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„Enthauptungsschlag“?

Tomahawk in Deutschland: Abschreckung oder kommt ein „Enthauptungsschlag“ gegen Russland? – Ende der 1970er-Jahre polemisierten Strategen der amerikanischen Außenpolitik gegen die Doktrin gegenseitiger Abschreckung. Sie stritten für einen siegreichen Atomkrieg. Und heute?

Abschreckung – dieses Wort fällt derzeit häufiger. Die Bundesregierung behauptet etwa, wir benötigten neue Raketen mit kürzester Vorwarnzeit in Deutschland, die bis nach Moskau reichen. In der Berliner Zeitung sagte Klaus Wittmann in einem Gastbeitrag kürzlich: „Die Furcht vor Eskalation ist Selbstabschreckung.“ Es ist an der Zeit, sich mit der Logik und der Geschichte von „Abschreckung“ und „Selbstabschreckung“ eingehender zu beschäftigen.

Im Dezember 1979 kündigte die Nato zweierlei an: einerseits die Stationierung von neuen mit Atomsprengköpfen bestückten Mittelstreckenraketen (Pershing II) und Marschflugkörpern in Westeuropa, andererseits die Einleitung von Verhandlungen über deren Abbau. Am 22. November 1983 erfolgte die Zustimmung des Deutschen Bundestages.

Die vier Jahre dazwischen ließen eine breite Friedensbewegung entstehen. Und neue Augenöffner wie einen Beitrag in der amerikanischen Zeitschrift Foreign Politics im Sommer 1980, „Victory is Possible“ von Colin S. Gray und Keith Payne. Gray avancierte kurz darauf zum Berater des Außenministeriums der USA.

Strategen dachten über die Möglichkeit eines siegreichen Atomkrieges nach

Ausgangspunkt der Abhandlung war mitnichten eine drohende Gefahr vonseiten der damaligen UdSSR. Und das Versprechen, Europa zu beschützen, fungierte eher als Hilfsargument, um dem eigentlichen Ziel einen Anschein von Legitimation zu geben. Tatsächlich ging es im gesamten Text um nichts weniger als die Möglichkeit, siegreich einen Atomkrieg zu führen.

Wie kein Text zuvor offenbarten die Autoren eine Denkweise, die erschreckend, aber gleichzeitig analytisch und strategisch war. Eine intelligente Offensivstrategie sollte die Verluste der USA auf die notwendige Zahl – genannt wurden 20 Millionen Tote (!) – reduzieren. Dass die Zahl eigener Opfer jemals ein Ausschlusskriterium gewesen wäre, ist nicht bekannt. Im Gegenteil, die damaligen Entscheider der Administration in den USA waren offenbar überzeugt.

Sie kritisierten die damals noch dominante Doktrin der Abschreckung, also der gesicherten gegenseitigen Vernichtung (MAD – mutually assured destruction): Jeder Angreifer muss mit einem Zweitschlag rechnen. In ihrer Polemik argumentierten Gray und Payne wie folgt:

Erstens sei Abschreckung durch Androhung des Atomkrieges faktisch die Drohung mit Selbstmord und daher unglaubwürdig. Eine Verdrehung, denn Selbstmord begeht in der Abschreckungslogik der Angreifer – der Mörder, um im Bild zu bleiben –, nicht der Ermordete: Wer zuerst schießt, stirbt als Zweiter.

Zweitens sei Abschreckung in Wahrheit Selbstabschreckung, eine Lähmung der Freiheit zum offensiven Atomschlag. Auch das ist kein gutes Argument: Abschreckung kann nur funktionieren, wenn sie stets auch das Element maximaler Zurückhaltung, also der Selbstabschreckung beinhaltet. Zum Strategiedilemma wird sie nur im Streben nach strategischer Überlegenheit desjenigen, der angriffsfähig sein will, ohne den Gegenschlag befürchten zu müssen. Und genau darum ging es.

Die Vorgeschichte dieses Denkens reicht bis in die erste Hälfte der 70er-Jahre zurück. Verteidigungsminister Schlesinger empfahl seinem Präsidenten Gerald Ford die Anwendung begrenzter atomarer Schläge mit chirurgischer Präzision, was später unter der Carter-Administration als Präsidentendirektive 59 verfeinert wurde.

Erbarmungsloser Kampf mit der Sowjetunion bis zum Tode

Gray und Payne wurden zu Propheten der strategischen Wende in der Militärpolitik der USA. Im August 1982 wurde ein neues Leitlinien-Dokument zur endgültigen Bestätigung durch Präsident Ronald Reagan dem Sicherheitsrat übermittelt. Die New York Times bezeichnete die Leitlinie als einen „Plan dafür, wie man aus ungemütlichen amerikanisch-sowjetischen Beziehungen einen erbarmungslosen Kampf bis zum Tode macht“.

