Geblieben ist die Sprache – Deutsch-jüdisches Exil und Erbe in Argentinien – und die Blicke nach Deutschland

Wie können die aktuellen erinnerungskulturellen Debatten, die das Verhältnis von jüdischer und nichtjüdischer kultureller Dynamik in Deutschland untersuchen, durch Stimmen aus der „Peripherie“, etwa aus Lateinamerika, verändert oder ergänzt werden? Inwiefern können die Erfahrungen deutsch-jüdischer Stimmen aus Lateinamerika neue Perspektiven auf den deutschen Debattenkontext werfen oder diesem andere Blickwinkel hinzufügen? Argentinien ist das lateinamerikanische Land, in dem in absoluten wie relativen Zahlen die meisten vor dem NS geflohenen deutschsprachigen Juden und Jüdinnen (40000 bis 45000) Zuflucht gefunden haben. Diese Tatsache hat im Vergleich zu dem gängigeren Bild von Argentinien als beliebtes Fluchtziel von NS-Verbrechern nach 1945 weniger Sichtbarkeit erlangt. Im Folgenden fangen wir einige Stimmen von Argentinier*innen deutsch-jüdischer Herkunft ein. Wir stellen dabei Blicke auf Deutschland, auf „ihre deutsche Kultur“, Identifikationen und gegenwärtige Wahrnehmungen vor.

Die deutsch-jüdische Einwanderung nach Argentinien, vor allem nach Buenos Aires, hat ein lebendiges kulturelles Milieu, das der so genannten „jeckes“, hervorgebracht. Deren soziale und kulturelle Bedeutung ist bereits dokumentiert worden, etwa in Alfredo Schwarcz‘ biografisch inspirierter Studie „…trotz allem: Die deutschsprachigen Juden in Argentinien“ (1991 auf Spanisch, 1995 auf Deutsch erschienen). Diese Studie handelt von den kulturellen Orientierungen und Identitäten der deutschsprachigen Juden und Jüdinnen am Río de la Plata.

Der Interviewband „Goethe in Buenos Aires“ von Henriette Kaiser (2022) vermittelt einen lebendigen Einblick in die Fluchterfahrungen, den schmerzhaften Verlust der deutschen Heimat und die Nachwirkungen dieser Erfahrungen im Familiengedächtnis und in den Lebensentwürfen. Auch hier bilden die jüdische, deutsche und argentinische Identität die zentralen Koordinaten der Selbstverortung. Der Titel spricht in dieser Hinsicht Bände: Im Umgang mit dem Verlust des Heimatlandes ist offenbar die Kontinuität der deutschen Geisteskultur ein Faktor, der die schmerzhafte Erfahrung überlebt hat und der vielleicht geholfen hat, den Verlust zu kompensieren, und weiterhin kulturelle Orientierung zu stiften vermochte. „Was ist geblieben? Geblieben ist die Sprache“, diese berühmt gewordene Formulierung Hannah Arendts aus dem ebenso berühmt gewordenen Fernsehinterview mit Günther Gaus wiederholt sich in zahlreichen ähnlich gelagerten Exil-Erfahrungen.

Die Hannah Arendt-Spezialistin

Claudia Hilb, emeritierte Professorin für politische Theorie an der Universidad de Buenos Aires, berichtet von der Kultur, mit der sie in ihrem Elternhaus aufwuchs: Die Bücher von Arendt, Jaspers, Thomas Mann, Brecht waren ebenso präsent wie die klassische Musik. Die existenzielle Dimension in der Vorgeschichte ihres „Jeckentums“ wurde ihr erst im politischen Exil in Paris (wohin sie 1977, während der Militärdiktatur, ging) richtig klar. Mit zeitlicher Versetzung hat sie Cohn-Bendits Aussage, „nous sommes tous des juifs allemands“ (Wir sind alle deutsche Juden) für sich entdeckt. Wichtig war dabei, dass die Mutter ihres ehemaligen Partners, selbst polnisch-jüdischer Herkunft, sie als „Jecke“ bezeichnet und behandelt hatte. Vorher in Argentinien hatte das für sie keine Rolle gespielt. Kontakt zu deutschen Institutionen in Argentinien waren nicht wichtig. Ihre Eltern hatten von dem ursprünglichen Plan abgesehen, sie in der Goethe-Schule Norte einzuschulen, nachdem sie erfahren hatten, dass die Schulleiterin Sympathien für das dortige Nazimilieu hatte.

