10 Jahre nach der Katastrophe von MH 17 – Ein Meilenstein im Krieg
Über Desinformation, Manipulation und politischen Missbrauch einer Tragödie
Heute vor 10 Jahren starben 298 Menschen beim Abschuss von MH 17. Es ist unstreitig, dass diese Tragödie die größte internationale zivile Einzelkatastrophe war, die sich direkt aus den bewaffneten Kämpfen zwischen der Kiewer Zentralregierung und den „pro-russischen Separatisten“ des Donbass ergab. Gemeint ist die ATO, die Anti-Terror-Operation, die im April 2014 von der Kiewer Zentralregierung begonnen wurde. Laut dem ukrainischen Innenminister wurde sie vom ukrainischen Inlandsgeheimdienst beaufsichtigt.
Die ATO war alles in allem der hochgefährliche Versuch, den politischen Widerstand im Osten der Ukraine gegen den Kiewer Machtwechsel militärisch niederzuschlagen, statt die Spaltung des Landes mit politischen und diplomatischen Mitteln zu überwinden.
Abwesenheit von Menschlichkeit
Was die MH-17-Katastrophe von Anfang an politisch so besonders machte, war die Abwesenheit von Menschlichkeit. Selbstverständlich gab es formelhafte, angeblich mitfühlende Erklärungen. Aber nicht in den ersten bekannten Reaktionen aus der Ukraine. Alle Welt schien mit nichts anderem beschäftigt, als sich instinktiv auf die Schuldfrage zu konzentrieren – Findet den/die Täter! Und instinktiv lautete damals auch die umgehende Antwort: Russland war es!
Präsident Obama hatte noch in erster Reaktion von einer „Tragödie“ gesprochen, Vizepräsident Biden allerdings behauptete umgehend einen „absichtlichen Abschuss.“ Am 20. Juli 2014 erklärte dann der US-Außenminister gegenüber allen wichtigen Medien: Wir haben alles gesehen. Wir wissen, wer es war, und selbstverständlich waren es die „pro-russischen Separatisten“. Kiew dagegen platzierte die Schuldfrage sofort bei Russland, nur Minuten nach dem Unglück. Als erster berichtete der damalige Mitarbeiter des Innenministers Anton Geraschtschenko auf Facebook.
Das fiel mir damals als erstes auf. Es gab nicht den Moment des erschrockenen Innehaltens oder gar der entschlossenen Entscheidung, diesen Bruderkrieg auf ukrainischem Boden nunmehr unbedingt zu stoppen. Es schien schlicht nicht auszureichen, dass 298 Menschen das Unglück hatten, über ein Kriegsgebiet zu fliegen und nun nicht mehr waren. Es schien irrelevant, dass es Menschen gab, die sie zum Abflug begleitet und hinterhergewunken hatten, und andere Menschen, die ihre Ankunft erwarteten.
Beginnend mit dem Unglückstag wurde intensiv darüber diskutiert, welche drakonischen Maßnahmen zu folgen hätten. Nur die sofortige Beendigung der kämpferischen Auseinandersetzungen gehörte nicht zum Meinungsspektrum. Man kann das in der Niederschrift von Meet the Press vom 20. Juli 2014 sehr gut nachlesen.
10 Jahre später, während einer Videokonferenz des Atlantic Council zum Thema, sagte der damalige Moskau-Korrespondent des Telegraph ähnliches. Es sei eine verrückte Zeit gewesen. Niemand hätte eingehalten. Der Krieg sei einfach weitergegangen. Der dort ebenfalls teilnehmende ukrainischstämmige Kanadier Michael Burciukiw, damals OSZE-Sprecher in Kiew, erinnerte in dieser Diskussion des Atlantic Council völlig korrekt daran, wie stramm die erste CNN-Reaktion gewesen sei. Nun sei das Maß endgültig voll.
