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Komödie des Geldes, 20. Dezember 2024: Child in Time

Draußen war es an diesem frühsommerlichen Sonntagnachmittag nicht sonderlich heiß. Es ging sogar ein immer noch frischer Luftzug über das Gehöft. Die Slowaken saßen auf den Eingangsstufen des Herrenhauses, die Kinder spielten irgend etwas mit Holzklötzen, die sie durch die Luft wirbelten. Jelena lugte ab und zu heraus und der kleine blonde Junge, mit dem sie streng sprach, war wohl ihr Bruder. Die geplante Radtour nach Bingen war schon nach wenigen Kilometern beendet, als sie am Rheinufer zum Fähranleger kamen. Der Rhein mitsamt seinen Inseln war am Ingelheimer Hafen so breit wie der Mississippi. Das Rheingau lag vor dem Betrachter wie in einem aufgeschlagenen Bilderbuch. Die Weinberge zogen sich am gegenüberliegenden Ufer stetig hinauf zum Waldrand des Taunus. In einer Senke lag das Kloster Eberbach, wo seinerzeit der „Name der Rose“ teilweise gedreht worden war. Dafür wurden Komparsen gebraucht. Man suchte sie unter den Studenten der Universität. Eine Zeit lang saßen einige mit Tonsur in der Mainzer Mensa.

Am Fähranleger stand ein Eiswagen-VW-Bus. Der Schwager von Enzo, bei dem Josh den Kaffee kaufte, fuhr mit ihm bei schönem Wetter die Spielplätze und sonstige Orte der Volksversammlung ab. Jelena kaufte ihrem Bruder drei Bällchen Eis, damit er beschäftigt war. Sie selbst war noch müde von der bewegenden Nacht. Sie fühlte sich als Teil einer großen Sache, zu deren Gelingen sie unbedingt beitragen wollte und war ziemlich aufgeregt. So etwas Verwegenes hatte sie sich selbst noch nie getraut zu denken. Allenfalls in den viel gerühmten tschechischen Kinderfilmen wurden solche Ideen zweidimensionale Fiktion auf Zelluloid.

Als der Tisch gedeckt war, Josh seine Kaffeekochkunst erneut in kosmische Höhen geschraubt hatte und jedem einen Espresso mit unzähligen Schaumbläschen am Rand einschenkte, Legu dem Leguan noch Wasser in seine Bibliothek stellte, in der er den ganzen Vormittag und Mittag gearbeitet hatte, Harry sich gar nicht erst aus der Republik freier Flaschenhals entfernte, stattdessen sein Rad flickte und schließlich auch Jelena, diesmal mit ihrem kleinen Bruder, an den Tisch gekommen war, schnitt Alwys den ziemlich eingedrückten Nusskranz in viele kleine Rippen und jeder nahm sich davon ein Stück. Ruhig begannen Sie zu kauen. Angel verlängerte sich den Espresso mit heißer Milch, was Josh jedes Mal ärgerte, denn so war es weder ein Cappuccino, noch ein Espresso Macchiato, sondern nur ein Kaffee mit heißer Milch.

