Das Zitat aus der Schrift „Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte“ von Karl Marx drängt sich auf: Geschichte wiederholt sich zwei Mal, „das eine Mal als große Tragödie, das andre Mal als lumpige Farce“. Die „lumpige Farce“ ist diesmal das 18-seitige Konzept „Wirtschaftswende Deutschland“ von Finanzminister Christian Lindner. Das erste Wendepapier stammt aus dem September 1982 und kam vom FDP-Wirtschaftsminister Otto Graf Lambsdorff und führte zum Bruch der sozialliberalen Koalition.
Eine „Farce“ ist Lindners Scheidungsbrief deshalb, weil die FDP mangels Masse nicht wie damals durch einen Bruch der sozial-liberalen Koalition und den Umstieg zur CDU eine neue Regierungsmehrheit bilden könnte.
Er ist sogar zu feige, sich offen zu diesem Papier zu bekennen und versteckt sich jetzt verschämt und nennt es eine Indiskretion, obwohl das Logo des Bundesministeriums der Finanzen und sein Name draufsteht.
Man wundert sich eher, dass im Kopf des sektiererischen Papiers nicht die Kennung von Lars Feld, Lindners Wirtschaftsberater steht. (Dass Papiere von Wirtschafts-Lobbyisten noch die Fax-Kennung des Absenders trugen, habe ich mal im Kanzleramt unter Helmut Schmidt selbst erlebt.) Der Text hätte auch als Bachelor-Arbeit an der „Freiburger Schule“ des Marktliberalismus eingereicht werden können. Es ist die gerade radikale Wiedergabe einer angebotsorientierten ökonomischen Theorie der Eucken`schen Schule.
Wieder einmal bedeutet „Reformpolitik“ nichts anderes als Abbau des Sozialstaats und Schaffung bester Angebotsbedingungen der Wirtschaft:
– Der vom Kabinett mit Zustimmung von Lindner beschlossene Bundeshaushalt müsse ohne Steuererhöhung „verbessert“ werden! (Man hält also nicht mehr an den Kabinettbeschluss.)
– Einhaltung der Schuldenbremse! (Garniert mit der Falschbehauptung, das sei ein „Garant von Generationengerechtigkeit“, gerade so als würde nicht gerade die jüngere Generation von einer funktionierenden Infrastruktur am meisten profitieren.) Dabei ist vermutlich von einem widerständigen Referenten der Satz eingefügt worden, dass „die Schuldenbremse dazu, dass die gesamtstaatlichen Ausgaben in Jahren ohne außergewöhnliche Krisen auf einen restriktiveren Pfad im Einklang mit den schwächer steigenden mittelfristigen Einnahmen“ führten. Und natürlich die ewige Litanei Ausgaben priorisieren! (Ohne zuzugeben, was und wen man priorisiert.)
– Senkung der Körperschaftschaftsteuer auf 25 %!
– Senkung und Abschaffung des „Solidaritätszuschlags“ (Für die oberen 10% der Einkommensbezieher, im FDP-Jargon die „Hochqualifizierten“)
– Und mal wieder der „Abbau der kalten Progression“! (Die den Besserverdienenden am meisten zugutekommt, wie der ehemaligen NRW-Finanzminister Walter-Borjans vorrechnet
– Absenkung der Luftsicherungsabgaben! (Damit von Deutschland aus wieder mehr klimaschädlich geflogen wird.)
– Deregulierung vor allem für Unternehmen! Stopp aller neuen Regulierungen! (Vermeidung eines Tariftreuegesetzes, Initiative gegen das europäische Lieferkettensorgfaltsgesetz, gegen Transparenzgesetz etc.)
– Senkung der Sozialausgaben, dafür Steigerung des Verteidigungshaushalts!
– Kein Anstieg der Sozialversicherungsbeiträge „zur Sicherung der Generationengerechtigkeit“! (Gerade so, als ob die Jüngeren weniger zahlen würden, wenn sie individuell und privat vorsorgen müssen. Der Riester-Flop lässt grüßen.)
– Mehrarbeit, individuelle Leistungsbereitschaft ins Zentrum stellen, Fehlanreize bei der Arbeitsaufnahme beseitigen, Arbeitszeiten signifikant ausweiten! (Von einem angemessenen Mindestlohn keine Rede.)
– Kürzungen des Bürgergeldes, der Kosten für Unterkunft, des Wohngeldes und des Kinderzuschlags, damit sich die Aufnahme oder Ausweitung von Arbeit monetär wieder lohnt! Und wörtlich: „Individuelle Schlechterstellung gegenüber dem Status Quo sind dabei unvermeidlich, im Sinne von Aktivierung und Anreizorientierung … zu begrüßen“.
– Verlängerung der Lebensarbeitszeit und der Höchstarbeitszeiten!
– Flexiblerer Renteneintritt!
– Stärkung der Eigenverantwortung!
