Fortschrittliche Politik hat keine institutionelle Heimat mehr. Nun gilt es, selbstbewusst Minderheit zu sein, mit einer Kultur der Solidarität

Viele haben Angst vor dem, was kommt. Doch hat die Angst für jede und jeden ein anderes Gesicht. Bei mir ist es ein Gefühl der Entfremdung – dem eigenen Land und den Landsleuten nicht mehr trauen zu können; die Furcht vor der Irrationalität, vor dem Ressentiment und dem anschwellenden Wahn, in der Zuwanderung die Mutter aller Probleme zu sehen.

Meine Entfremdung ist die Luxusvariante von Angst. Wie ist es mit denen, die nicht für zugehörig gehalten werden, die einen unsicheren Status haben oder eine Staatsangehörigkeit, die nach neuestem Verständnis wieder entzogen werden kann? Von einem Freund, der vor anderthalb Jahrzehnten nach Deutschland einwanderte, hier promovierte und heiratete, hörte ich: Dies ist nicht mehr das Land, in das ich gekommen bin.

Wo also stehen wir? Mit der Aufarbeitung der NS-Verbrechen verband sich die Hoffnung auf eine Zivilisierung der deutschen Gesellschaft, auf eine Immunisierung gegen ihre faschistischen Potenziale. Der Aufstieg der Grünen schien dort hinein zu passen; er bestärkte das Lebensgefühl, dieses Land sei auf bestem Wege, offener und demokratischer zu werden, diverser und obendrein ökologisch transformierbar.

Dieser Horizont existiert nicht mehr. Die demokratische Substanz Deutschlands ist poröser als gedacht; der Boden unter unseren Schritten wird unsicherer. Bei jenen, die das spüren, greift ein Gefühl von Einsamkeit um sich, eine leise Einsamkeit, die nach ihrem Namen sucht.

Die Entwicklung, die die Grünen genommen haben und lange zuvor die Sozialdemokraten, hat zur Folge, dass fortschrittliche Politik in essenziellen Fragen keine organisierte Stimme mehr hat. Auch wenn die Linkspartei an dieser Stelle ihr Fingerchen hebt – kompromissloser Schutz von Menschenrechten, eine universalistische Idee von Gerechtigkeit und die Überzeugung „Eine andere Welt ist möglich“ sind heute ohne nennenswerte institutionelle Heimat. Das verlangt nach einer neu verstandenen außerparlamentarischen Opposition, gerade zu den Anliegen globaler Ethik, wozu Klimaschutz ebenso wie der Schutz Geflüchteter gehören.

Seien wir also selbstbewusst und freimütig Minderheit, indem wir diesem Ort seinen politischen Charakter zurückgeben. Denn heutige Minderheiten werden ja meist identitär definiert, als ein Anderssein qua Herkunft, Hautfarbe, sexueller Orientierung. Zugleich ist Andersdenken verarmt und delegitimiert, als sei intellektuelle Randständigkeit keine respektable Position. Als sei der gesellschaftliche Rand ein schmuddeliger Ort, der nach Weimar riecht und dem Ende der Demokratie.

Weil in Deutschland eine radikale Linke kaum noch existiert, gelten Ansichten als „extrem“, die anderswo schlicht links oder links-liberal wären. Wie der Mechanismus wirkt, zeigt sich bei links-jüdischen Positionen, die in den USA von der Hälfte aller jungen Juden und Jüdinnen geteilt werden, doch bei uns staatliche Repression und mediale Verwünschungen auf sich ziehen.

Über Charlotte Wiedemann / Gastautorin:

Charlotte Wiedemann ist Autorin von Auslandsreportagen, Essays und Büchern, seit 2003 mit dem Schwerpunkt "Islamische Lebenswelten". Recherchen in etwa 30 außereuropäischen Ländern, darunter Iran, Pakistan, Ägypten, Jemen, Libyen, Saudi-Arabien, Libanon, Türkei, Syrien, Oman, Tunesien, Marokko, Usbekistan, ferner Nigeria, Swasiland, Kamerun, Senegal, Tansania, Sudan und besonders häufig Mali. Ihre hier übernommenen Texte sind zuerst in ihrer "Schlagloch"-Kolumne auf taz.de, für die sie in den 90ern als Korrespondentin in Bonn gearbeitet hat, erschienen.