bundestagswahl in sich zusammenfallen wird, ist politischer Selbstmord aus Angst vor dem Tod. Dass die jährlichen fünfstelligen Abschiebezahlen aus rechtlichen Gründen nicht wesentlich zu steigern sind, will man nicht, wie die AfD-Faschisten, den Rechtsstaat schleifen, wird früher später auf seine Aussagen zurückfallen. Die Politikverdrossenheit wird das nur noch mehr stärken. Vor der nächsten Wahl wird SPD und CDU noch weniger geglaubt werden, das rassistische Geschrei der AfD noch mehr verfangen.
Was tun? (Lenin)
Deutschland braucht auf absehbare Zeit etwa 400.000 Einwander*innen pro Jahr, um den Lebensstandard, die Produktivität unserer Wirtschaft und die Sozialsysteme aufrecht zu erhalten. Es ist völlig illusorisch, dass eine solche Zahl von Menschen über das von Koalition geschaffene, höchst bürokratische und hasenherzige “Fachkräfte-Einwanderungsgesetz” nach Deutschland kommen werden. Warum sollen Menschen aus Drittländern, die von den Ministern der Ampel umworben werden, die hohen Hürden – allein der deutschen Sprache – auf sich nehmen? Wer aus dem Senegal oder Kamerun kommt, spricht französisch und wird dorthin gehen wollen. Englischsprachige Inder*innen und Afrikaner*innen nach Großbritannien oder den USA. Südamerikaner*innen nach Spanien oder Portigal. Präsident Lula hat erst in der vergangenen Woche erklärt, den bei Minister Heils Besuch postulierten Überschuss an Pflegekräften in Brasilien gebe es gar nicht. In Albanien – selbst an der Schwelle zum Beitrittskandidat der EU – werden derzeit systematisch hunderte Altenpfleger*innen für Deutschland ausgebildet, fehlen aber im eigenen Land. Dasselbe gilt für Vietnam oder Thailand.
Asylverfahren vermeiden, Alternativen anbieten
Eine realistische, mutige Einwanderungspolitik würde den hierher geflüchteten Menschen ein Angebot machen, der zum Teil jahrelangen und aussichtsarmen Weg des Asylverfahrens zu vermeiden, indem sich diese Personen nach einer Prüfung ihrer Vorbildung und Fähigkeiten verpflichten, eine Einwanderungsvereinbarung zu unterzeichnen, die sie zum unverzüglichen Spracherwerb und Arbeit von der ersten Woche des Eintreffens verpflichtet und nach einer zu definierenden Frist und Straffreiheit die Möglichkeit zur Einwanderung in Aussicht stellt. Zu diesem Zweck sollten Migrationsschulen ähnlich oder auch in Kooperation mit den Berufsschulen errichtet werden, die zum einen die Ausbildung in Mangelberufen organisiert oder vermittelt, neben der Sprache politische und kulturelle Grundlagen, Verfassungs- und Rechtsgrundlagen unserer Demokratie vermitteln und empfindliche Bußgelder oder Vertragsstafen und den Verlust dieses Migrantenstatus bei Verstößen gegen diese Regeln vorsieht. Begleitet mit der Unterbringung in dezentralen, arbeitsnahen Unterkünften, bei deren Errichtung die Kommunen massiv unterstützt werden müssten. Das würde bedeuten, die Zahl der freiberuflichen und ehrenamtlichen Lehrkräfte in diesem Bereich drastisch ausbauen, mehr Geld als bisher in die Hand zu nehmen, das sich aber auch viel schneller rechnen würde. Nur dieser mutige Schritt würde schneller als bisher dem Mangel an Fachkräften, aber auch an ungelernten Kräften in der Gastronomie und anderen Mangelbereichen zu begegnen und die zähen und zum Teil jahrelangen Asylverfahren beenden.
Mut, die Probleme zu benennen und zu lösen
Der Gedanke ist im Prinzip nicht neu: Die “Spurwechsel”-Initiative, die z.B. der baden-württembergische Ministerpräsident Kretschmann gemeinsam mit Unternehmern vor einigen Jahren für langjährig integrierte Flüchtlinge erfolgreich angestoßen hat, beruht auf demselben Grundgedanken. Nur, dass es in diesem Falle um den Mut ginge, einen Vertrauensvorschuss zu geben und viel schneller zum gemeinsamen Ziel zu kommen, Wohlstand zu sichern und Migration in berechenbare Bahnen zu lenken. Eigentlich eine klassische Win-Win-Situation, die aber erfordert, von den rechten Parolen der sozialen Spaltung und des völkischen Rassismus mit Mut und Entschlossenheit tatkräftig entgegen zu treten.
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