„New York Times“: Kämpfen bis zum letzten Ukrainer – Über Geheimes im ukrainischen “Siegesplan”, diese “Drecks-Nordkoreaner” und wer Verhandlungen zum Entgleisen bringt
Ein NYT-Artikel befasste sich mit der Frage, was die Ukraine mit dem „Siegesplan“ bezweckt. Braucht Selenskyj eine Berufungsgrundlage gegenüber dem eigenen Volk, dass er alles versuchte, um eine militärische Niederlage der Ukraine abzuwenden? Will er mangelnde Unterstützung des Westens geltend machen, wenn alles in Scherben fällt?
Die Autoren wollten ebenfalls erfahren haben, was zur geheimen Wunschliste der Ukraine in besagtem „Siegesplan“ gehört: die Lieferung von amerikanischen Tomahawks (max. Reichweite ca. 2500 km). Die Ukraine habe zudem eine Liste aller möglichen Ziele tief in Russland erarbeitet, aber so viele Tomahawks könnten auch die USA nicht erübrigen. Man brauche noch Vorrat für andere Krisenregionen: den Nahen und Mittleren Osten, den indopazifischen Raum.
Es scheint zu stimmen. Nun ist Selenskyj empört, dass Teile seines „Plans“ in den USA geleakt wurden. Es liegt auf der Hand, dass Selenskyjs „Siegesplan“ vom Westen nicht unterstützt wird. Denn dann müsste die Nato direkt in den Krieg eingreifen.
Dass sie das nicht tun würde, war bereits vor der russischen Invasion klar. Präsident Biden hatte es schon im Dezember 2021 ausgeschlossen: Die USA verteidigen nur Nato-Territorium, und das mit Zähnen und Klauen. Die Ukraine gehört nicht dazu. Ein direktes militärisches Eingreifen der USA stand damals jedenfalls nicht auf dem Plan.
Dazu erklärte der Außenminister der Ukraine: “We will be fighting this war by ourselves. We know how to fight. We do not need foreign troops fighting for us. But we will appreciate anything that can strengthen our army in terms of military supplies.” Übersetzung: “Wir werden diesen Krieg alleine führen. Wir wissen, wie man kämpft. Wir brauchen keine ausländischen Truppen, die für uns kämpfen. Aber wir werden alles zu schätzen wissen, was unsere Armee in Bezug auf militärische Versorgung stärken kann.“
So war die Absprache. So blieb sie bis heute, obwohl sich der ukrainische Präsident seit langem bemüht, seine Rolle als Stellvertreter-Krieger loszuwerden und die Nato in den direkten Kampf gegen Russland zu verwickeln. Aber die NYT fragte auch, ob Biden womöglich nach der Wahl am 5. November der Ukraine ein Abschiedsgeschenk machen wird – mit der Lieferung einiger Tomahawks. Das wäre allerdings der Gipfel der Perfidie, denn er hinterließe dadurch seinem Nachfolger den offenen militärischen Konflikt zwischen den USA und Russland.
(Anmerkung: Dass es eine Nachfolgerin geben wird, hat Biden, ob nun bewusst oder unbewusst mit seiner Bemerkung, die Unterstützer von Trump wären „Abfall“, verhindert. Wählerbeschimpfung wird nirgendwo goutiert.)
“Tomahawks” wie “Taurus”
Ist es denkbar, dass das Weiße Haus oder das Pentagon in Sachen Russland so weit gehen würde, im Übergang von einer Administration zur anderen? Für die Tomahawks, mit denen demnächst auch Deutschland beglückt werden soll, gilt das Gleiche, was für den Taurus gilt: Ohne die USA-Daten, ohne die militärischen Experten, die diese Daten lesen und verarbeiten können, sind sie als Waffe wertlos, nicht einsatzfähig. Zumal die USA nun auch nicht behaupten könnten, sie wären im Unklaren über deren Einsatzziele in Russland gewesen.
Die Spekulation in der NYT zeigte, wie gefährlich nahe wir am Abgrund ungebrochener Kriegseskalation taumeln. Am Ende des Artikels ließ die NYT auch einen Ukrainer zu Wort kommen. Der sprach das aus, was der ukrainische Präsident weiß, aber nicht sagen kann oder will. Die Ukrainer sind dem Westen völlig egal. Dem geht es nur um die Schwächung Russlands: ”A volunteer helping to evacuate people near Pokrovsk, an eastern town that Russian troops are closing in on, said the West just wanted to weaken Russia, not help Ukraine win. … ‘Soon, there may be no one left even to use the weapons they give us,’ said the volunteer, Yevhen Tuzov, ‘because all our Western partners want is for us to fight until the last Ukrainian.’” Übersetzung: “Ein Freiwilliger, der bei der Evakuierung von Menschen in der Nähe von Pokrowsk half, einer östlichen Stadt, der die russischen Truppen immer näher rücken, sagte, der Westen wolle Russland nur schwächen und nicht der Ukraine zum Sieg verhelfen. … ‘Bald wird vielleicht niemand mehr da sein, der die Waffen, die sie uns geben, auch nur benutzen kann’, sagte der Freiwillige Yewgen Tusow, ‘denn alles, was unsere westlichen Partner wollen, ist, dass wir bis zum letzten Ukrainer kämpfen.'”