Bildhaft-offenherzig erläuterte Gray zwei Jahre später den wahren Hintergrund seiner Polemik von Selbstmorddrohung und Selbstabschreckung der Washington Post – es gehe um die Fähigkeit zum Enthauptungsschlag: Wenn man angenommene hundert Ziele träfe, könnte man jedes Mitglied des Politbüros erwischen, jedes Mitglied des Zentralkomitees und alle wichtigen Bürokraten töten und also dem sowjetischen Huhn den Kopf abschneiden. Wäre ihm die Metapher vom russischen Bären präsent gewesen, hätte er sich vielleicht etwas subtiler ausgedrückt.

Die damaligen Planspiele zeigen eine verblüffende Kontinuität amerikanischer Außenpolitik unter drei recht unterschiedlichen Präsidenten – zwei Republikanern und einem Demokraten. Und diese soll sich unter dem nach eigenem Bekunden die Welt führenden Demokraten Joe Biden gewandelt haben beziehungsweise sich unter seiner möglichen Nachfolgerin oder aber dem Republikaner Donald Trump bald wandeln in eine reine Abschreckung zum Schutze Europas?

Unter Trump wurde im Februar 2019 ein Juwel der Abrüstungspolitik, der dereinst von Reagan und Gorbatschow unterzeichnete INF-Vertrag über Mittelstreckenwaffen in Europa, einseitig gekündigt. Der Vorwurf, den Vertrag durch Stationierung einer neuen Variante der Iskander-Raketen verletzt zu haben, wurde von Russland zurückgewiesen, das seinerseits den USA die zum Start weitreichender Tomahawk-Raketen nutzbare Stationierung von Systemen in Rumänien und Polen vorwarf. Die deutsche Politik war in Aufruhr und wollte das Abkommen retten, aber es blieb bei händeringenden Appellen und einseitiger Schuldzuweisung gen Osten.

Bereits kurz nach Vertragsende führten die USA einen ersten Test auf dem umstrittenen System durch. Russland kündigte den Start von Arbeiten an neuen, landgestützten Hyperschall-Mittelstreckenraketen an. Und so kam es.

Worauf zielt die Stationierung amerikanischer Raketen ab 2026 in Deutschland?

Die amerikanischen Raketen, die nun ab 2026 in Deutschland stationiert werden sollen, seien jedoch konventionell, wie es in einer gemeinsamen Erklärung der USA und Deutschlands heißt. Aber die russische Nukleardoktrin grenzt den Ersteinsatz von Kernwaffen auf vier Anwendungsfälle ein, darunter den einer existenziellen Bedrohung durch den Einsatz konventioneller Waffen eines Angreifers. Wann würde Russland einen konventionellen feindlichen Angriff als solche definieren? Wir wissen es nicht und wir entscheiden es auch nicht, sondern Putin. Die Doktrinen der Nato-Atommächte formulieren keinen Verzicht auf Ersteinsatz. Die Doktrin der USA von 2018 adressiert ein „hedging“, also eine Absicherung gegen geopolitische Risiken faktisch aller Art, und zwar weltweit.

Handelte es sich 1979 noch um den mit einem Verhandlungsangebot verbundenen Beschluss eines Militärbündnisses, dessen Umsetzung im Konfliktfalle auch eine gemeinsame Entscheidung der Nato erfordert hätte, so haben wir es heute zu tun mit – ja, womit eigentlich?

Das Joint Statement der deutschen und der amerikanischen Regierung ist offenbar genau das, was geschrieben steht: eine gemeinsame Erklärung über einseitiges Handeln. Zwar proklamiert der deutsche Bundeskanzler die Notwendigkeit, einen „eigenen Schutz“ in Form von möglichen Präzisionsschlägen zu haben, wie es auch Vereinbarungen mit den wichtigsten europäischen Verbündeten über die Entwicklung „eigener Fähigkeiten“ gebe. Deshalb passe die Entscheidung der USA „genau in die Sicherheitsstrategie der Bundesregierung“. Dort geht es um zu schließende Fähigkeitslücken. Aber sind dies hier eigene Optionen?

Die im Joint Statement selbstlos daherkommende Verpflichtung der USA zur Nato als Beitrag zur integrierten europäischen Abschreckung enthält keinerlei multilaterale Bindungswirkung, es ist reine Rhetorik. Zu viel spricht dafür, dass die USA hier eine unilaterale Befehlsgewalt über die neuen Waffen ausüben. Das als Erläuterung gedachte Schreiben der Parlamentarischen Staatssekretäre Siemtje Möller und Tobias Lindner an den Außen- und Verteidigungsausschuss des Bundestages enthält ausgerechnet zu diesem heiklen Punkt jedenfalls nichts. Aber selbst im Falle eines deutschen Vetorechts wäre es recht optimistisch zu glauben, dass ein solches die USA aufhalten könnte, falls sie diese Waffen tatsächlich einsetzen wollen.