Alwys erinnerte sich kurz an jenen schrecklich heißen Sonntagnachmittag vor Mitte der 80er Jahre in Weimar, als sie ihre Ostverwandten in Greiz besucht hatten und einen Ausflug in die Schiller- und Goethestadt ohne vorgeschriebenes sich Ummelden gewagt hatten. Sie wurden auf dem Weg dorthin prompt auf der Straße von einem Volkspolizisten kontrolliert und mussten wegen des unerlaubten Bezirksübertritts 30 Mark West Strafe zahlen, woraufhin die Ost-Tante sofort zu weinen begann. Alwys’ Vater nahm es etwas gelassener, wenngleich es auch für seine Familie viel Geld war. Die eigentliche Katastrophe des Ausflugs wartete jedoch in Weimar auf sie. An diesem heißen Sommersonntag, an dem die historische Stadt vor Touristen überquoll, gab es kein einziges Stück Kuchen in Weimar. Nachdem sie sich in drei zentral um das Hotel Zum Elefanten, am Goethehaus und am Marktplatz gelegenen Cafés forsche Abfuhren eingehandelt hatten und ihnen schließlich auch in einer etwas schäbigen, mit Linolboden ausgelegten Gaststätte am Bahnhof, die im Fenster ein Kaffee + Kuchen-Schild hängen hatte, nur ein klassenneutrales „Kuchen gibt’s heute nisch!“ auf ihre Frage nach süßer Teigware an den Kopf geworfen bekommen hatten, machten sie sich betreten auf den Heimweg. Der Onkel hatte im Auto nur gesagt, da könne doch der alte Goethe ja nichts dafür, dass dem VEB Knet und Back bei der schwülen Witterung der Teig nicht gegangen sei. Die Tante begann wieder zu schluchzen. Alwys’ Vater hielt einfach vor Greiz an einem Intershop und kaufte da eine Fertigtorte aus dem Westen von Dr. Oetker: Gelingt immer, war sein trockener Kommentar. Und weil die Tante noch verheulte Augen hatte, kaufte er ihr gleich ein Braun-Lockenstab-Fönset als vorgezogenes Abschiedsgeschenk für 200 Mark West gleich dazu. Alwys fand das von seinem Vater ziemlich cool. Denen hatte er mal gezeigt, was Konsum bedeutet! Ihm fiel auch der Pennälerwitz ein, Frau Dr. Oetker habe sich scheiden lassen. Warum? Er hatte Eis am Stiel. Natürlich erzählte er ihn nicht.

Die Stimmung am Tisch in der Republik freier Flaschenhals war nun ein Gemenge aus Enthusiasmus, Skepsis und höflich kaschierter Ablehnung. Harry griff nach dem zweiten Stück Nusskranz, als Jelena endlich das Schweigen brach. Zuvor hatten sie sich in der Runde nur verstohlen angeblickt. Josh warf Angel wegen des Kaffeepanschens einen giftigen Blick zu, den sie allerdings entweder gar nicht bemerkte oder einfach ignorierte. Sie stützte die Ellenbogen auf den Tisch und hielt die Tasse in beiden Händen wie eine viel zu große Teeschale – oder wie Kaspar Hauser den Suppenteller in Truffauts Film über den Wolfsjungen, dachte Alwys. Die Angel hat auch eine Wölfin gesäugt, sonst wäre sie innerlich nicht so grob.

Das harte Urteil über die sicher auch einfühlsame Angel mag ungerecht gewesen sein. Ihr kleinbürgerlich-spießiges Lebensmotto “Sich nichts anmerken lassen” ließ sie in vermeintlich progressivem Umfeld zumindest bestehen und Josh war eine feste Bank. Tatsächlich aber hatte sie es auf ihre beharrlichere Weise geschafft, die Republik freier Flaschenhals in eine Art Versorgungsdiktatur zu verwandeln, in eine kleine DDR – zumindest was die Haushaltsführung und den Ernährungsplan betraf. Die Angel, dachte Alwys weiter, hätte in der DDR eine tolle Partei- und Staatsratsvorsitzende abgegeben. Nie verlegen um ein Lippenbekenntnis für Freiheit und Abenteuer. Alwys hatte vorher schon oft bemerkt, dass die Ignoranz von Angel, die sie selbst es gut verstand über etwas Unangenehmes hinweg zu schweigen und letztlich nach dem “Es-kann-nicht-sein, Was-nicht-sein-darf-Prinzip,” funktionierte, also bis über die Schultern im Nachkriegsheimatfilm mit dicken Berliner Jungen stecken geblieben war. Scheinbar aber brauchte Josh in seinem tiefsten Innern diese zuweilen auch ziemlich pampig werdende Begrenzung von Angel. Oder er brauchte ihre stupsnasige Vorliebe für Trockenblumensträuße, mit der sie ihre dekorative Ader nekrophil auslebte. Fehlte nur noch die historische Nähmaschine von Oma – das sture Festhalten an sinnentleerten Konventionen wäre perfekt gewesen. “Das ist Spießigkeit, wie sie Ernst Bloch im „Geist der Utopie“ beschreibt,” wusste Alwys. Weil sich Angel aber immerhin als jung empfand, was sie ja zweifellos noch war, vermied sie es, jetzt schon die Insignien einer abgestorbenen Welt ohne Individualität aufzustellen. Und ohne dass sie es jetzt schon wusste, lief ihr Lebenskonzept schnurstracks darauf hinaus, ihrer Mutter mit ihren ständigen Warnungen vor Männern-die-nur-das-Eine-wollen in Angels Teenagerjahren je älter sie wurde Recht geben zu wollen. Die umgenähten Aufnehmer zum Minirock waren ihr einziger Ausbruchsversuch geblieben. Bei ihren Eltern aber war jeder Widerstand zwecklos. Sie war das Fleisch gewordene Nein bei allem, was nach Fleischlichem verlangte. War Josh also auch so eine Art Mönch – wie Alwys?