Sühne für Geschehenes ist nur hilfsweise Lösung
Kurzum, es frappierte mich von Anfang an, dass politisch nie die Schlussfolgerung gezogen wurde, die an sich auf der Hand lag: Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit oder menschliches Leid schlechthin lassen sich nur verhindern, wenn man dem Krieg den Krieg erklärt. Die Sühne für Geschehenes ist nur die hilfsweise Lösung. Sie bringt kein Leben zurück.
Wegen Burciukiw hatte mich die erwähnte Diskussion des Atlantic Council, die weniger als 1000 Menschen bisher anklickten, überhaupt interessiert. Denn von ihm stammte damals die Behauptung, einige „Rebellen“ hätten an der Unglücksstelle „leicht angetrunken“ gewirkt. Sie wurde politisch und medial aufgegriffen, so als reiche der schiere Horror noch nicht hin. Eine grobe Missachtung der Opfer, deren Andenken gefleddert wurde, kam nun noch obendrauf.
John Kerry brachte es bei Meet the Press vor. Nach meiner Erinnerung äußerte sich der deutsche Außenminister ähnlich bestürzt und empört. Die Süddeutsche Zeitung befasste sich auch mit der Frage. Sie verwendete damals, wie auch andere Medien, für die Berichterstattung ein gezielt aus einem Video herausgeschnittenes Foto, das die angebliche Nichtachtung der Rebellen für die Katastrophenopfer dokumentieren sollte: Ein uniformierter „pro-russischer Separatist“ mit Zigarette in der Hand hielt ein Stofftier hoch. Tatsächlich hatte der Betreffende das Stofftier hochgehalten und die ihn filmenden Anwesenden gefragt, wer in aller Welt so etwas täte. Er bekreuzigte sich (ab Minute 1:10)
Die Süddeutsche hat diesen Artikel bis heute nicht zurückgezogen oder korrigiert. Niemand entschuldigte sich, dass ein sinnentstellendes Foto benutzt worden war, um die falsche Botschaft eines angeblich unerträglichen Umgangs mit den Opfern von MH 17 zu präsentieren. Nichts davon war der Tragödie angemessen.
Bis heute ist nicht zweifelsfrei geklärt, was damals wirklich geschah. Ein niederländisches Gericht verurteilte 2022 drei Personen (in Abwesenheit) zu lebenslanger Haft. Das gemeinsame Untersuchungsteam unter Leitung der Niederlande (JIT) stellte 2023 die Arbeit ein, aber nicht, ohne darauf hinzuweisen, dass aus seiner Sicht sehr wahrscheinlich die Letztverantwortung beim russischen Präsidenten läge.
Der Internationale Gerichtshof dagegen wies eine ukrainische Klage aus dem Jahr 2017, Russland die Schuld an der Katastrophe zu geben, Anfang 2024 zurück. Die Internationale Luftfahrtbehörde und der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte sind weiterhin befasst. Russland bestreitet anhaltend jede Mitverantwortung oder direkte Schuld.
In der Diskussion vom Atlantic Council 2024 waren sich alle einig: Den Opfern von MH 17 wird erst dann Gerechtigkeit widerfahren, wenn der russische Präsident vor Gericht steht. Die Entscheidung des Internationalen Gerichtshofs wurde dort nicht erwähnt. Denn das ist die Geschichte, die im Westen fest geglaubt und auch von JIT erzählt wird: Aus Russland soll das BUK-System hergekommen sein, das dann in Rebellenhand den Unglücksschuss verursachte. Es sei ein Akt internationalen Terrorismus gewesen. Sehr wahrscheinlich sei das Kriegsverbrechen direkt dem russischen Präsidenten anzulasten. Folglich ist alles, was Russland womöglich „entlasten“ könnte, nur russische Desinformation bzw. spielt der russischen Seite in die Hände, so wie etwa die Recherchen des US-Journalisten Robert Parry (folgt man Wikipedia).
