Wollt ihr einen deutschen Putin?

Ich hatte abgespeichert, der Kollege Philipp Fess sei durch die berühmte “Frankfurter Schule” gegangen. Darum las ich seine Kanonade gegen den Spatzen Jan Böhmermann. Aber falsch: “Sein Denken ist (nur) geprägt von der Kritischen Theorie”, was immer das bedeuten mag. Entschuldigt das die “Freiheit” von jeglicher materialistischer Analyse? Ich meine: nein. Aber ich weiss, dass das nicht zeitgemäss ist.

Mir bleibt ein bitter-platter Nachgeschmack. Der Unternehmer Böhmermann verkauft dem ZDF ein Produkt. Aus dem Sommerloch zurück muss er in der Aufmerksamkeitsökonomie möglichst viel Wind machen, um beachtet zu werden. Wenn er etwas kann, dann das. Kollege Fess adelt ihn mit einem länglichen Besinnungsaufsatz. Der ganze Vorgang ist verdammt nah an einem Sack Reis. Aber jede*r kann darüber noch ein paar Kringel auf dem eigenen Bauchnabel drehen.

Näher an der Front zeitgemässer Klassen- und Machtkämpfe agierte qua Amt der Bonner Sozialdemokrat Uli Kelber, hier im Interview mit Stefan Krempl/heise (und schon wieder so ein clickbaitender Mehrteiler): Missing Link: Ulrich Kelber vs. Überwachungskapitalismus – Im Interview mit heise online spricht der ehemalige Bundesdatenschutzbeauftragte Ulrich Kelber über seine Erfahrungen mit Big Tech und der Regierung.”

An diesem Interview kritisiere ich die allzu technokratische Sprache, die von Kelbers Seite vermutlich dem Medium geschuldet ist, unter dessen Konsument*inn*en “Fachkreise” vermutet werden. Naja. Ich weiss, dass er gut gearbeitet hat, und auch anders reden kann. Unqualifizierte, aber umso egomanere Strippenzieher*innen in der Ampelkoalition haben seine Tätigkeit beendet – und seine eigenen Genoss*inn*en waren froh, eine gute Ausrede zu haben, ihn leider nicht halten zu können.

In Bonn träumen gewiss einige realitätsabgewandte Genoss*inn*en davon, ihn als Konkurrenten dieser Grünen OB Dörner aufbauen zu können. Ob sie gestern Abend der Realität näher kamen? Das weiss mann bei denen nie. Tatsache ist, dass Dörner und Kelber bestens miteinander bekannt sind, und wissen, wie sie gut zusammenarbeiten können. Ob sie dumm genug sind, sich gegeneinander schicken zu lassen – daran zweifle ich (vorerst), auch wenn Genosse Kelber jetzt natürlich “mehr Zeit hat”.

Wie kommichdrauf?

Der Klassenwiderspruch der Gegenwart ist der zwischen den Milliardärsoligarchen, die über die asozialen globalen Konzern-Netzwerke verfügen und dem dummen Rest, also uns. Dummer Rest, weil es nur wenige schon kapiert haben. Mrs. Zuboff z.B., oder Wolfgang Lieb. Der Vorteil dieser herrschenden Klasse ist die radikale Beschleunigung der technologischen Innovationszyklen, mit deren Geschwindigkeit menschliches soziales Lernen und kulturelle Aneignung nicht mithalten kann.

Besonders augenfällig wird das in der noch so demokratisch gewählten politischen Klasse. Die ist nicht nur schon seit Jahrzehnten keine Bestenauslese mehr. Sie ist, Leuten wie Kelber zum Trotz, willfährige – bestenfalls – Hinterherläufer hinter den Manövern der o.g. Oligarchen, und zwar egal, ob die für Trump oder Harris spenden, Russen, Ukrainer, Chinesen, Israelis oder Deutsche sind. Bei der Macron-Show mit dem Telegram-Durow geht es z.B. nicht um Bekämpfung und Kontrolle von dessen Macht, sondern um Standortkonkurrenz, also Verbrüderungs- und Andienungsbedürfnisse, die für die dumme veröffentlichte Meinung dramaturgisch zugespitzt werden.

Die weltweite Renaissaance des Faschismus ist für diesen Klassenkampf von oben eine willkommene Ergänzung. Sie lenkt die Öffentlichkeiten ab, beschäftigt sie, lastet sie aus. Sie mobilisiert die verzweifelte Kontrollwut jener – sozial absolut heterogener – Massen, die im neoliberalen Kapitalismus die Kontrolle über sich und ihre Lebensplanung verloren haben. Die Wut richtet sich nicht gegen die Ursachen und Verursacher, sondern gegen leicht besiegbare Popanze. An denen die Oligarchen mit Begeisterung mitbasteln. Diese Popanze, das ist faschistisches Gesetz, sind immer die Schwächsten. Und was passt besser zusammen, als die Datenkriminalität der Plattformkonzerne und der faschistische Kontrollstaat?

Bei diesen Popanzen ist eine Differenzierung wichtig. Migration beispielsweise ist unbesiegbar. Die gibt es, so lange es Menschen gibt. Migrant*inn*en aber, die knapp dem Ersaufen in irgendeinem Ozean entronnen sind, sind ein leichtes Opfer.

Läuft das eines Tages auf einen “deutschen Putin” hinaus, oder in einem anderen grossmächtigen Staat? Möglich. Ich bin dann hoffentlich schon weg.

Dass der kleine Jan aus Bremen-Vegesack dagegen keine materialistischen Waffen schmiedet, kann mann kritisieren. Aber dann bitte nicht genauso dumm, wie er.

Über Martin Böttger:

Martin Böttger ist seit 2014 Herausgeber des Beueler-Extradienst. Sein Lebenslauf findet sich hier...
Sie können dem Autor auch via Fediverse folgen unter: @martin.boettger@extradienst.net