Bringt möglichst viele Russen für uns um
Ja, das war von Anfang an die der Ukraine zugeschriebene Rolle: Ihr kämpft allein und bringt möglichst viele Russen für uns um. Wir helfen dabei, stärken Euch den Rücken bis zum militärischen Sieg. Jedenfalls darf die Ukraine auf keinen Fall verlieren. Denn etwas anderes ist nicht denkbar, so hehr und edel, wie dieser Krieg politisch präsentiert wird. Die Ukraine kämpft für unsere Freiheit, unsere Demokratie, quasi für den Weltfrieden, gegen das aktuell wiedergeborene Neoimperiale, Autokratische, schlicht den Leibhaftigen schlechthin. Aber sie muss schon allein für unser Schicksal kämpfen.
Dass nicht die ganze Ukraine gegen Russland kämpft, sondern Krim und Donbass auf Seiten Russlands stehen, ist im Narrativ nicht vorgesehen, denn wie dieser Bruderkrieg, der Teil der ukrainischen Tragödie ist, entstand, soll auch möglichst ins Reich des Vergessens gerückt werden. Trotzdem enthielten die bitteren Äußerungen des Ukrainers gegenüber der NYT die sehr fundamentale Frage: Wie beendet man einen ideologisch aufgeheizten Krieg, wenn man nur zweiter Sieger ist?
Das ist zunächst ein ukrainisches Problem. Der Telegraph berichtete (Paywall) von einer ukrainischen Kriegerin, Leutnant Yulia Mykytenko. Sie hat ihren Mann im Krieg verloren. Ihr Vater, ein Kämpfer gegen den Donbass, brachte sich wegen der frühen Versuche von Selenskyj, das Minsk-Abkommen zu erfüllen (und so auch Frieden mit Russland zu finden), um. Leutnant Mykytenko glaubt, hätte der Westen alles sofort geliefert, jede mögliche Waffe, dann hätte die Ukraine eine Chance gehabt, 2022, 2023. Heute weiß sie nicht mehr, wer glücklicher dran ist: Ihr Vater oder sie, die noch lebt. Sie weiß nur, sie ist erschöpft, so erschöpft. Der Westen solle sich um die Interessen der Ukraine kümmern, wenn es zu Verhandlungen mit Moskau käme.
Es ist auch ein Nato-Problem.
Der russische Politologe Karaganow (Anm.: ich halte ihn heute für ein perfektes Gegenstück zu Senator Lindsay Graham, also komplett zum Kriegsfalken mutiert) hatte recht mit seiner Warnung, die die Münchner Sicherheitskonferenz 2015 zitierte (S. 20): Der US-geführte Westen hielt sich für stärker als Russland, er dachte, er hätte mittels der Ukraine die Oberhand, aber würde sich überschätzen und Russland unterschätzen.
Nun steht der versammelte Westen ziemlich bedeppert da. Seine Stellvertreterarmee schrumpft und schrumpft, die Vorräte in den Nato-Depots schrumpfen und schrumpfen ebenfalls, die industriellen Kapazitäten für mehr Rüstungsproduktion sind auch endlich, und er möchte doch so gerne weiter an den Sieg glauben. Wenigstens über die Hürde der nächsten US-Präsidentschaftswahl hinweg. Nach dem verheerenden Abzug aus Afghanistan und der Kritik aus der eigenen Wählerklientel an der US-Unterstützung für Israel können die US-Demokraten nicht noch einen weiteren verlorenen Krieg, diesmal in Europa, brauchen.
Vielleicht könnte, sollte die US-Unterstützung versiegen, die Europäer „einspringen“ und den Krieg auf kleiner Flamme weiter köcheln lassen? Nur ein bisschen eingefroren, nie völlig ausgetreten? Die Blaupause dafür hat der German Marshall Fund bereits 2022 entworfen. Die politische Neudefinition von Europa, in dem es kein Russland mehr gibt, ist ganz auf dieser Denklinie. Die deutsche „Kriegstüchtigkeitsidee“ gehört in dieselbe Schublade, und die EU will nun auch der Rüstungswirtschaft einen entscheidenden Kick versetzen. Wir nehmen zur Kenntnis, dass Russland sehr viel wütender ist als noch 2022 (Quelle: General Cavoli), aber da Kiew noch steht, ist es wohl noch nicht wütend genug, um uns zum Denken zu bewegen.
Der gegenwärtige westliche Kurs bleibt getragen von der Hoffnung, dass die Strategie irgendwann funktioniert: die militärische Schwächung Russlands (das Gegenteil wurde bisher erreicht), die wirtschaftliche Schädigung Russlands (ebenfalls bisher im Reich der Wünsche geblieben), die internationale Isolierung Russlands (definitiv gescheitert, wie in Kasan beim Treffen der BRICS einmal mehr zu besichtigen war). Nach der ersten Regel der „Löchertheorie“ gilt: Steckt man in einem Loch, sollte man aufhören, weiterzugraben. Bislang hat sich der kollektive Westen politisch fürs Weitergraben entschieden.