Das wäre auch die logische Schlussfolgerung. Sie hat nur den Schönheitsfehler, dass auch auf ukrainischer bzw. westlicher Seite Nebelkerzen geworfen wurden. Das beginnt mit dem Motiv: Warum wurde auf MH 17 geschossen?
Laut dem ukrainischen Geheimdienstchef (August 2014) verwechselten die „pro-russischen Separatisten“ den Einsatzstandort. Sie hätten eigentlich vorgehabt, eine Maschine voller russischer Touristen abzuschießen. Das sollte Russland zur direkten Kriegsbeteiligung in der Ukraine zwingen. Diese Sichtweise ist heute praktischerweise vergessen. Rebecca Harms (Grüne) glaubte in der bereits angesprochenen Diskussion des Atlantic Council, Russland hätte damals bereits die Donbass-Gebiete okkupiert.
Es gibt nur einen Geheimdienst, dem nachgewiesen wurde, dass er über den Abschuss eines Zivilflugzeugs nachdachte, um eine Invasion zu erzwingen. Der heißt CIA, und damals ging es um Kuba. Aber man kann nie ausschließen, dass solche unmenschlichen Ideen nachgenutzt oder propagandistisch wiederverwendet werden. Verwechselten pro-russische Rebellen eine Zivilmaschine mit einer ukrainischen Militärmaschine? War es ein Bedienungsfehler einer unerfahrenen Mannschaft?
Die ersten Stellungnahmen aus der Ukraine, aber auch von Hillary Clinton, vermittelten den Eindruck, nun sei die Zeit für eine Nato-Unterstützung der Ukraine endgültig gekommen. Genau diese Meinung vertrat auch Burciukiw in der Diskussion 2024. Er hielt schon Obamas Entscheidung, 2013 in Syrien nicht militärisch zu intervenieren, für falsch und fand auch die westliche Reaktion auf die Krim-Ereignisse zu lasch. Was er nicht sagte, war, was der Westen damals seiner Meinung nach hätte tun sollen: Direkt gegen Russland in den Krieg zu ziehen.
Um diese Frage drücken sich alle herum
Um diese Frage drücken sich alle herum, die wie Burciukiw behaupten, die westliche „Toleranz“ der Krim-Annexion habe Putin angeblich zu immer neuen Schandtaten „ermutigt“, die schließlich 2022 in der Invasion mündeten.
Aber zurück zur Frage, wer damals überhaupt BUK-Systeme hatte und den Willen, sie auch zu benutzen. Der gingen niederländische Sicherheitsdienste nach, gezwungenermaßen, denn der ukrainische Luftraum war damals nicht oberhalb von 10 km, also auf der Flughöhe ziviler Maschinen gesperrt worden. Die niederländischen Sicherheitsdienste schätzten ein, dass es bis zum 17. Juli 2014 keine Hinweise auf eine Gefährdung der zivilen Luftfahrt in diesem Raum gegeben habe. Nur die russische Armee und die ukrainische Armee verfügten über einsatzfähige BUK-Waffensysteme, die solche Flughöhen erreichen konnten.
Der niederländische Bericht befasste sich auch mit der Frage, wer für den Abschuss einer ukrainischen Militärmaschine am 14. Juli 2014 verantwortlich war. Diese Maschine, eine AN-24, flog in tieferer Höhe. Der ukrainische Außenminister hatte dazu erklärt, dass das Flugzeug der ukrainischen Armee aus Russland angegriffen worden sei. Nach Erkenntnissen der Niederländer stimmte das nicht. Das Schadensbild – die Crew konnte sich retten, die Maschine wurde nicht in der Luft zerstört – sprach dafür, dass dieser Abschuss mit weniger durchschlagenden Waffen (sogenannte Man-pads) auf das Konto der „pro-russischen Separatisten“ ging. Da die Hauptaufmerksamkeit der niederländischen Dienste damals bei Russland lag, ging der Bericht ganz unbefangen damit um, warum die ATO gestartet worden war: Um die „Unruhen“ (unrest) im Osten der Ukraine gewaltsam niederzuschlagen.
