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“Erdrutschsieg”?

UK: Stabilität – nirgends

Deutsche Nachrichtenagenturen mutmassen vielleicht, das Publikum könne sowieso nicht lesen. Oder sei mindestens zu faul dazu. Ich dagegen bin von Lesesucht geplagt. Und ertrage es nicht mehr, in der deutschen Wahlberichterstattung über fremde Länder beständig für dumm verkauft zu werden. Hiesige Nachrichtenmedien konstruieren Dualismus, den es bisweilen, z.B. im dysfunktionalen US-Wahlsystem, tatsächlich gibt. In den Gesellschaften des real existierenden Kapitalismus gibt es dagegen Segmentierung, Diversifizierung, Unübersichtlichkeit und zahllose politische Komplikationen. Darüber unterrichtet zu werden ist deutsches Publikum – Bildungskatastrophe? – zu doof. Wird mindestens von seinen professionellen Vermittler*inne*n dafür gehalten.

Dabei ist es nicht schwer zu verstehen – nur schwer politisch zu behandeln. Der vielbejubelte Labour-Spitzenmann Keir Starmer hat einen geradezu lächerlichen Stimmengewinn von +1,6% gegenüber dem 2019 schwer geschlagenen und geschmähten Jeremy Corbyn eingefahren. Eine weite gesellschaftliche Öffnung einer Partei gegenüber angeblichem linken Sektierer*innen*tum zuvor – oder gar einen “Erdrutschsieg” hätte ich mir anders vorgestellt. Der Erdrutsch ist ausschliesslich – und ähnlich dysfunktional wie in den USA – dem irren Mehrheitswahlrecht geschuldet. Ein Drittel der Wählenden – über die Wahlbeteiligung finde ich noch keine Daten – bestimmen also die Alleinregierung. Demokratie?

Das Problem sind die britischen Faschist*inn*en, angeführt von dem unerträglichen Nigel Farage. Sie bekamen zwar nur 4 Sitze, aber über 14% der abgegebenen Stimmen. Sie haben also bei ausrechenbarer Aussichtslosigkeit einen höheren Stimmenanteil erobert, als er hierzulande aktuell noch der grünen Regierungspartei zugetraut wird. A propos Grüne: schöner Erfolg +4% auf knapp 7, aber auch nur 4 Sitze.

Die am britischen Wahlrecht schmerzhaft geschulten LibDems legten kaum zu, aber eroberten über 70 Sitze mit weniger Stimmen als die Rechten. Grössere gesellschaftliche Basis als die FDP, aber weit weniger Macht. Die britischen Liberalen sind das Leiden gewöhnt. Und vielleicht macht es sie sogar stärker als die Dösbaddel in Berlin. Gelegentlich positionieren sie sich inhaltlich sogar links von Labour (nicht bei Corbyn – aber bei Starmer durchaus möglich).

Fazit: England funktioniert gesellschaftlich auch nicht anders als EU-Europa. Jedenfalls nicht besser. Es irrt nur mehr.

Über Martin Böttger:

Martin Böttger ist seit 2014 Herausgeber des Beueler-Extradienst. Sein Lebenslauf findet sich hier...
Sie können dem Autor auch via Fediverse folgen unter: @martin.boettger@extradienst.net

Ein Kommentar

  1. W Nissing

    Ich bin kein Fachmann für das englische Wahlsystem. Nach dem französischen System was ja auch nach Mehrheitswahlrecht funktioniert, hätte ein deutsches Verhältnissystem angewandt, in der Vergangenheit keine so gravierenden Auswirkungen auf die Zusammensetzung gehabt. Man hat die Ergebnisse mal danach umgerechnet.
    Zu Sonntag habe ich hier eine interessante Überlegung/Hypothese gefunden. Da “Regards” zwar ein “insumisenfresser” sind und ihr Mütchen gegenüber Melenchon immer knapp unter der Kernschmelze läuft (ähnlich wie hier im Blog ja auch ggü von Wagenknecht 😉 ) kann ich das Resümee mit schmunzeln ertragen.
    Wer sich jetzt nicht den ganzen Text Deepln will verrate ich mal das Ergebnis…..
    eine grüne Ministerpräsidentin Marine Tondelier

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