– Für subsidiär schutzberechtigte Flüchtlinge sollen nicht mehr die Leistungen des Asylbewerberleistungsgesetzes gelten, sondern ein abgesenktes Leistungsniveau eingeführt werden!
– Kein telefonisches Krankschreiben (mehr)! (Obwohl die Ärzte davon abraten.)
– Klimaschutz- und Transformation regelt der Markt! Kein „deutscher Sonderweg“! Spätere Dekarbonisierung! (Selbst die Irreführung, dass Deutschland allein nur einen 1,3%-Anteil an den weltweiten CO2-Emissionen hat, wird wieder aufgetischt, dass Deutschland mit einem Pro-Kopf-Ausstoß weltweit in der Spitzengruppe liegt und deswegen mehr für die Einhaltung der Klimaziele tun muss, bleibt unerwähnt.)
– Klimaschutz nur global oder gesamteuropäisch! (d.h. Klimaschutz wird auf die „lange Bank“ geschoben).
– Keine sektorbezogene Regelungen! (Also kann der Verkehrssektor bei den Emissionen weiter außen vor bleiben.) Keine Flottengrenzwerte! (Also können die deutschen Autobauer weiter ihre SUV verkaufen.)
– Hinausschieben des Kohleausstiegs! Klima- und Transformationsfonds auflösen! Förderung von Energieeffizienz abschaffen! Zeiträume für die Zielerreichung des Anteils erneuerbarer Energien hinausschieben! Keine Subventionierung von erneuerbaren Energien, keine EEG-Förderung, keine staatlich garantierten Ausbaupfade für erneuerbare Energien! „Anpassung der Netzausbaupläne“! (Kurz: Eine aktive Energieeinsparpolitik wird aufgegeben.)
– Dafür heimische Förderung von Erdgas, Fracking.
– Weg vom „Green Deal“ und weg von umweltpolitischen Berichtspflichten!
– Keine aktive Transformationspolitik des Staates und gegen eine grüne Industriepolitik etwa nach US-amerikanischem Vorbild! „Staatliche Feinsteuerung“ schwäche die Wettbewerbsfähigkeit (Gedacht wohl als Tiefschlag gegen Habeck.)
– Steigender CO2-Preis in Kombination mit magischen Marktkräften reicht aus, um die notwendige Transformation der Industrie erfolgreich zu schaffen! (Dass die Industrie aufgrund der steigenden Energiepreise ins Ausland abwandern könnte, spielt bei den Marktgläubigen offenbar keine Rolle.)
– Dafür „technologieoffene Angebotspolitik durch Verbesserungen des Ordnungsrahmens (= Soziale Marktwirtschaft)“. (Also kein Verbrenner-Verbot und wohl auch die Zulassung neuer Atomkraftwerke.)
Kurz: Es ist die komplette Umsetzung der marktliberalen Märchenwelt einer angebotsorientierten Wirtschaftspolitik. Der Markt hat angeblich immer recht. Die Nachfrage oder staatliche Investitionen zum Anschieben der Wirtschaft aus der Flaute kommen nicht vor. Von einer Erneuerung der maroden Infrastruktur und die dafür notwendigen Mittel ist nicht die Rede.
Wenn man sich einmal ausgedacht hätte, womit man die SPD (Beschluss des Parteivorstandes v. 13./14.10.2024) und die Grünen – jedenfalls von deren Programmatik her – ärgern könnte, dann wären einem – ohne großes Nachdenken – die meisten dieser Vorschläge eingefallen.
Ein Versuch der SPD zu diesem Marktliberalismus der FDP anschlussfähig zu bleiben, wäre zum Scheitern verurteilt. Die FDP vertritt schlicht eine komplett andere Wirtschaftsideologie.
Warum sagt Olaf Scholz nicht, wie Helmut Schmidt 1982: „Reisende soll man nicht aufhalten“ und schmeißt Lindner aus dem Kabinett? Leider ist es jetzt wohl zu spät, dass Scholz in die Offensive gehen und umgekehrt Lindner vor die Wahl stellen könnte, entweder er folgt der Linie der Mehrheit in der Ampel-Regierung und stellt die Blockadepolitik seiner Splitterpartei endlich ein oder er fliegt bei einer Neuwahl aus dem Bundestag.
Leider ist insoweit dieser Schachzug von Lindner sehr klug, wenn Scholz ihn jetzt aus dem Kabinett entlassen würde, dann weil – wie das schon jetzt in der Mehrheit der Medien so kolportiert wird – er ein „vernünftiges wirtschaftspolitisches Programm der FDP“ blockieren würde. Das war 1982 mit dem Lambsdorff-Scheidebrief auch so. Die CDU und CSU konnten sich damals und auch jetzt wieder freuen.
Wie man taktisch so doof sein kann, ist mir ein Rätsel.
Gute Nacht (SPD)!
Dieser Beitrag erschien zuerst im “Blog der Republik”, hier mit freundlicher Genehmigung des Autors.
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