Dieser Bericht der Niederländer spielte keine öffentliche Rolle, denn er stellte für das ganze Narrativ ein großes Problem dar. Zum einen rückte er auch die Ukraine in den Kreis der möglichen Verursacher der Katastrophe. Die hatte jedoch jeden Verdacht von Anfang an weit von sich gewiesen und zwischenzeitlich sogar behauptet, kein einsatzfähiges BUK-System zu haben. Das stimmte laut niederländischem Bericht nicht.
Ganz „zufällig“ tauchte in der einzigen Kommentierung der angesprochenen Atlantic Council-Debatte ein Videolink zu einem Fernsehkanal des ukrainischen Militärs auf. Dieses Video zeigt dessen Berichterstattung vom 16. Juli 2014. In der Tat wird dort in der fünften Minute im Rahmen der Berichterstattung über die ATO ein ukrainisches BUK-System im Bild gezeigt, das in der östlichen Ukraine stationiert gewesen sein soll. Das gesamte Video ist hochinteressant, denn es enthält ebenfalls einen Bericht auch die Rekrutierung von Asow-Mitgliedern. Da ich allerdings, wenn es um MH 17 geht, nicht an Zufälle glaube, nehme ich an, dass der Hinweis auf dieses Video, der den genauen Standort dieses ukrainischen BUK-Systems enthält, nicht von „Otto Normalverbraucher“ stammt.
Wenn man dem US-Journalisten Robert Parry folgt, der zu MH 17 recherchierte, soll es in den USA in Geheimdienstkreisen auch die Spekulation gegeben haben, MH 17 ginge womöglich auf das Konto von unkontrollierten ukrainischen Freischärlern.
“Alles gesehen”
Zudem, und das ist die viel entscheidendere Sache, warf besagter niederländische Bericht die Frage auf, auf welcher Grundlage die Niederländer das alles wussten. Waren diese vor Ort oder nutzten sie US-Erkenntnisse? Ersteres kann man verwerfen. Die Nutzung von US-Erkenntnissen jedoch bedeutet, dass offenbar bis zum 17. Juli 2014 niemand gesehen hatte, dass ein BUK-System aus Russland in die Ukraine verbracht worden war. Denn hätte es jemand gesehen, hätte der ukrainische Luftraum gesperrt werden müssen. Die USA haben zudem niemals öffentlich behauptet, sie hätten „gesehen“, wie das BUK-System aus Russland in die Ukraine und wieder zurück gelangte.
Der kluge Robert Parry begriff dieses Problem sofort. Er war einer der wenigen, der die Bedeutung der Frage verstand, wie die Wetterverhältnisse an diesem Tag in der Unglücksregion waren. (Mir half ein Spezialist für EU-Satelliten, der mich nach dem Unglück 2014 kontaktierte.)
Also wie war das Wetter damals: sonnig oder bewölkt?
Die Antwort auf diese Frage führt zunächst dazu, ob ein Foto, dass vom Mitarbeiter des ukrainischen Innenministers, Anton Geraschtschenko, am 17. Juli 2014 veröffentlicht wurde und das angeblich die Geschossspur des BUK-Abschusses zeigte, stimmt. Es zeigt einen blauen Himmel.
Bellingcat griff dieses Foto auf, allerdings mit einem anderen Absender und erklärte es für authentisch. Tatsächlich aber war der Himmel bewölkt. Das ist durch zahlreiche Videos vom Unglücksort an diesem Tag belegt. Wer verfügt über die technologischen Aufklärungskapazitäten und kann sowohl besonnte Gebiete überwachen als auch „durch Wolken sehen“? Den EU-Satelliten fehlten (damals) die technischen Fähigkeiten, „durch Wolken zu sehen“.