„Alwys, wie war denn dein Konzert heute morgen?“, fragte Jelena.

„Ich hatte schon Angst, dass der Wotan mit seinem Wanderstab an dem Konzertsaal vorbeimarschiert. Es war ganz OK, irgendwie eine Märchenstunde. Der Wotan hatte so einen Schlapphut auf wie Vader Abraham in der ZDF Hitparade vor so zehn Jahren. Als Eintritt hätte deshalb auch frisch gebadet gelten können mit einem Getränkegutschein für eine Tasse Kakao. Aber wer badet schon am Sonntag morgen, dass macht man ja eigentlich Samstag abends, nachdem der Badeofen gestocht worden ist.“

„Und, wie ist sie denn jetzt, die unendliche Melodie,” brachte sich Harry etwas vorlaut ein und krümelte beim Sprechen mit dem Nusskranz.

„Für dich unerreichbar, so unendlich weit weg ist die für so Banausen wie Dich!“

Harry drehte sich noch während des Kauens eine Jungenskippe mit viel zu trockenen Resten seines Tabaks. Der Glimmstängel wurde immer dünner beim Rollen, weil der Tabak links und rechts heraus bröselte.

„’Ne indische Maiskippe,“ erläuterte Harry sein Scheitern an der Oxydation.

„Die wird schön stinken, deine Machorka da,“ schob Alwys nach.

„Gegen deine unendliche Melodie anstinken kann ich schon lange,“ raunzte Harry zurück.

Danach war erst einmal wieder Schweigen. Die Vögel sangen aus der kolossalen Trauerweide in der Mitte des verwunschen wirkenden Wendehammers dazu ihr fröhliches Lied.

Jetzt war Josh an der Reihe. Josh, der Praktische. Seine Inspirationskraft war auch nicht zu unterschätzen. Sonst hätte er in der Band Eier and the Kartons nicht solche betörend schönen Solos auf dem bundlosen Baß spielen können.

„Legu, wie geht’s deinem Schatz? Da hast du uns ja heute Nacht einen schönen Floh ins Ohr gesetzt.“

„Ganz genau, ins Ohr gesetzt! Wir klauen denen den Knall und machen etwas Eigenes daraus. Landschaft zum Hören. Ist vielleicht nicht unbedingt ganz neu, aber genauso wie Christo die Wüste verpackt, so können wir das Rheintal mit Klang verkleiden und machen unsere Alpen daraus.“

„Und die Hohe Tatra“, warf Jelena munter ein. Ihr kleiner Bruder hatte heiße Milch bekommen und genoß den Kuchen. Jelena wollte sich aus dem Gefühlsgemenge am Tisch, das auch etwas mit der Angst vor der eigenen Courage zu tun hatte, ganz heraushalten.

