Sie wissen nicht, was sie tun – Ein Realitätscheck ausgewählter Aussagen zum Ukraine-Krieg, Russland und den Wahlen zum Europäischen Parlament

Denn sie wissen nicht, was sie tun. Mir erscheint das wie eine Beschreibung vorherrschender Politik. Sie ist nicht in der Realität geerdet und trägt Züge von Sektenglauben. Man stirbt lieber, als dem Guru abzuschwören, der Lebensorientierung vorgaukelt. Das politische Ziel ist klar: die Bewahrung der US-Hegemonie, die Weltbeherrschung nach den Vorgaben des US-Dirigenten. Der spirituelle Guru bestimmte das zur geschichtlichen Aufgabe und definiert gleichzeitig, wie Vergangenheit war und Zukunft zu sein hat.

Leider sind da immer noch spirituell Abtrünnige, also unaufgeklärte oder gar gegnerische Akteure, die sich nicht an die Vorgaben halten und alles versauen. In Deutschland, in Europa, in der Welt. Besagter Guru hat viele Jünger und einige sind im Folgenden ausgewählt.

Vor dem “Nerven” Fakten lernen

Frau Strack-Zimmermann wählte einen Ausschnitt aus einem Wahlkampfauftritt vom 7. Juni 2024, den Phoenix twitterte, auch für ihre Kommunikation auf X. Sie sprach über den Auftritt von Putin auf der Münchner Sicherheitskonferenz, angeblich 2008. Da habe er schon vom Großrussischen Reich, mit Belarus und der Ukraine, gesprochen. Sie beklagt, dass der Westen nichts gemacht hätte 2014, auch zu den 15.000 Toten in der Ukraine geschwiegen hätte. Diese gingen nach ihrer Erzählung aufs russische Konto.

Nach eigenem Bekunden „nervt“ sie gern. Bevor sie in der Öffentlichkeit weiter „gerne nervt“, sollte sie die Fakten kennen. 2007 war Putin in München und hat dort eine Rede gehalten, in der die Worte Ukraine, Belarus, russisches Reich nicht fielen (Faktencheck einer pdf mithilfe der F-Funktion möglich). Im April 2014 begann die ukrainische Übergangsregierung die ATO, also das militärische Vorgehen gegenüber dem Donbass. In der Folge starben die von Frau Strack-Zimmermann erwähnten Ukrainer. Wer hat für sie im Februar 2022 gesprochen? War es a) der ukrainische Präsident, b) der deutsche Bundeskanzler oder c) der russische Präsident? Es gibt nur eine richtige Antwort auf diese Frage.

„The formerly Russian-occupied parts of Germany want to be Russian-occupied again. 45.7% voted for pro-Kremlin, anti-European parties that want to leave NATO and join a Russian-led security apparatus. 41.5% voted for govt. coalition parties and the main opposition party.“ Das twitterte Julian Röpcke, leitender Redakteur für Sicherheitspolitik und Konflikte bei BILD. auf X am 9.6. 2024, in englischer Sprache, um global verstanden zu werden. Sein Twitterprofil: ukrainische Flagge; (Anmerkung: keine deutsche oder EU-Flagge danebengestellt)

Leitender Redakteur Sicherheitspolitik und Konflikte@Bild;

„Twitter-Feldherr des Tages“ @jungewelt;

Nur meine Meinung; Waffenlieferungsultra.

Herr Röpcke ist in verantwortlicher medialer Position. Dass die DDR nie von Russland okkupiert wurde, scheint er nicht zu wissen. Die Wahlentscheidung von ostdeutschen Wählern als Entscheidung für eine russische Okkupation zu deuten, kommentiert sich von selbst. Dass darauf kein Politiker des Mainstreams reagierte und das scharf zurückwies, macht mich fassungslos. Zündlern am deutschen Einigungsprozess, der nicht beendet ist, sollte immer widersprochen werden. Und zwar deutlich. BILD sollte darüber hinaus an seinem Kodex arbeiten, der sich leider nur auf Partnerländer Deutschlands konzentriert. Vergiftung ist auch innenpolitisch möglich. Aber offenbar ist ein „Waffenlieferungsultra“, der einen Teil seiner Landsleute abartig verunglimpft und eine ukrainische, aber weder eine deutsche oder eine EU-Flagge im Profil hat, unproblematisch. What a disgrace.

“Wir werden Russland noch einmal so niederringen müssen”

„Aber wir werden Russland noch einmal so niederringen müssen, wie wir das im Kalten Krieg mit der Sowjetunion gemacht haben. Putin muss erkennen, wie ernst wir es meinen“. Mit dieser Behauptung kürte Sigmar Gabriel (SPD) sein Interview mit Stern zum Ukraine-Krieg. Da half es wenig, dass er parallel auch Verhandlungen forderte.

