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Deutsche in Lateinamerika

„Flucht aus Europa! Früher flüchteten die Menschen nur aus sogenannten armen Dritte-Welt-Ländern in die reichen Länder Europas oder USA. Seit einiger Zeit jedoch gibt es einen umgekehrten Trend. Der Hintergrund: Immer mehr Menschen strecken sich nach Freiheit, Unabhängigkeit, Schutz und Zuflucht aus und wandern deshalb in ärmere Länder aus! Eines davon ist Bolivien!“ Auf der Website von Zufluchtsort.com endet fast jeder zweite Satz mit einem alarmierenden Ausrufezeichen. Kein Wunder: Kriege und Krisen bedrohen die Alte Welt, außerdem: „EU-Diktatur, Islamisierung, Gender-Wahnsinn, moralischer Verfall der westlichen Zivilisation, Insektennahrung und Laborfleisch, hohe Benzinpreise, experimentelle Impfungen, 5G-Verstrahlung, übermäßiger Feminismus“. Es wird gehetzt. AfD, Freie Wähler, CSU, Merz und Co. lassen grüßen. Der rettende Ausweg: „Sichern Sie sich JETZT Ihren Zufluchtsort – besser zehn Jahre zu früh als einen Tag zu spät!“ Wer das nötige Kleingeld und keine Scheu davor hat, lauter Menschen solcher Gesinnung in der Nachbarschaft zu haben, kann sich also eine Parzelle im Hinterland von Santa Cruz ergattern (und inständig hoffen, dass das Ganze keine Betrugsmasche ist). Der Zufluchtsort soll nicht nur zu einem „autarken Zufluchtsort in Krisenzeiten werden, sondern auch zu einem deutschsprachigen ökotouristischen Ferienresort“. Kurz: „Es wird ein Traum auf dem Land werden, fernab von Hektik und Stress der Zivilisation!“ Ganz in der Nähe des Projektortes versuchte übrigens in den 1960ern Ernesto „Che“ Guevara (erfolglos), die Revolution nach Bolivien zu tragen. „Offenbar hatte er die strategische Lage unseres Hochplateaus als einen wahren Zufluchtsort erkannt!“, schwärmt die Website. Was für eine krude Mischung.

Die Betreiber*innen solcher zeitgenössischer Auswanderungsprojekte – in Paraguay gibt es etwa das „Grüne Paradies“ mit verblüffend ähnlichen Visionen – sind dabei zweifellos geschichtsvergessen. Migration hat es schon immer gegeben. In alle Richtungen.

Die Ende Juni 2024 in Kraft getretene Reform des Staatsangehörigkeitsrechts in Deutschland trägt dem Rechnung. Sie erleichtert Einbürgerungen und macht den Doppelpass zum Standard. Das ist zeitgemäß und einer modernen Einwanderungsgesellschaft angemessen.

Migration wird es immer geben. Auch wenn ein bayrischer Christ einst darin „die Mutter aller Probleme“ gesehen und damit bewiesen hat, wie nah die bürgerliche „Mitte“ an den Problemlösungsansätzen der Rechtsextremen dran ist, die die Einwanderung für alle Probleme unserer spätkapitalistischen Welt verantwortlich machen.

Migration ist vielmehr die Mutter aller Möglichkeiten. Im 19. Jahrhundert wanderten die Menschen massenhaft aus verschiedenen deutschsprachigen Regionen (das Deutsche Reich gründete sich erst 1871) nach Südamerika aus. Auf dem Land herrschte Hunger, die Menschen hofften auf bessere Lebensbedingungen und einen Neustart auf einem anderen Kontinent. Heute würden sie als Wirtschaftsflüchtlinge bezeichnet. Wer gut ausgebildet war, wurde mit offenen Armen empfangen, wie das Beispiel Bolivien zeigt. Heute würde man sie Fachkräfte nennen. Der immer noch weit verbreitete gute Ruf von deutschen Produkten sowie handwerklichen und Ingenieursleistungen reicht bis in diese Zeit zurück.

Auch politisch mischten Ausgewanderte aus deutschen Landen in ihren Aufnahmeländern mit. Das zeigen etwa der Arbeiterverein und die gleichnamige Zeitung „Vorwärts“ in Buenos Aires, gegründet und betrieben von deutschen Sozialdemokraten, denen das Bismarckreich zu feindselig geworden war. Oder die beiden Deutsch-Nicaraguaner Carlos Tünnermann und Enrique Schmidt Cuadra, die sich beide in die einstmals revolutionäre FSLN einbrachten. Der kürzlich verstorbene Tünnermann war zuletzt in der Opposition gegen das heute autoritär-diktatorische Ortega-Regime aktiv.

Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg sorgten für weitere Auswanderungswellen. Vor allem in Argentinien fanden Zehntausende deutschsprachige Juden und Jüdinnen Zuflucht. Nach 1945 mussten sie dann quasi Tür an Tür mit ihren ehemaligen Verfolgern leben, da sich NS-Verbrecher über die sogenannte Rattenlinie nach Südamerika in Sicherheit gebracht hatten.

In Uruguay haben „die Deutschen“ vor allem mit dem Sprach- und Kulturzentrum Casa Brecht kulturpolitische Spuren hinterlassen. Die einst zu DDR-Zeiten gegründete Institution feiert übrigens dieses Jahr ihr 60-jähriges Bestehen – wir gratulieren herzlich!

P.S. Mit dieser Ausgabe verabschiedet sich die ila-Redaktion in die Sommerpause. Die nächste ila erscheint Mitte September. Allen unseren Leser*innen wünschen wir einen erholsamen Sommer. Mit gutem Wetter und angenehmer Nachbarschaft.

Dieser Beitrag ist eine Übernahme aus ila 477 Juli/Aug. 2024, hrsg. und mit freundlicher Genehmigung der Informationsstelle Lateinamerika in Bonn. Weitere Texte folgen in den nächsten Tagen.

Über Informationsstelle Lateinamerika (ILA):

Die Informationsstelle Lateinamerika e. V. (ila) ist ein gemeinnütziger Verein mit Sitz im Oscar-Romero-Haus in Bonn. Das Ziel des Vereins ist die Veröffentlichung kritischer und unabhängiger Informationen aus Lateinamerika. Der Schwerpunkt liegt auf Nachrichten und Hintergrundinformationen aus basisdemokratischer Perspektive. Die Informationsstelle Lateinamerika begreift sich als Teil der politischen Linken und engagiert sich in übergreifenden politischen Bündnissen wie der Friedens- und Antikriegsbewegung oder Attac. Der Verein besteht seit 1975 und gibt die gleichnamige Zeitschrift ila heraus. Alle Beiträge im Extradienst sind Übernahmen mit freundlicher Genehmigung.

Ein Kommentar

  1. Martin Böttger

    Passend dazu die taz-Karikatur von heute, in der Annalena Baerbock als Bundesaussenministerin zu einer senegalesischen Gesprächspartnerin spricht: “Wir kürzen die Entwicklungshilfe und konsolidieren den Haushalt – dann flüchten nicht mehr so viele Deutsche nach Afrika!”

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