Jede*r 40.000. Marathonläufer*in kratzt ab

Die neoliberale Ökonomie forciert nicht nur die Individualisierung, stabilisiert sich auf diese Weise selbst gegen die Gefahren kollektiven Widerstands. Sie frisst sich auch ins Bewusstsein des Individuums. Die Zunahme psychischer Erkrankungen schieben viele auf Corona. Das ist auch nicht abwegig. Aber Corona war kein Systemchanger, sondern “nur” Beschleunigung, und in dieser Hinsicht besonders kapitalismusimmanent. Wenn also in dieser grenzenlosen neoliberalen Freiheit etwas schiefläuft, kann es nur am Selbst liegen, das Fehler gemacht hat und dafür verantwortlich ist.

Daraus folgt der alte Trainer- und Sportlehrer-Terrorismus – in meiner Schulzeit waren nicht wenige Nazis darunter: schlechte Leistung bedeutet mehr trainieren. Das Individuum übersetzt diese “Weisheit” in Zunahme von Depressionen, Selbstverletzungen, Essstörungen und Sportsucht – alles untaugliche Versuche, mehr Kontrolle über das Selbst und den eigenen sozialen Rang (s. “soziale Netzwerke” und den dort grassierenden Ranking-Wahn) zu erlangen.

In diesem Gefüge ist es kein Wunder, dass immer mehr Verrückte sich an Marathon-Läufen beteiligen. Jede Stadtmarketingabteilung von Kleinstädten und Dörfern, die sich von nutzlosen Werbeagenturen sowas aufschwatzen lassen, plus PR-Abteilungen grosser und mittelgrosser Unternehmen, müssen ihren eigenen Marathon veranstalten. Als Bonner weiss ich was davon, und muss entsprechende Massenevents mit dem Fahrrad weiträumig umfahren, bzw. mich selbst von den Strassen meiner Stadt fernhalten.

Warum diese Vorrede? Weil nun endlich eine Sportjournalistin nicht nur Symptome bejammert, sondern das aktuelle Geschehen in einen gesellschaftspolitischen Zusammenhang stellt. Mit dieser Betrachtung von Alina Schwermer/taz, die bereits kluge Bücher verfasst hat, bin ich geneigt, sie in meinem persönlichen Ranking von Sportjournalismus, einer aussterbenden Art, an die Spitze zu setzen.

Hier also ihre grundvernünftige politische Betrachtung: Mörderischer Marathon: Der lange Lauf zum schnellen Tod – Hitze verändert den Sport massiv. Beim Marathon ist die Sorglosigkeit besonders verwunderlich. Wie viel Aufmerksamkeit sind uns die Opfer wert?”

Und weil ich gerade beim Thema bin. Jens Weinreich, den ich ebenfalls zur sportjournalistischen Spitzengruppe zähle, der sich aber wohl in zahlreichen Chefredaktionen ebensoviele Feind*inn*e*n gemacht hat, ist jetzt bei üebermedien paywallfrei. Diesen Text werden Sie brauchen, wenn auch ihr*e Oberbürgermeister*in sich vom Ex Guido Westerwelles und der kriminellen IOC-Mafia hinter die Fichte führen lässt:

Wenn es um Olympiabewerbungen geht, werden Journalisten zu ahnungslosen PR-Leuten – Neulich in Paris: Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) trifft einen der fürstlich bezahlten ARD-Sportexperten. Felix Neureuther, ehemaliger Olympia-Skifahrer, eröffnet das Interview zu den Sommerspielen in Frankreich und zur deutschen Olympiabewerbung mit den holprigen Worten: ‘Wie wichtig brauchen wir genau solche Events, dass auch die Gesellschaft etwas davon lernen kann?'”

Über Martin Böttger:

Martin Böttger ist seit 2014 Herausgeber des Beueler-Extradienst. Sein Lebenslauf findet sich hier...
Sie können dem Autor auch via Fediverse folgen unter: @martin.boettger@extradienst.net