Die einzige Macht der Welt, die technisch damals und heute dazu in der Lage ist, den ganzen Globus wetterunabhängig zu überwachen, sind die USA. Sie hat die dafür erforderlichen Sensoren im All, um sowohl besonnte als auch bewölkte Gebiete zuverlässig zu „sehen“. Das ist unter anderem Teil der Früherkennung von nuklearen Bedrohungen. Deshalb musste man auch sehr ernst nehmen, was der US-Außenminister John Kerry am 20. Juli 2014 auf allen US-Kanälen verkündete. Er betonte: Wir haben am 17. Juli alles gesehen. Kerry erwähnte den USA vorliegende „Indizien“, die allesamt auf pro-russische Rebellen verwiesen. Die Täterwaffe sei aus Russland gekommen.
Gleichzeitig aber muss man sehr ernst nehmen, dass die USA nie förmlich erklärten, „gesehen“ zu haben, wie die BUK aus Russland in die Ukraine und wieder zurück gelangte. Zudem ist und bleibt angesichts des Maßstabs der Tragödie völlig unverständlich, warum die USA nie öffentlich vorgelegt haben, was sie angeblich gesehen hatten. Sie verweigerten die Daten einem US-Bürger, der einen Angehörigen verloren hatte. Auch einer entsprechenden Aufforderung des niederländischen Gerichts kamen sie nicht nach. So ist und bleibt es auch eine Glaubensfrage, ob Kerry damals die Wahrheit sagte.
Zumal es Barack Obama war, der 2016 die Glaubwürdigkeit von Kerry unterminierte. Kerry hatte 2013 mit Bestimmtheit behauptet, das Assad-Regime stecke hinter dem Chemiewaffeneinsatz in Ghouta. 2016 erklärte Obama im Atlantic, dass die CIA das nicht mit Gewissheit festgestellt habe. Das sei einer der Gründe gewesen, warum er sich gegen eine Intervention in Syrien entschieden habe.
Ergänzt werden muss, dass Russland nicht über eine vergleichbare globale Überwachungspräsenz wie die USA verfügt und sich mangels entsprechenden know-hows für eine andere Lösung entschied, die dessen Sicherheitsanforderungen allerdings genügt. Theodore Postol, ein US-Kenner der Materie, beschrieb diese Lage zuletzt 2024. Sie war Teil seiner Argumentation, warum die ukrainischen Angriffe auf die Langstreckenradare Russlands einen gefährlichen Eingriff in die Architektur der MAD-Welt darstellten. Anmerkung: „MAD“ bedeutet, dass wir alle in einer Welt leben, in der die gegenseitige nukleare Auslöschung garantiert ist, was „mad“ ist, also komplett irre.
Russland hat ein gutes Radar-Bild
Die russischen Radaranlagen wiederum erlauben dem Land wegen der geographischen Nähe zur Ukraine ein gutes Radar-Bild, was dort vor sich geht. Konkret ausgedrückt: Falls in der Ukraine Radar-gestützte Waffen benutzt oder zur Benutzung vorbereitet werden, weiß die russische Seite ganz genau, wo so etwas stattfindet. Das führt im aktuellen Krieg dazu, dass Russland in dem Moment, in dem etwa ein Patriot-System aktiv wird (wie BUK-Systeme ebenfalls radargestützt), den Standort lokalisieren kann. Das erklärt auch, wieso Patriot-Systeme durch Russland angegriffen, beschädigt oder zerstört werden können.
Daher muss ebenfalls davon ausgegangen werden, dass auch Russland, wenn auch aus anderen Quellen, weiß, wo am 17. Juli 2014 in der Ukraine eine BUK-Rakete abgefeuert wurde. Auch die Ukraine verfügte und verfügt selbstverständlich über Radaranlagen. Allerdings hieß es, die ukrainischen Radare seien am 17. Juli 2014 nicht funktionsfähig gewesen.