Erst im Jahr 2000 hatte Hilb, als sie vom Goethe Institut Buenos Aires zu einem Vortrag über Hannah Arendt eingeladen wurde, den ersten richtigen Kontakt mit einer deutschen Institution in Argentinien. In der Einführung zu ihrem Vortrag kommentierte sie ihre Emotionen angesichts der Tatsache, in einer deutschen Institution über Arendt zu sprechen. Sie sprach eine Widmung an ihre Eltern aus. Hilb ist in der argentinischen Forschungslandschaft Spezialistin zum Thema Hannah Arendt. Neben Arendt hat sie unter anderem zu Leo Strauss gearbeitet, wie Arendt ein bedeutender politischer Theoretiker, der als Jude vor dem NS geflohen war, um später in den USA zu einem bedeutenden Intellektuellen zu werden. Letztes Jahr war Hilb Mitglied der Jury für den Hannah Arendt-Preis für politisches Denken. Die letztjährige Preisverleihung an Masha Gessen, die Hilb für richtig und wichtig erachtete, löste im Dezember 2023 eine empörte Diskussion aus (1). In diesen und anderen Diskussionen mit deutschen Kolleg*innen beobachtet Hilb die Schwierigkeit, die Ereignisse im Gaza-Streifen zu thematisieren. Was ihr nachvollziehbar, aber auch sehr kompliziert erscheint.

Die fremdelnde Künstlerin

Marga Steinwasser ist eine Künstlerin aus Buenos Aires, deren Vorfahren ebenfalls wegen des Nationalsozialismus aus Deutschland fliehen mussten. Ihr Vater kam in Buenos Aires zunächst bei einer befreundeten Familie unter, die wie er aus Mülheim an der Ruhr geflohen war. Die Familie ihrer Mutter war aus Breslau geflohen. In ihrem Elternhaus wurde ausschließlich Deutsch gesprochen. Ihre Sozialisation fand im deutsch-jüdischen Milieu im Stadtteil Belgrano statt – die Synagoge, die in ihrem Bekanntenkreis gegründet wurde und als sozialer Treffpunkt diente, der Metzger, die Kinderbücher („Struwwelpeter“), die lokale Leihbibliothek (Lenz, Böll, Mann…), die in New York erschienene Exilzeitschrift „Der Aufbau“, das Aufwachsen im Umfeld der Pestalozzi-Schule, Bratengerichte und Sauerkraut – alles Erinnerungszeichen ihrer deutsch-jüdischen Persönlichkeitsbildung: „Alles, was wir lasen und sprachen, war deutsch, also deutsch-jüdisch.“ Dies fand auch in Abgrenzung zur argentinischen Bevölkerung statt, zu den sogenannten „Hiesigen“. Insofern empfand Steinwasser eine tief sitzende Fremdheit. Sie fühlte sich immer ein bisschen „anders“, gemäß dem argentinischen Sprichwort wie ein „sapo de otro pozo“ („ein Frosch aus einer anderen Pfütze“). Lange fühlte sie sich nicht „ganz argentinisch“, deutsch hingegen noch weniger. Marga, deren Mann Eduardo ebenfalls einen deutsch-jüdischen Hintergrund hat, führte in Mülheim, der Heimatstadt ihres Vaters, in den 2000er-Jahren auf Einladung der Stadt ein Kunstprojekt durch und stellte dort ihr „textiles Archiv“ aus, den „trapo“, der in Form von Collagen aus Kleidungsstücken den Umgang mit traumatischer Erinnerung thematisiert. Der mehrwöchige Aufenthalt in Mülheim war für Marga Steinwasser sehr berührend, teilweise schmerzhaft, schockierend, zugleich aber auch schön. Auf dem jüdischen Friedhof besuchte sie die Gräber ihrer Vorfahren. Für sie war es nie eine Option, nach Deutschland „zurückzukehren“. Als sie ihren deutschen Pass beantragte, war das für ihre Mutter sehr schlimm, dementsprechend lange hatte sie ihr das Vorhaben verheimlicht.