„Jelena, du hattest die politischen Jodler in deiner Familie. Können die auch das Grundgesetz jodeln? Heute morgen hatte ich beim Konzert die Idee, dass man den Funk-Fritzen, Legu, dem du das Wetter samstags prognostizieren solltest, dazu überreden müsste, dieses lange Rheingold-Vorspiel von Wagner zu senden. Die Leute würden am Fluss dann die Fenster öffnen und ihre Radios ganz laut drehen. Das wäre mal authentisch, oder nicht?“

„Super-Idee,“ sagte jetzt Legu. Und damit sagte er überhaupt endlich auch etwas. Niemand am Tisch war sich ja sicher, ob die Abmachung, der Schwur oder die – im Wortsinn – Begeisterung der letzten Nacht noch Geltung hatte oder tatsächlich nur eine Schnapps-Idee zur späten Stunde gewesen sein sollte. Die baren Münzen im Sack waren auf jeden Fall sehr real gewesen.

„Den wollte ich sowieso einmal anrufen. Ich brauche Geld, wir brauchen Geld, denn die Logistik, das Hin- und Herfahren, die Anrufe, werden ja schon etwas kosten – falls ihr überhaupt noch dabei seid. Vielleicht wollt ihr ja lieber in ein Ingelheimer Mensch-ärger-dich-nicht-Casino investieren. Aber ich warne euch: Im Zeichen der Aufklärung ist nach Kant das Streben nach Glückseligkeit sehr verwerflich. Da muss schon mehr dahinterstecken.“

„Apropos verwerflich“, lenkte Alwys jetzt ungewollt vom Thema ab. Ihm fielen bei dem Wort verwerflich seine durchgeixten Sätze auf dem Manuskriptpapier ein.
„Von wo kann ich eigentlich meinen Artikel faxen? Habt Ihr hier ein Faxgerät?“

„Wir haben keins,“ antwortete Angel korrekt, „aber im Haupthaus ist ein kleines Büro vom Vermieter, da steht ein Fax, das wir manchmal auch benutzen. Wir legen dann pro Seite 50 Pfennig daneben. Er hat sich noch nie deswegen beschwert.“

„Ich zeige es dir nachher,“ zwinkerte Jelena Alwys an.

Alwys wurde rot, sagte aber, „Josh, wir können die hundertfünfzig Mark, die wir als Gage auf dem Festival bei der Body Building Show nächsten Samstag bekommen, als Benefizerlös in eine Knallkasse geben und daraus das Benzin finanzieren, wenn wir zu den Leuten fahren und mit denen reden. Ich würde vorschlagen, wir sprechen da mal den Vereinsring in Oberwesel und St. Goar an, die Bürgermeister und auch den Verkehrsverein, Legu. Die müssen wir überzeugen. Das ist deren Tal und an der Stelle auch deren Loreley. Es kann nicht sein, dass die sich da fühlen müssen, als würde das Pentagon verteidigt oder als würde der Iwan in Boppard Stalinorgeln aufbauen. Orgeln können wir besser.“

„Ja, wir müssen heute Abend endlich zu zweit einmal proben,“ antwortete Josh, und weil jetzt niemand widersprach oder das Geschehen der Nacht als Quatsch oder als absurd hinstellte, schien, nein, war der 5-Mark-Stück-Klau-den-Knall-Pakt beschlossene Sache. Sie wollten das Große Projekt, ihren Big Bang, machen, und sie fühlten sich jetzt auch am Tag nach der Nacht stark genug, es zu schaffen.

Legu war zufrieden mit seinen Leuten. Konnte er überhaupt so etwas denken: Seine Leute? Hier war eigentlich niemand niemandes Leut. Legu ging zurück zur Bibliothek und kippte von innen das Fenster. Der Leguan sprang auf seiner Leiter auf und ab und tatsächlich zog sich der Himmel zu, ergraute gewissermaßen gegen Abend und ließ einen Regenschauer erwarten oder sogar ein Gewitter. Legu warf seine Dual-Stereoanlage mit dem Plattenwechselstift in der Mitte des Tellers an und kam bedächtig wieder hinaus.