Bis 2016 ließ die JIT den genauen Standort des Abschusses von MH 17 offen.
Russland machte im Zusammenhang mit MH 17 geltend, es habe Radarsignale ukrainischer BUK-Abwehrsysteme wahrgenommen. Es sprach auch von einem ukrainischen Flugzeug im Unglücksraum. Auch das ist eine nach wie vor mysteriöse Geschichte und förmlich zur russischen Desinformation erklärt. Aber es gab einen ukrainischen Piloten, der sich 2016 das Leben nahm und von dem es hieß, er sei zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen. Auch Robert Parry erwähnte ihn.
Im Jahr 2018 beschäftigte sich die Washington Post unter dem Aspekt Information und Desinformation mit dem Fall MH 17. Sie präsentierte eine Studie, die tweets ausgewertet hatte. Schon die Umschreibung des Untersuchungsgegenstandes stimmte nicht: Die aktive Rolle der Regierungen bei der Zuweisung oder Zurückweisung von Schuld kam gar nicht vor. Im Gegenteil, die Studienautoren behaupteten kühn: „Our findings challenge the concept of a state-orchestrated information war over Ukraine and point to the importance of citizen activity in the global struggle over truth and information.” („Unsere Ergebnisse stellen das Konzept eines staatlich orchestrierten Informationskrieges um die Ukraine in Frage und verweisen auf die Bedeutung der Bürgeraktivität im globalen Kampf um Wahrheit und Information.“)
Die Rolle Bellingcats: staatliches Bedürfnis, eigene Geschichten glaubwürdig unters Volk zu bringen
Normalerweise ist das nicht die Sichtweise, mit der „social media“-Aktivitäten beurteilt werden, aber wenn es um einen Ritterschlag für Bellingcat geht, schon. Denn von Bellingcat stammen die Untersuchungen, wie ein BUK-System am 17. Juli 2014 von Russland in die Ukraine und am Folgetag wieder zurück gelangt sein soll. Diese Untersuchungen gelten als korrekt, obwohl nur die US-Daten eine wirklich zuverlässige Beurteilung des ganzen Falls ermöglichen würden. Wegen der niederländischen Untersuchungen kann der Transport des BUK-Systems aus Russland in die Ukraine logischerweise nur am 17. Juli erfolgt sein. Was mich bei der ganzen Darstellung von Bellingcat anhaltend wundert, ist, dass immer nur von einem Raketenwerfer gesprochen wird, aber ein BUK-System aus mehreren Elementen besteht und anders aussieht, als das, was Bellingcat in sozialen Medien aufspürte.
Das eigentliche Markenzeichen von Bellingcat ist, dass es selbstverständlich immer bestätigt, was politisch von interessierten Seiten behauptet wird. Eliot Higgins Idee, Bellingcat zu schaffen, war durchaus revolutionär. Statt weiter nur Videospiele auf dem Sofa zu spielen, erkannte er das unternehmerische Potential, das im staatlichen Bedürfnis liegt, eigene Geschichten glaubwürdig unters Volk zu bringen und von angeblich unabhängiger Seite bestätigt zu bekommen, sehr viel früher als andere. Damit lässt sich viel Geld verdienen. Damit das auch so bleibt, darf Bellingcat auf keinen Fall die Hand beißen, die so großzügig füttert und schnappt gleichzeitig nach beinahe jedem, der anderer Meinung ist oder Bellingcat bei Pfuscherei erwischt.
Folglich wird Bellingcat lieber zitiert als kritisiert. Wenn aber Bellingcat schon bei einem angeblichen Foto vom Abschuss irrt, wo noch?