Der kritische Psychologe

Alfredo Schwarcz ist Psychologe, er arbeitete in einem deutsch-jüdischen Altersheim. Seine Mutter stammt aus Berlin, der Vater aus Wien. Seine Eltern lernten sich in den deutsch-jüdischen Institutionen kennen, die in den 1940er-Jahren in Buenos Aires entstanden waren. In seinem Elternhaus wurde Deutsch gesprochen, die deutsche Kultur, die Bücher von Goethe, Schiller und Heine waren stets präsent. Alfredos deutsch-jüdische Identität war zunächst nicht so stark ausgeprägt. Er hat sie erst später bewusst zu seiner eigenen gemacht. Das Aushandeln der Identität ist ein Thema, das ihn lebenslang begleitet hat. Die Art und Weise, wie die drei verschiedenen Aspekte zusammengebracht werden, die in seiner Identität zusammenfließen – die alten jüdischen Wurzeln, die mitteleuropäische Kultur mit deutscher Hegemonie und die argentinische Identität – konfiguriert sich im Laufe des Lebens immer wieder neu, so Alfredo. Seine Frau, Patricia Frankel, hat ebenso einen deutsch-jüdischen Hintergrund. Sie berichtet, dass ihr Verhältnis zum Jüdischen sehr emotional geprägt ist, durch die Verwandten, die im NS umgekommen sind. Sie dachte immer, dass ihre Familie vor allem jüdisch sei, erst später habe sie gemerkt, wie stark sie „vom Deutschen“ geprägt ist. Ihre Bindung hat in beiden ihre Jecke-Identität wechselseitig verstärkt. Die Zeit des studentischen politischen Engagements war für beide wichtig, erst hier haben sie sich der politischen Situation in Argentinien geöffnet und eine argentinische Identität entwickelt. Die Welt der Pestalozzi-Schule, in der „Freddy“ vom Kindergarten bis zur Hochschulreife Schüler war, betrachtet er rückblickend als eine geschlossene kleine und heile Welt, die ein wichtiger Schutzraum, zugleich aber abgekoppelt war von den gesellschaftlichen Entwicklungen in Argentinien. Ihre Kinder sind geprägt von ihren deutsch-jüdischen Wurzeln, auch dank der engen Beziehung, die sie zu ihren vier deutsch-jüdischen Großeltern pflegen konnten. Die Beziehung zu Deutschland bleibt jedoch ambivalent wegen der dramatischen Geschichte des Nationalsozialismus. Trotz allem hat Schwarcz in den letzten Jahren eine versöhnlichere Haltung gegenüber Deutschland und Österreich, dank der Gespräche mit Menschen aus den beiden Ländern über die Vergangenheit und die deutschen Verbrechen.

Zweite Heimat für Schriftsteller

Das literarische Werk der beiden deutschsprachigen jüdischen, argentinischen Schriftsteller Roberto Schopflocher und Alfredo Bauer, die einen ähnlichen familiären Hintergrund teilen (sie haben in Fürth beziehungsweise in Wien ihre frühe Kindheit verbracht, bevor sie mit ihren Familien nach Argentinien fliehen konnten) ist voller Motive, die diese Erfahrungen verarbeiten. Sie sind nicht die Einzigen, aber die Sichtbarsten, die in Argentinien zu schreiben begannen, und das im fortgeschrittenen Alter und zu einem Zeitpunkt, als das argentinische Exil bereits zu ihrer zweiten Heimat geworden war (beide verstarben 2016 im hohen Alter in Buenos Aires). Sie changierten in ihrer Textproduktion zwischen der spanischen und deutschen Sprache und wandten sich in ihrem Spätwerk der deutschen Sprache zu. Vielleicht stimmt die von dem Linguisten Roberto Bein formulierte Vermutung, dass das Deutsche als Sprache deshalb so lange in Argentinien überleben konnte, weil es zu einer Konkurrenzsituation kam: Die vor dem NS geflohenen Teile der Bevölkerung – politische Verfolgte, österreichische und deutsche Jüd*innen – kämpften um „ihr Deutsch“ gegen die mehrheitlich nazifizierte deutschstämmige Bevölkerung, gemäß dem Motto: „Mal sehen, wer eher die deutsche Kultur darstellt.“

