Die “Digitalisierung” der Bahn erhöht die Erwartung auf Perfektion und führt immer weniger selten zu Desastern – Wundersame Bahn CCVIII
In der Köln-Bonner-Region kennen wir das “Digitale Stellwerk Köln” schon fast wie einen Familienangehörigen. Immer wenn was nicht oder anders als geplant fährt, sind die Arbeiten an diesem legendären Stellwerk schuld. Ob mit oder ohne das: ein wiederkehrendes Motiv des Bahnverkehrs ist der störende Mensch. Zum Einen der Fahrgast, der den Betrieb ständig stört. Aber auch all die Bahnbeschäftigten, die so unermesslich viel Geld kosten, und nicht genug davon kriegen können. Immer diese Tarifforderungen …
Fast alle “Modernisierungen” der wundersamen Bahn in meiner Lebenszeit trachten danach, diesen Störfaktor zurückzudrängen, am besten zu eliminieren. Das führt dann u.a. zu folgendem Ergebnis – und dazu, dass jede Bahnreise, mit fortschreitendem Alter von mir als Passagier, immer mehr den Charakter eines Abenteuers bekommt.
Heute war ich zum Mittagessen an der nördlichen Essener Stadtgrenze verabredet. Ich plante mit dem RE5 von Bonn nach Duisburg oder Oberhausen, um von dort über Essen Hbf. oder Altenessen dorthin zu gelangen. Die U-Bahn in Essen endet jedoch dort, wo sie ins Oberirdische wechselt wg. Bauarbeiten. Ich sollte am Ankunftsbahnhof abgeholt werden.
Zufällig wurde ich zeitiger wach als geplant, und las in morgendlicher Frühe das hier. Oje, oje, die lassen auch nichts aus, dachte ich. Ob sich unter 320.000 Siemens-Beschäftigten an einem langen Wochenende die IT-Fachkräfte finden, die so einen Softwarefehler beheben? Vorsichtshalber brach ich eine Stunde früher auf.
Und in der Tat: nur der Vorderteil des RE5 war zugänglich. Entsprechende Hinweise an den Bahnhöfen (Anzeige oder Durchsage) fehlten jedoch, was den Zustieg uninformierter Fahrgäste natürlich nicht beschleunigte. Es war noch so früh am Sonntagmorgen, und die Zahl der Fahrgäste so gering, dass es nicht ins Gewicht fiel. In Duisburg erreichte ich einen guten Anschluss nach Altenenssen, dort eine U-Bahn bis zum Karlsplatz, und den Rest Richtung Norden ging ich zu Fuss. Erst 50 m vor meinem Ziel überholte mich ein Bus des Schienenersatzverkehrs – dafür hatte ich eine prachtvolle Herbstsonne genossen.
Zurück kalkulierte ich, wiederum von Altenessen aus den RE5 in Oberhausen zu erreichen. Er endete und startete dort. Die nördlich gelegenen fahrplanmässgen Zielorte, Wesel und erst recht Emmerich, sind von der Bahnzivilisation abgeschnitten wg. Bauarbeiten. Die Güterzugverbindung Rotterdam-Genua soll ertüchtigt werden. Alle Länder sind fertig: Italien, Schweiz (Gotthard-Basistunnel, ein gewaltiges Bauwerk), Niederlande. Nur Deutschland ist Bahnentwicklungsland.
Software-Drama spitzte sich zu
In Oberhausen angekommen dann der Schock: “Zug fällt aus”. Das oben beschriebene Software-Drama spitzte sich also zu? Meine Regionalbahn hatte sich schon nach Duisburg entfernt, ich musste eine knappe halbe Stunde auf die nächste warten – natürlich überfüllt, Stehplatz an der Tür. In Duisburg dann bis Düsseldorf einen Klappsitz erobert. Dort erhoffte ich mir mehr Optionen Richtung Köln, um mich dort wiederum zwischen Bonn Hbf. und Beuel entscheiden zu können.