Wer sind denn „wir“? Wann wurde durch dieses „wir“ die Sowjetunion niedergerungen? Und was heißt „Russland noch einmal niederringen“? Weil das bis Ende der 90er Jahre nicht klappte? Interviews werden autorisiert in Deutschland. Damit kann sich keiner mit einem sprachlichen Lapsus herausreden. Zum geschichtlichen Nachhilfeunterricht im Eiltempo sei Sigmar Gabriel eine Aufzeichnung aus dem Jahr 2011 empfohlen, die sich mit den inneren Ursachen der Auflösung der Sowjetunion beschäftigte. Sie ist zwar nicht ganz komplett in der Fragestellung (Krise oder Selbstmord?), aber für den Anfang ganz tauglich.

Anton Hofreiter (Grüne), man könnte auch ihn als einen „Waffenlieferungsultra“ ansehen, war am 11. Juni 2024 zu Gast bei Markus Lanz. Obwohl ihn Oberst a.D. Wolfgang Richter einmal unterbrach und einen Realitätscheck verlangte, und Lanz sogar nachfragte, spulte er zu den Gründen, warum Putin der sei, der am Eskalationshebel säße, das folgende ab: „Man hat ihm (Anm.: Putin) 2008 in Georgien nachgegeben, man hat ihm 2014 in der Ukraine nachgegeben, man hat ihn 2015 in Syrien handeln lassen, und das hat ihn zur Überzeugung gebracht, dass der Westen am Ende auch akzeptieren wird, wenn er sich 2022 die gesamte Ukraine holt….“ (ab Minute 53:00; über Naivität und das westliche „Nachgeben“ gegenüber Putin)

Wie konnte der Westen Putin im Fall Georgien nachgeben, wo doch die Verantwortung für den Kriegsausbruch bei Georgien lag? Der Westen hat ganz klar auf die Annexion der Krim reagiert, sie nicht anerkannt und scharfe Sanktionen erlassen. Was hätte er noch tun sollen? Auf in den Krieg gegen Russland? Das hätte der damalige Nato-Oberbefehlshaber, General Breedlove gern gesehen, denn der übertrieb mit Absicht die russische Rolle in der Ost-Ukraine, mit Hilfe windiger Quellen, gestützt auf ukrainische Ultranationalisten. Mit von Partie war auch Victoria Nuland. Der Spiegel legte das damals offen. Heute sind die damaligen markigen Thesen von Breedlove im Mainstream angekommen.

Arme Studenten in Leipzig

Was waren die Ziele der Abkommen von Minsk I und II? Waren diese Abkommen der Versuch einer friedlichen Lösung, um den Donbass in der Ukraine zu halten, und wer hat den hintertrieben? Russland oder der Westen? Wenn man natürlich dem Osteuropa-Experten Wilfried Jilge am 14.6. 24 im Interview beim Deutschlandfunk folgt, dann war der Minsker Prozess leider ganz schlecht durchdacht, nicht gut vorbereitet und das Opfer der russischen Aggression (Ukraine) musste die „Bringschuld“ leisten. Das soll nun mit der Schweizer Friedenskonferenz und erneuten militärischen Siegen der Ukraine ganz anders werden. Jilge ist Lehrbeauftragter an der Universität Leipzig, sagt Wikipedia. Da kann ich nur sagen: arme Studenten und armes Land, in dem die Desinformation blüht und gedeiht, nur entfleucht sie nicht russischen Mündern.

Hofreiters bemerkenswerteste Aussage fiel zu Syrien. Wie hätte denn der Westen Putin von der Entscheidung abhalten können, einem formellen Gesuch von Syrien um militärische Unterstützung, nachzukommen? Das würde mich brennend interessieren. Nebenbei: Damals gab es berechtigten Grund zur Sorge, dass ISIS das Assad-Regime stürzen könnte. Wer spekulierte exakt auf diese Konstellation und unterstützte auch noch die sogenannten „Rebellen”? War das Russland, oder waren das die westlichen Mächte, allen voran die USA? Auch Herr Hofreiter braucht dringend Nachhilfeunterricht in Sachen geopolitischer Interessen, machtpolitischer Winkelzüge und nicht zu vergessen, auch der UN-Charta. Syrien ist bis heute eine unvollendete regime change Operation des Westens (laut New York Times der „eine Milliarde teure geheime Krieg der CIA“) und kein Ruhmesblatt.