Unisono betont die Bundesregierung, es ginge lediglich um Abschreckung, also den Schutz durch Drohung mit dem Zweitschlag. Diese wird auch von Friedensforschern für unvermeidbar gehalten und hatte stets durchaus hinreichend Befürworter in der Bevölkerung. Man kann darüber durchaus eine transparente Debatte führen. Es braucht keine Politik der vollendeten Tatsachen eines jenseits des Atlantiks gefassten Beschlusses.

„Victory is impossible“

Zwei Jahrzehnte lang schien es, als wäre mit dem Projekt von Reagan und Gorbatschow das Streben nach der Fähigkeit zum Enthauptungsschlag ad acta gelegt worden. Heute kommen Zweifel auf. Der ehemalige Beigeordnete Nato-Generalsekretär Generalleutnant a.D. Heinrich Brauß begründet die geplante Stationierung der Raketen damit, dass sich die Zahl der zu schützenden Ziele in Europa mit dem russischen Großangriff gegen die Ukraine im Februar 2022 vervielfacht habe.

Wegen der begrenzten Zahl von Luftverteidigungssystemen im Nato-Gebiet sei die strategische Lösung; „Don’t try to defend against all arrows but try to hit the bow.“ Dieses Bild entspricht der Abschreckungslogik, sofern bei beiden Bögen Schützen stehen, nicht jedoch, wenn ein Schütze „remote“ die Befehlsgewalt weit entfernt von der Waffe ausüben kann. Russlands Zweitschlagfähigkeit und mit ihr die Symmetrie der Abschreckung wäre ausgehebelt.

Erstschlagfähigkeit hatte schon Colin Gray in den 80er-Jahren stets zusammengedacht mit strategischer Überlegenheit auf jeder Eskalationsstufe. Vieles – gerade die Existenz neuer Hyperschallwaffen – spricht dafür, dass genau diese Eskalationsdominanz im Konflikt konkurrierender Großmächte nicht mehr realisierbar ist. Die eingangs zitierte These „Victory is possible“ ist ein gefährlicher Anachronismus und sollte durch „Victory is impossible“ ersetzt werden.

Aber je kürzer die Vorwarnzeiten, desto stärker ihre Anstiftung zum vorwegnehmenden, präemptiven Schlag. Zunächst wohl gegen Berlin und Wiesbaden, dann – Mutlangen, Büchel, Ramstein? Gestorben würde zuallererst in Deutschland.

Diese erst nach der Annullierung des INF-Vertrages mögliche Stationierung amerikanischer Waffen in Deutschland ist keine eigene deutsche Option, sondern ihr Gegenteil, die Preisgabe eigener Sicherheitspolitik. Die rhetorische Loyalitätserklärung der USA sollte nicht von natürlichen und stets vorhandenen Eigeninteressen ablenken. Und wenn der Verdacht eines neuen Aufgusses alter Enthauptungsfantasien nicht vollständig entkräftet werden kann, muss befürchtet werden, dass sie auch heute noch nicht aus der Welt sind.

Heribert Karch war u.a. in der Erwachsenenbildung und als Leiter der tarifpolitischen Abteilung der IG Metall tätig. Mit der Rentenreform von 2001 wechselte in die betriebliche Altersversorgung. Heute arbeitet er als freier Autor, Berater und Fotograf. Dieser Beitrag unterliegt der Creative-Commons-Lizenz (CC BY-NC-ND 4.0). Er darf für nichtkommerzielle Zwecke unter Nennung des Autors und der Berliner Zeitung und unter Ausschluss jeglicher Bearbeitung von der Allgemeinheit frei weiterverwendet werden.

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Ein Kommentar

  1. Klaus Jung

    Ich habe bereits in der ersten “Nachrüstungs”debatte nicht geglaubt, dass es um eine Wiederaufnahme der Abschreckung (Hinweis: Schrecken heißt auf lateinisch Terror) mit der Doktrin der “Massive Retaliation” nicht um eine wie auch immer geartete Form von Friedenssicherung ging. Die einschlägigen Fachzeitschriftsartikel werden im Artikel der Berliner Zeitung genannt. Es war der Versuch, mit dem relativ friedlichen Ende der “Kuba-Krise” Schluss zu machen. (Keine Mittelstreckenraketen in Kuba, der Türkei und Deutschland) Es sollte wieder die Sowjetunion mit kurzer (wenige Minuten) Vorwarnzeit getroffen werden können. Dies wurde beendet durch die Einigung zwischen Präsident Reagan und Generalsekretär Gorbatschow.
    Was jetzt geschehen soll, ist ein Zustand, in dem einzig die USA einseitig Russland angreifen können, ohne dass Russland in gleicher Weise reagieren könnte. Russlands Mittelstreckenraketen können nur die amerikanischen Hilfstruppen in Europa in gleicher Weise angreifen.
    Dass die Regierung unseres Landes dem ohne weitere Diskussion zustimmt, lässt vermuten, dass ihre Vertreter bis in die Spitze entweder geistig behindert sind oder aber nicht frei in ihren Entscheidungen. Wer weiß, was bei der NSA alles über unsere Regierenden gespeichert ist.
    In großer Sorge
    Klaus Jung

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