Tür an Tür mit Nazis

Eine erfrischende Auseinandersetzung mit diesen Fragestellungen ist der Essayband „Tür an Tür. Nazis und Juden im argentinischen Exil“ (2023) des argentinischen Schriftstellers Ariel Magnus. In der Auseinandersetzung mit seiner Familiengeschichte geht er den Aspekten der deutsch-argentinischen Verflechtung sowie seinen deutsch-jüdischen „Wurzeln“ auf den Grund. In dem Band schreibt Magnus von der Befremdung, die die Lektüre des Bandes „Geschichte des Deutschtums in Argentinien“ in ihm auslöste, den der Deutsche Klub in Buenos Aires 1955 veröffentlicht hatte. Dieser Klub hatte in seiner Geschichte, gelinde gesagt, eine engere Bindung zu den Nazi-Milieus als zu denjenigen Milieus, die vor dem NS geflohen waren. Jenes Buch der laut Magnus „braungesinnten Autoren“ hat mehrere neue Auflagen erfahren, in deren Verlauf die braunen Töne verwässert wurden und zudem kritische Töne über den NS Einzug hielten. Magnus schließt seinen Kommentar zu diesem Buch, vor allem aber zu den aufgebesserten Nachfolgeauflagen wie folgt: „Meine eigene Geschichte muss ich trotzdem anderswo suchen.“

Die Erfahrung der kulturellen Ausgrenzung aus den mehrheitsdeutschen Erzählungen, Repräsentationen und Institutionen, die Menschen mit einem deutsch-jüdischen Familienhintergrund in Argentinien gemacht haben, stehen in offensichtlichem Kontrast zu den jüngeren symbolpolitischen Umarmungsversuchen in Deutschland, wie sie die Kampagne „Gemeinsame Geschichte(n) – deutsch-jüdische Lebenswege“ darstellte, die im Jahr 2021 das jüdische Leben in Deutschland in seiner historischen Dimension in den Mittelpunkt rückte. Um einen guten Kontakt zu dem „Auslandsdeutschtum“ bemüht ist die mit Mitteln des Auswärtigen Amts finanzierte „Stiftung Verbundenheit“. Ihre zentrale Aufgabe ist es, Kontakt zu den „deutschen Minderheiten im Ausland“ zu pflegen. Ihr spiritus rector ist Hartmut Koschyk, ein CSU-Politiker mit einer langen Tradition des politischen Engagements zugunsten des „Deutschtums im Ausland“, er war auch Generalsekretär des Bundes der Vertriebenen. Im Herbst 2023 wurde von besagter Stiftung eine Argentinien-Tournee der Volksmusikgruppe „Die Lustigen Oberfranken“ organisiert, im Rahmen des so genannten „Kulturprojektes Lieder der Heimat“. Die Tour führte auch nach Villa General Belgrano, ein Ort, in dem die starke Präsenz der deutschen Kultur zurückgeht auf die Ansiedlung zahlreicher Besatzungsmitglieder und Wehrmachtssoldaten vom deutschen Panzerschiff Admiral Graf Spee, das 1939 vor Montevideo versenkt wurde. Auch ohne das Deutschland-, Nation- und Ethnizitätsverständnis dieser Stiftung und ihre Beziehungspflege zum „Auslandsdeutschtum“ (vor allem in Osteuropa) näher zu befragen, dürfte klar sein, dass die Heimat, die im Rahmen dieses „Kulturprojekts“ besungen wird, nicht die verlorene Heimat der Vorfahren der deutsch-jüdischstämmigen Argentinier*innen sein kann.

1) Die in New York lebende Journalistin russischer Herkunft vergleicht in einem Artikel im Magazin „The New Yorker“ (9.12.2023, Paywall) die Situation im Gazastreifen mit der in einem jüdischen Ghetto in einem osteuropäischen, von den Nazis besetzten Land.

Eine längere Version des Texts steht auf www.ila-web.de. Die Interviews wurden im Juni 2024 geführt. Dieser Beitrag ist eine Übernahme aus ila 477 Juli/Aug. 2024, hrsg. und mit freundlicher Genehmigung der Informtionsstelle Lateinamerika in Bonn. Einige Links wurden nachträglich eingefügt.

Über Patrick Eser / Informationsstelle Lateinamerika:

Die Informationsstelle Lateinamerika e. V. (ila) ist ein gemeinnütziger Verein mit Sitz im Oscar-Romero-Haus in Bonn. Das Ziel des Vereins ist die Veröffentlichung kritischer und unabhängiger Informationen aus Lateinamerika. Der Schwerpunkt liegt auf Nachrichten und Hintergrundinformationen aus basisdemokratischer Perspektive. Die Informationsstelle Lateinamerika begreift sich als Teil der politischen Linken und engagiert sich in übergreifenden politischen Bündnissen wie der Friedens- und Antikriegsbewegung oder Attac. Der Verein besteht seit 1975 und gibt die gleichnamige Zeitschrift ila heraus. Alle Beiträge im Extradienst sind Übernahmen mit freundlicher Genehmigung.