FR: Die Stöckelschuhe der First Ladies bedeutender als die D-Day-Veteranen

Die Frankfurter Rundschau wiederum beglückte ihre Leser mit einem Artikel zur Geschichte des D-Day. Das ist ein hochspannendes Thema, aber so wie diese Geschichte zwischen 1984 und 2024 präsentiert wurde, verkam sie zum ideologischen Holzhammer, handwerklich und geschichtlich verpfuscht. Es begann schon damit, dass Präsident Reagan Worte in den Mund gelegt wurden, die dieser im Jahr 1984 nicht aussprach. Unterschlagen wurde, was Reagan damals tatsächlich der Sowjetunion anbot: die doppelte Null-Lösung (Abschaffung aller Atomwaffen). Und so setzte sich das im Artikel fort, mit einem weiteren Höhepunkt im Jahr 2014. Aha, Putin war also damals der Betrüger, den Hollande durchschaute. Dass die Veteranen und eigentlichen Helden dieses Tages im ganzen Artikel überhaupt keine Rolle spielten, wohl aber die Stöckelschuhe von First Ladies, kam nur obendrauf. Der Autor bzw. seine Redaktion hätten besser die entsprechenden Berichte des Guardian zum D-Day 2009 bzw. die der Deutschen Welle aus dem Jahr 2014 gelesen, von der Reagan-Rede ganz zu schweigen. Aber dann wäre der Artikel nie in dieser Form erschienen. Oder doch?

Zum Jahr 2004 fand ich die folgenden Sätze: „´Wo militärisches Eingreifen nötig ist, entzieht sich Deutschland seiner Verantwortung für Frieden und Menschenrechte nicht.´ Dass sich diese Haltung Deutschlands einmal gegen seinen Freund Putin richten würde, ahnte Schröder wohl nicht.“ Sind wir 2024 im Verhältnis zu Russland, personalisiert in Gestalt von Putin, also schon beim „wo militärisches Eingreifen nötig ist“ angelangt? Ist das die „Haltung Deutschlands“? Noch nicht ganz. Noch geht es „nur“ um Waffenlieferungen. Aktuell gilt, dass wir uns kriegstüchtig machen sollen für einen möglichen Angriff Russlands auf Nato-Staaten. „Pistorius warnt vor Putins Kriegsplänen – ‘Russland kann 2029 angreifen’“ titelte die Frankfurter Rundschau.

Immer zahlten viele Unschuldige den Preis für eine Politik, die Diplomatie und Verständigung für „Nachgeben“ hält, die Stärke mit militärischer Macht gleichsetzt und anderen nur das zutraut, was sie selbst betreibt.

Das wird nun auch landauf und landab gepredigt. Das habe Putin schon immer gesagt. Es gibt keine einzige Rede Putins, aus der solche Absichten auch nur im Ansatz hervorgehen. Niemand wird konkret, denn konkret haben wir nur die Erklärung Putins, dass er keine derartigen Absichten habe. Aufgebracht wurde die ganze Theorie vom US-Präsidenten Ende 2023. Der machte die Argumentationslinie auf, dass eine Niederlage in der Ukraine dazu führe, dass Putin danach die Nato angreifen würde. Um das zu verhindern, dürfe Putin in der Ukraine nicht siegen. Das ist die Logik aggressiver Politik: Wenn die Ukraine militärisch verliert, an deren Seite die Nato kämpft, dann ist das auch eine militärische Niederlage der Nato. Das macht Russland stark und ermutigt China. Also will die Nato nicht verlieren.

Plump ausgedrückt ist es die Logik von Leuten, die nur militärische Mittel zur Verwirklichung von Interessen kennen und obendrein noch so vergesslich sind, dass sie nicht mehr wissen, wie das in all den Jahren seit dem Vietnam-Krieg endete: immer in der Niederlage, immer im Desaster. Immer zahlten viele Unschuldige den Preis für eine Politik, die Diplomatie und Verständigung für „Nachgeben“ hält, die Stärke mit militärischer Macht gleichsetzt und anderen nur das zutraut, was sie selbst betreibt. Die angeblich nur aggressiv aus edlen Motiven ist, aber bei jedem anderen Zeter und Mordio schreit, wenn der sich (ausnahmsweise) der gleichen Mittel bedient. So wird Völkerrecht ruiniert, aber nicht ein Problem gelöst. Wie kann man verlangen, den Aggressor und das Opfer an einen Verhandlungstisch zu setzen, fragte Yermak, die graue Eminenz in Kiew, kürzlich. So, als hätte Kiew keine Aktien in der ganzen Tragödie, als hätten die Ukraine und Russland nicht im Frühling 2022 verhandelt.