Eine neue Erkenntnis brachte 2024 ein ausführlicher Artikel der New York Times zur Zusammenarbeit der CIA mit dem ukrainischen Geheimdienst. Danach waren die CIA-Leute vor Ort schwer beeindruckt, wie schnell die ukrainischen Kollegen (ein sogenanntes Fünftes Direktorat mit frisch rekrutiertem Personal) in Sachen MH 17 belastendes Material liefern konnten – innerhalb von Stunden. (“The Fifth Directorate produced telephone intercepts and other intelligence within hours of the crash that quickly placed responsibility on Russian-backed separatists. The C.I.A. was impressed, and made its first meaningful commitment by providing secure communications gear and specialized training to members of the Fifth Directorate and two other elite units.”)
Allianz der Russlandausforschung
Im gleichen Artikel stand an späterer Stelle, dass die CIA, MI 6, aber auch der niederländische Geheimdienst eine Allianz der Russlandausforschung bildeten und die Ukraine dafür zentral gewesen sei. Schließlich konnte man nur von dort so schön ungestört arbeiten, mit mindestens 12 Geheimbasen.
Zur MH-17 Geschichte gehört ebenfalls die Frage, ob, wann und wie Russland in den Aufruhr im Donbass involviert war. Wurde das alles vom Kreml orchestriert? Das JIT konnte es nicht beweisen, aber nahm es an. Wo kamen generell die Waffen her, mit denen die „pro-russischen Separatisten“ kämpften, und ab wann kamen sie auch aus Russland? War der Donbass gewissermaßen eine Art Fortsetzung der Krim-Ereignisse? Das war die ukrainische Lesart.
Wenn man sich Meet the Press vom 20. Juli 2014 heute im Abstand von 10 Jahren noch einmal durchliest, sieht man klarer, dass eine unvoreingenommene Aufklärung von MH 17 nie das Ziel war. Gestritten wurde allein darum, wie die richtige politische Reaktion auf die behauptete russische Schuld aussehen sollte.
Man erkennt aber auch, dass die US-Regierung damals nicht alle Brücken zu Russland abbrechen wollte, weil man Russland politisch noch brauchte. Russland hatte den USA geholfen, Syrien „zu 100%“ von Chemiewaffen zu befreien, und es ging auch um das Abkommen mit dem Iran. Gleichzeitig beschwerte sich Kerry über die Eigensüchtigkeit der EU-Europäer, die ihre ökonomischen Interessen über scharfe Sanktionen gegen Russland stellten und „keine Opfer bringen wollten“. Das wiederum ging dem außenpolitischen Falken, Senator Lindsay Graham, nicht weit genug: Der hielt das alles für bloße „Beschwichtigungspolitik“ und wollte (tödliche) Waffenlieferungen an die Ukraine.
Allen damaligen Äußerungen ist gemeinsam, dass die Nato schon 2014 so verfuhr, wie sie seither immer verfährt: Behauptungen aufstellen, den Finger auf Russland richten, aber selbst hat man mit allem nichts zu tun. Auch nicht damit, dass man 2014, statt der Ukraine kräftig auf die Finger zu hauen, sie zur ATO ermutigte und politisch unterstützte. Ohne den Putsch in der Ukraine 2014 und ohne die ATO wäre MH 17 sicher geflogen und gut gelandet. So wurden 298 unschuldige Menschen zu Opfern.
Tatsächlich haben sie noch keine Gerechtigkeit erfahren, egal, welche Sicht man auf die Umstände der MH-17-Tragödie hat.
Und noch immer wartet die Welt auf die Schlussfolgerung, dass Krieg nur Tragödien gebiert und deshalb immer eine frühestmögliche Beendigung im Mittelpunkt aller politischen Bemühungen stehen sollte. Grundsätzlich aber geht es darum, dem Krieg schlechthin immer und überall den Nährboden zu entziehen. Auch dafür soll am 3. Oktober 2024 bundesweit und speziell in Berlin demonstriert werden.
Dieser Beitrag ist eine Übernahme aus dem Blog der Autorin, mit ihrer freundlichen Genehmigung.
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