Und warum? Weil wir einem ganz fundamentalen Missverständnis unserer politischen Rolle in der Welt aufgesessen sind. Wir glauben, wir seien die Hoffnung auf Zukunft, glauben, „unsere“ eine Milliarde ist besser und wisse es auch besser, als der „Rest“. So hätten wir es gerne. Wir sind die „Aktivisten“, die Bannerträger des Guten.
Oder, wie es 2022, nach dem Ausbruch des Kriegs in der Ukraine, der damalige US-Oberbefehlshaber der US-Streitkräfte in Europa, praktischerweise auch der Nato-Oberkommandierende, vor dem US-Kongress formulierte: Die USA und ihre europäischen Nato-Alliierten seien in den vergangenen 80 Jahren alle unermüdliche „Exporteure des Weltfriedens und der Sicherheit“ gewesen. Ach, wäre das doch wahr!
Nach Frieden lechzt der überwiegende Teil der Menschheit. Aber jeden Tag muss diese Mehrheit immer wieder einer ganz anderen Realität ins Auge sehen: Die sozialen Medien bringen sie an Jung und Alt. Die selbsternannten Demokratie- und Freiheitsbringer haben längst die Mission vergessen oder durch eine andere ersetzt. Wie Hagen Rether 2014 persiflierte:
Immer stecken hinter allem diese „Drecks-Nordkoreaner“.
Aber das war nur Kabarett. Im politischen Duktus heißt es unverdrossen, wer die Schuld an allem Übel trägt. Wir sind und bleiben die Guten, die wegen der Bösen regelrecht gezwungen werden, auch Böses zu tun. Man stelle sich mal vor, was wir alles an Gutem tun könnten in unserem Land und auch in der Welt, wenn wir nicht gezwungen wären, sehr viel mehr Geld in unsere Verteidigung, bzw. „Kriegstüchtigkeit“ zu investieren. Das, ganz in der Merkelschen Logik, wird inzwischen als „alternativlos“ dargestellt.
Die israelische Ministerpräsidentin Golda Meir erkannte das schiere Potential, das man so freisetzen kann, womöglich als Erste, als sie das israelische Dilemma wie folgt formulierte: „We can forgive the Arabs for killing our children,” she said. “But we can never forgive them for forcing us to kill their children.” Übersetzung: “Wir können den Arabern verzeihen, dass sie unsere Kinder töten. Aber wir können ihnen niemals verzeihen, dass sie uns gezwungen haben, ihre Kinder zu töten.“ Ist es nicht furchtbar, welche Bürden uns unsere Feinde auferlegen?
Erfolgreich der Diplomatie einen Dolchstoß versetzt
Also hoffen wir, dass die Ukrainer, außer den vielen Millionen, die sich glücklicherweise in Europa (einschließlich Russland) vor dem Krieg in Sicherheit brachten, weiterkämpfen, um in eine Position der Stärke zu gelangen. 2025. Oder bis zum letzten Ukrainer.
Denn Putin will ja nicht verhandeln. Das ist doch bekannt.
Die Financial Times berichtete, die ukrainische Kursk-Invasion habe geheime Verhandlungen zwischen der Ukraine und Russland über die Verschonung von Energieinfrastruktur zunächst beendet. In dem Fall hätten die Briten, die den Kursker Vorstoß mit der Ukraine planten, erneut erfolgreich der Diplomatie einen Dolchstoß versetzt. Frühere geheime Verhandlungen seien an ukrainischen Angriffsentscheidungen geplatzt, obwohl Washington gewarnt hätte. Nun wolle die Ukraine wieder verhandeln. Wenn da bloß die ukrainische geheime Liste der “tiefen Ziele” in Russland nicht dazwischenkommt…
Dieser Beitrag ist eine Übernahme aus dem Blog der Autorin, mit ihrer freundlichen Genehmigung.
Ich kann den triumphierenden Unter- und Halbton der Autorin Petra Erler immer weniger ertragen. Ihr Coautor Günter Verheugen hat kürzlich in der Welt, wenn ich mich nicht irre, von einer nahezu obsessiven Einstellung Putins bezüglich russischen Einflusses auf Territorien in Osteuropa gesprochen. Die an Zwangshandlungen grenzende Kriegspolitik Putins sieht so aus, dass er 3-Tonnen schwere, von Flugzeugen getragene und in die Nähe von Einsatzorten gebrachte Gleitbomben in der Ukraine gegen zivile wie militärische Ziele einsetzt. Putin lässt Kalibr Marschflugkörper abwerfen. Hinzukommen weitreichende Raketen, Mehrfachwerfer, Artillerie, Streubomben, Thermobomben und was weiß ich noch. Es ekelt mich an. Ich kann keinerlei Verstehen für einen solchen Vernichtungskrieg aufbringen; von Verständnis will ich nicht reden. Ich könnte mich noch in die Erlersche Denkweise versetzen, wenn man mir garantieren würde, dass Putin Ähnliches, Vergleichbares für „anderswo“ ausschließt. Aber das ist ja nicht zu erwarten.