Ein bisschen Realität von Senator Lindsay Graham

Vielleicht hilft es, um in europäische Hirne ein bisschen Realität zu spülen, auf einen tweet von Senator Lindsay Graham hinzuweisen. Der ist ganz ungeniert ein Kriegstreiber, und wo immer sich ein Krieg am Horizont abzeichnet, ist er gern an vorderster propagandistischer Front. Der trat am 9. Juni bei Face the Nation auf und twitterte die ihm liebsten Passagen. Zur Ukraine las sich das wie folgt: “Ukraine has trillions of dollars worth of critical minerals in their country. Vladimir Putin cannot be allowed to access that money and those resources because he will share it with China.” (Die Ukraine verfügt über wichtige Bodenschätze im Wert von Billionen von Dollar. Wladimir Putin darf kein Zugang zu diesem Geld und diesen Ressourcen gewährt werden, denn er wird sie mit China teilen.)

Souveränität, Integrität, Demokratie, Menschenrechte, Friedensordnung? Oh nein, Ressourcenverfügung! Wie würde Graham erst triumphieren, wenn der große natürliche Reichtum Russlands seinen Sponsoren in den Schoß fiele! Deutschland und die EU sollten jedenfalls keine Allianz damit eingehen – das fand schon der geopolitische Schachspieler Brzeziński eine grauenhafte Vorstellung, und als sie energiepolitisch Wirklichkeit wurde, wurde Nord Stream schlussendlich kaputtgeschlagen.

Im Fall der Ukraine (und Georgiens) warnte Russland die Nato jahrelang, keine “roten Linien” zu übeschreiten. Sicherheitspolitisch sei das nicht akzeptabel. Es wollte Verhandlungen. Der Westen lebt in der Fiktion, wir hätten mit alledem, was zum Krieg in der Ukraine führte, nichts zu tun und verklärt ein militärisches Bündnis zum Kaffeekränzchen der lieben Tante Erna von nebenan. Nun kratzt die Nato aktuell zusammen, was sie militärisch noch hergeben kann und rüstet sich schon zur nächsten Schlacht. Sie hat ja schon geübt, wie man Kaliningrad bombardieren könnte. Das war im Jahr 2020.

Positionierung im Schwarzen Meer

2016 beschwerte sich General Breedlove, damals noch Nato-Oberkommandierender in Europa, über das „wachsende Problem“ der russischen militärischen Positionierung im Schwarzen Meer. Russland hätte starke A2/AD Kapazitäten entwickelt. Für alle militärischen Laien: A2/AD ist eine Verteidigungsstrategie. Sie zielt darauf ab, einen potentiellen Angreifer am Zugang zum eigenen Territorium zu hindern bzw. dessen Bewegungsmöglichkeiten im Territorium einzuschränken. Russische Verteidigungsmaßnahmen trieben die „liebe Tante Erna“ ziemlich um. Und warum das alles?

Sieger glauben, sie brauchen nichts zu wissen

Weil der Westen glaubt, der geschichtliche Sieger zu sein, von der Auffassung beseelt ist, „auf höheres Geheiß auf der Erde zu wandeln“ (Zitat: Gorbatschow, Rede vor der UNO-Generalversammlung 1988). Daraus wird der Glauben bezogen, alles Recht zu haben, global die anderen wie Puppen tanzen zu lassen. Auch die Ukraine ist so eine Puppe, die aktuell als Stellvertreterkrieger verblutet. Denn diese Siegesmentalität vergiftet alles. Sie huldigt angeblich dem Regenbogen, aber Diversität in der internationalen Politik kennt sie nicht. Da gibt es nur Schwarz und Weiß.

Sieger glauben, sie brauchen nichts zu wissen, glauben, sie müssten sich nicht mit Sichtweisen anderer beschweren oder gar verstehen, wie andere denken und auf sie blicken. Wenn andere sie nicht so sehen, wie sie sich selbst sehen, sind die anderen schuld. Sieger verhandeln nicht, sie sind die Geschichte. So denken, reden und handeln sie – bis zur Katastrophe. „Dr. Seltsam“ lässt grüßen.

Gott möge ihnen vergeben. Ich muss es nicht.

Dieser Beitrag ist eine Übernahme aus dem Blog der Autorin, mit ihrer freundlichen Genehmigung.

Über Petra Erler / Gastautorin:

Petra Erler: "Ostdeutsche, nationale, europäische und internationale Politikerfahrungen, publizistisch tätig, mehrsprachig, faktenorientiert, unvoreingenommen." Ihren Blog "Nachrichten einer Leuchtturmwärterin" finden sie bei Substack. Ihre Beiträge im Extradienst sind Übernahmen mit ihrer freundlichen Genehmigung.