Ostdeutsche Protestwelle vor 20 Jahren: In mehr als 200 Städten protestierten mehrere Hunderttausend Menschen gegen die Sozialreform. Was lehrt dieser Widerstand für die heutige Zeit?
Die Hochsommermonate Juli und August gelten gemeinhin als nachrichtenarme Zeit. Das Schlagwort vom Sommerloch wird gerne benutzt. Doch Ende Juli 2004 sorgten Massenproteste in Ostdeutschland für Staunen und Verwunderung. Zur ersten Montagsdemonstration rief der erwerbslose Bürokaufmann Andreas Ehrholdt mit selbstgemalten Handzetteln auf. Darauf die Parole „Schluss mit Hartz IV – denn heute wir morgen ihr“ geschrieben hat.
Damit traf er den Nerv vieler Menschen. Erst kamen einige Hunderte, in der nächsten Woche waren es dreimal so viele und bald gingen auch in vielen anderen ostdeutschen Städten Tausende auf die Straße. Für manche war es die erste Demonstration ihres Lebens, andere fühlten sich an den Herbst 1989 erinnert, als in der DDR-Massen auf die Straße gingen. Daher wurden auch vor 20 Jahren wie schon 1989 der Montag zum Protesttag erklärt, was nicht unumstritten war.
Die Menschen protestierten gegen die für den 1. Januar 2005 geplante Einführung der Hartz-IV-Reformen. Es war der Plan des damaligen SPD-Bundeskanzlers Gerhard Schröder, die Kosten der Ware Arbeitskraft in Deutschland zu senken. Die Schlagworte, der nach dem VW-Arbeitsdirektor Peter Hartz benannten Reformen lauteten „fördern“ und „fordern“. Ersteres bezog sich auf die Unterstützung bei der Jobsuche, Letzteres auf die Peitsche der Sanktionen, mit denen Menschen diszipliniert werden sollten, die sich angeblich oder tatsächlich zu wenig um einen Job kümmerten.
Es gab für die Jobcenter genügend Gründe, um Sanktionen zu verhängen. Zuwenig Bewerbungen konnten ebenso dazu gehören, wie versäumte Termine. Von diesen Plänen war in den Medien schon seit Beginn des Jahres 2004 berichtet worden. Die Menschen machten sich daher wenige Monate vor der Einführung von Hartz-IV Sorgen um ihre Zukunft – und protestierten.
Es war am Anfang das Musterbeispiel einer selbstorganisierten Protestbewegung. Im Juli und August 2004 stand keine Partei, keine Gewerkschaft oder andere Großorganisation hinter den Aktionen. Die Bürokraten waren vielmehr selbst erstaunt über den Protestbeginn mitten in der Ferienzeit. Sie schlossen sich erst an, als sich Ende Augst 2004 die Kundgebungen und Demonstrationen auf weitere Städte ausbreiteten und Zahl der Teilnehmerinnen und Teilnehmer weiter anwuchs. Auf ihrem Höhepunkt am 30. August 2004 demonstrierten in über 200 Städten mindestens 200.000 Menschen gegen das Hartz-IV-Gesetz. Die Zahl der Protestierenden hielt sich über mehrere Wochen auf diesem hohen Niveau.
Es war neben der Angst vor der Verschlechterung ihrer Lebensverhältnisse auch Wut, die die Menschen mobilisierte. „Neue Wut“ lautete der Titel eines 90-minütigen Dokumentarfilms des Regisseurs Martin Kessler. Er begleitete Demonstrierende in verschiedenen Städten und interessierte sich auch für ihre Beweggründe zum Protest. Die Menschen berichteten, wie sie oft mit mehreren Jobs nicht über die Runden kommen, wie das Geld doch nicht zum Monatsende reicht. Sie berichten davon, wie sie nur durch die Inanspruchnahme von Essenstafeln überleben konnten. Und sie erzählten, wie sie sich oft zuerst geschämt und selbst die Schuld gegeben haben, dass sie mit dem Geld nicht auskommen oder keine Arbeit finden, von der sie leben konnten. Doch bald merkten sie, dass es so wie ihnen, vielen anderen geht. Dann wurde die Scham zur Wut und die trieb sie auf die Straße.
Bleibt nur das Scheitern der Proteste?
Erst Anfang Oktober 2004 ging die Zahl der Teilnehmenden zurück. Die Bewegung hatte ihren Zenit überschritten. Das ist ein häufiger Mechanismus bei weitgehend spontan entstandenen Demonstrationen, auch in anderen Ländern. Sie fangen an einem Ort an, weiten sich dann schnell aus und fallen nach einem Höhepunkt ab. Protestforscher sehen eine der Ursachen darin, dass Massenproteste nicht über einen längeren Zeitraum auf hohem Niveau durchgehalten werden können, weil die Protestierer eine Pause und Ruhe brauchen oder sich wieder ihren alltäglichen Dingen widmen müssen, die in den Hochphasen der Proteste zurückgestellt werden.