In Düsseldorf wiederum wurde der RE5, der in Oberhausen noch “ausgefallen” war, mit 30 Minuten Verspätung (“wg. verspäteter Bereitstellung des Zuges”) angekündigt. Dä, dachte ich, verarschen kann ich mich selber. Der RRX-RE5 erschien dann tatsächlich, ein Sitzplatz war erobert, und zwar im hinteren Zugteil! Softwarefehler also “schon” behoben? Und die Verspätung wurde kontinuierlich durch Zugkreuzungen und Überholungen bis Bonn auf 50 Minuten ausgebaut.
Vor Bonn eine persönliche Durchsage aus der Lok: “Nur, damit Sie sich schon mal darauf einstellen können – die Strecke zwischen Bonn und Remagen ist derzeit gesperrt. Vielleicht ändert sich das wieder, bis wir angekommen sind. Aber richten Sie sich schon mal auf einen längeren Aufenthalt ein.” So gesehen habe ich doch noch grosses Glück gehabt.
Ich persönlich habe meine Banhcard50 wg. des damit verbundenen Digitalzwangs – ein gewisser Herr Wissing, der gewiss in den nächsten Jahren schnell vergessen wird, findet das gut – gekündigt. Auffällig ist, wer alles verschwunden ist. Die betriebsaktuellen persönlichen Bahnsteigdurchsagen sind weg zugunsten standardisierter Tastendrucke, die die Situaltion nicht erfassen können. Die “Bahnsteigbeamten” sind weg, die nicht nur Aufsicht führten, sondern für Fragen ansprechbar und bei der Zugabfertigung (Türen schliessen etc.) behilflich waren. Das Zugbegleitpersonal ist ebenfalls weitgehend verschwunden.
Gleichzeitig hat der Passagierbesatz in Regionalzügen an Wochenenden sichtbar zugenommen. Das ist die Wirkung des 49€-Tickets, die die Verkehrsbetriebe und die Verkehrsminister*innen so hassen. Darum haben sie den Preis so schmerzfrei um 9 € erhöht, während sie wg. 0,50 € TV-Gebühr in verfassungswidriger Weise eine Staatskrise proklamieren – in Wirklichkeit scheissen sie sich vor der AfD in die Hose, während sie vor dem VCD und der EVG nicht die geringste Angst haben. Passagiere abschrecken ist ihre Strategie.
Ich bin jetzt 67. Ich spüre, dass schon banalste Reisen nach Köln Erregung erzeugen. Das macht mann und frau im Alter nicht grenzenlos mit. Die Grenzen sind schon sichtbar. Und kommen näher und näher.
Ich will dagegenhalten. Der Zustand der Bahn hat eine lange Geschichte. Ich habe vor Kurzem noch eine Liebeserklärung an die Bahn veröffentlicht: https://demokratischer-salon.de/beitrag/und-sie-bewegt-sich-doch/. Wenn man rechtzeitig plant und dann kurzfristig flexibel ist, geht eine ganze Menge. Natürlich gibt es Probleme, da ist das Ruhrgebiet bis nach Köln und zum Teil bis Koblenz ein ganz besonderes Problem, das aber auch damit zusammenhängt, dass sich dort die Züge stauen, weil es keine Ausweichstrecken mehr gibt. Das ist das Erbe der Schröder-Mehdorn-Crew und der folgenden CSU-Verkehrsminister. Die Grünen haben bei den Koalitionsverhandlungen der Verkehr Verkehr sein lassen und ihn der FDP überlassen. Gegen seine CSU-Vorgänger ist Wissing allerdings noch Gold. Es geschieht wenigstens etwas, die Bahn verrottet nicht mehr weiter, sondern wird repariert und reaktiviert. Das dauert eben. Allerdings mitunter auch gegen Widerstände. In Ba-Wü gibt es eine wiederzubelebende Strecke, die die Fahrten für viele Pendler:innen erheblich verkürzt, aber es scheitert seit Jahren an Fledermäusen. Inzwischen konnte fast alles geregelt werden, aber ein Sachbearbeiter in Karlsruhe findet, es sei nicht genug für die Fledermäuse getan worden. Es dauert. Die ZEIT berichtete: https://www.zeit.de/2024/37/buerokratie-einzelhandel-vorschriften-gesetzgebung-unternehmen. Last not least etwas zum Bonner Bahnhof: Eine Studie setzte ihn bei einer Bewertung auf den letzten Platz: https://www.t-online.de/leben/reisen/deutschland/id_100492212/zugverkehr-in-deutschland-leipzig-laut-studie-bester-bahnhof-.html. In meinem letzten Newsletter (direkt auf der Startseite) am Schluss etwas ausführlicher. Fazit: alles hat Geschichte, die sollten wir nicht vergessen. Momentaufnahmen helfen nicht. Lieber Martin, noch eines, als letzter Gallier sich der Digitalisierung der Bahncard verweigern, halte ich schon für etwas überzogen. Ist eben so. Da gibt es andere Dinge, denen man sich eher verweigern sollte, z.B. bei amazon kaufen oder über paypal bezahlen, denn damit fördert man Trump und Co, mit der digitalisierten Bahncard hingegen fördert man nur sich selbst und die Bahn.