Zu Jahresbeginn 2005 wurden die Hartz-IV-Reformen planmäßig eingeführt. Am ersten Wochentag im Jahr 2005 gab es bundesweit vor Jobcentern Proteste im Rahmen der Aktion Agenturschluss. Daran beteiligten sich zahlreiche sozialpolitische Gruppen. Von den Menschen, die ab Juli 2004 auf die Straße gegangen sind, war nur ein kleiner Teil noch dabei. Der Hauptgrund lag darin, dass die Mehrheit der Menschen, die im Sommer 2004 auf die Straße gegangen waren, nicht politisch organisiert war.
Die Proteste im Jahr 2005 gingen also maßgeblich von westdeutschen, organisierten linken Gruppen aus. Bereits ab September 2004 organisierten linke Parteien, Gewerkschaften und außerparlamentarische Gruppen in Westdeutschland Demos gegen Hartz IV. Doch hier fehlte die Spontanität, die im Sommer noch die Aktionen in Ostdeutschland geprägt hatte. Insgesamt war die Zahl der Demonstrierenden in Westdeutschland wesentlich kleiner als auf dem Gebiet der ehemaligen DDR.
Bei den Aktionen Anfang 2005 versäumte es dann die westdeutsche Linke, Kontakt zu den ursprünglichen, nicht politisch organisierten Demonstranten aufzubauen. Diese Protestler der ersten Stunde strebten ohnehin nicht in Parteien und Parlamente. Viele sehen es sogar im Nachhinein eher als großes Problem, dass sich unterschiedliche Parteien ab Ende August 2004 bei und mit den Protesten profilieren wollten. Denn dadurch wurde auch der Streit zwischen den Parteien in die Bewegung gegen Hartz IV getragen.
In den letzten 20 Jahren zeigte sich, dass die unterschiedlichen Kritiker der Hartz-IV-Proteste mit ihren Befürchtungen im Wesentlichen richtig lagen. Die Sanktionierungspraxis sorgte über viele Jahre immer wieder für Schlagzeilen und auch für viel Angst unter den Betroffenen. Viele Menschen hatten nur ein Ziel – möglichst schnell wieder aus dem Hartz-IV-System rauskommen und Arbeit um jeden Preis annehmen. Der Niedriglohnsektor wuchs und das war eine durchaus beabsichtige Konsequenz von Hartz IV.
Zugleich zeigte sich: auch unter Hartz IV war Widerstand möglich. Viele der Restriktionen wurden nach Klagen von Betroffenen durch Gerichte aufgehoben. Das war auch eine Nachwirkung der Proteste vor 20 Jahren. Viele der Menschen, die auf den Demonstrationen das erste Mal Solidarität erlebt hatten, blieben nach Einführung von Hartz IV kritisch. Sie gingen mit einem selbstgewählten Beistand zu ihren Terminen im Jobcenter, weil sie sich dann nicht so allein fühlten. Sie hinterfragten die Maßnahmen und klagten gegen die Sanktionen.
Die Hartz-IV-Gesetze wurden so längst nicht zu dem großen Erfolgsmodell, das sich Gerhard Schröder und seine Entourage erhofft hatten. Nach seinem Abgang wollte die SPD gar nicht mehr so gerne mit Hartz IV in Verbindung gebracht werden und auch der Namensgeber Peter Hartz distanzierte sich früh von Teilen der Reform.
Von Hartz IV zu Bürgergeld. Wie soll es jetzt weitergehen?
Mit der Einführung des Bürgergelds hofften führende Sozialdemokraten Hartz IV endlich hinter sich lassen zu können. Kritiker monieren mit Recht, dass es sich dabei vor allem um kosmetische Änderungen handelt. Das Bürgergeld hebt die Sanktionen nicht auf, sie wurden nur etwas abgemildert.
Trotzdem begannen Wirtschaftsverbände und rechte Oppositionsparteien eine Kampagne gegen das Bürgergeld und bezeichneten es als eine Form des leistungslosen Einkommens. Nun sollen wieder Verschärfungen eingeführt werden, sodass manche schon sagen, das Einzige, was sich gegenüber Hartz IV geändert habe, sei der Name. Es gäbe also weiter gute Gründe für Proteste – und viel zu lernen vom Widerstand gegen Hartz IV, der vor 20 Jahren in Ostdeutschland begann und heute zu Unrecht in Vergessenheit geraten ist.
Peter Nowak arbeitet als freier Journalist für verschiedene Tages-, Wochen- und Internetzeitungen. Er ist Mitherausgeber des kürzlich erschienenen Buches „Klassenlos – sozialer Widerstand von Hartz IV bis zu den Teuerungsprotesten“, das kürzlich im Verlag „Die Buchmacherei“ erschienen ist. Dieser Beitrag unterliegt der Creative-Commons-Lizenz (CC BY-NC-ND 4.0). Er darf für nichtkommerzielle Zwecke unter Nennung des Autors und der Berliner Zeitung und unter Ausschluss jeglicher Bearbeitung von der Allgemeinheit frei weiterverwendet werden.
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