Am 1.11. habe ich mehr als eine halbe Stunde gebraucht, um meine digitalisierte BahnCard zu erneuern – gescheitert bin ich zunächst an der Hürde, dass mein alter Benutzername (also der Eigenname) nicht mehr gültig ist, sondern nur noch die Mail-Adresse akzeptiert wird, unter der die BahnCard und entsprechende Fahrkarten bestellt wurden. Am 2.11. erzählte ich das im Zug dem freundlichen Menschen, der das alles kontrolliert – und die Software seines Geräts konnte dann meine digitale BahnCard erst nicht erkennen, sondern brauchte ebenfalls dafür den Umweg eines erneuten Adressen-Abgleichs. Immerhin waren beide Züge von Siegburg bis Stuttgart auf die Minute pünktlich. Am Sonntag gab mir der Navigator Züge an, die nicht fuhren, dafür gab es im Bahnhof einen Zug, der nicht gelistet war. Den habe ich dann genommen, auch der war samt Anschluss in Frankfurt absolut pünktlich, und ich durfte eine für mich neue Bahnstrecke zwischen Mainz und Frankfurt bewundern, mitten durch Weinberge und so langsam, dass der alte Spruch vom ‘Blumenpflücken unterwegs verboten’ gepasst hätte – bei strahlendem Sonnenschein durchaus erhebend. Und: Der Zug am Nachmittag, den ich gebucht hatte, weil ich eigentlich in Stuttgart noch etwas Anderes hatte tun wollen, fiel aus – und die Bahn hat mir für den Ersatzzug automatisch eine neue Platzreservierung angeboten. Merke: Die Digitalisierung braucht, aber kommt…
Digitale Probleme. Ja, die gibt es. Dafür kann aber die Bahn nichts. Das liegt einfach daran, dass man in Deutschland lange Zeit dachte, man bräuchte doch nicht überall Netzzugang (eine ehemalige Bildungsministerin sagte: nicht an jeder Milchkanne, sie hatte eben nicht so ganz verstanden, wozu das Internet da ist). So erklären sich auch unterschiedliche Meldungen in der App und an den Bahnhöfen. Ich hatte letztens auch ein digitales Problem, es ging um eine Bahnbonus-Prämie habe bei der Bahn angerufen. Ein sehr netter Mensch half und stellte fest, dass es da in der Tat ein noch zu behebendes Problem gab: ich konnte eben meine e-mail-Adresse nicht einfach hineinkopieren, sondern musste sie händisch eintippen. Kostete Zeit, aber das Gespräch war einfach nett. Ich erlebe das Personal in der Hotline ebenso wie in den Bahnhöfen in der Regel sehr positiv. Das Personal in den Zügen ist auch immer sehr freundlich, auch wenn sich einige Fahrgäste mitunter recht gewöhnungsbedürftig aufführen, weil ein Zug sich verspätet.