Aus dem Raum hörte die ziemlich lebhaft gewordene Kaffeerunde zuerst drei leichte Schläge auf dem Becken eines Drumsets, dem drei, vier leise Orgeltöne, eine Art absteigendes Motiv, folgten. Die drei Beckenschläge wurden dann von der Basstrommel als Grundrhythmus übernommen – mit einer ziemlich langen Pause zwischen den Einsätzen. Die Basstrommel hatte bald eher die Funktion eines musikalischen Doppelpunkts. Später übernahm die E-Gitarre die drei Schläge als Akkord. Eine sehr hohe männliche Stimme sang dazu ein eigentlich aus dem Backgroundchorbereich stammendes Begleitmotiv, eine abwärts fallende Akkordbrechung. Es war Deep Purples einziger Nicht-Rocksong auf der 1970 neu erschienen LP Deep Purple in Rock, hier in der Live-Version der wenig später herausgebrachten legendären Made-in-Japan-Aufnahmen, erste Pressung. Es sollten viel später noch zwei weitere Japanvarianten folgen. Was am Anfang dieses charismatischen Songs noch als braves Vordersatz-, Nachsatzmodell lehrbuchgemäß recht harmlos daherkam, weitete sich schon nach kurzer Zeit zu einer existentiellen Anklage aus. „Wogegen eigentlich?“, fragte sich Alwys. Vielleicht war eine Antwort darauf egal. „I’m crying for you, Babe’,“ setzte die dann recht männlich klingende Stimme Ian Gillans kristallklar ein. Seine auf dem Fuß folgenden ekstatischen Kopfstimmenkantilenen, es ist Gesang, kein Schreien, ließen danach die Akkorde in ein akustisches Schlachtfeld der Machtlosigkeit umkippen – die Antwort der Band auf den 12-Minüter „The End“ von den Doors. Tatsächlich folgte in „Child in Time“ nach der Verszeile „Wait for the ricochet,“ eine Geräuschkaskade, die nach Aufprall und Einsturz klang, nach Krieg, aber auch nach innerem Zusammenbruch. Die suggestiven Klänge und das eigentlich an diesem frühsommernachmittäglichen Open-Air-Kuchentreff deplatzierte Hard-Rock-Opus zog die Runde in ihren Bann. „You better close your eyes and bow your head/And wait for the ricochet.“

Alwys fiel Louisiana Reds „I have no technich, I am playing the blues“ ein. Weitermachen können, etwas beginnen können, etwas umsetzten können, eben nicht einstürzen: Alwys kam es vor, als trete er aus seiner Haut, blickte jetzt von der Hängematte an der Trauerweide herüber zur Nusskranzrunde und damit auch auf sich selbst. So weit war er also bis jetzt gekommen, auf einen Winzerhof im städtischen Hinterland und seit gestern Nacht auch noch als Verbündeter in einem aberwitzigen Projekt, dessen Ursprung eine wahrscheinlich unendlich tief gehende Kränkung war – sie waren die Stellvertreter, die Personifizierung dieser Kränkung und die Flieger waren nur das Symptom dieser Kränkung, vielleicht waren auch die Ramstein-Opfer nur das Symptom einer Jahrtausende alten, vielleicht schon vorkulturell entstandenen Kränkung. Alwys sah die Bilder aus Kubricks 2001-Film vor seinem geistigen Auge, wie einer der Affen einen Knüppel nimmt und damit auf die anderen eindrischt, dazu hörte er mehr verschwommen als deutlich die Schreie aus Deep Purples „Child in Time“, vermischt mit Gesprächsfetzen aus der Kaffeerunde. Alles zusammen hörte er wie unter einer Käseglocke, wie weit aus der Ferne zu ihm dringend. Im gleichen Moment war er sich sicher, dass er genau diese Szene, diese Stimmung, diese Empfindung und diese Einsicht schon einmal authentisch genau gelebt hatte. Er wusste nur nicht, ob er damals schon Alwys war.

Machte das denn Sinn? fragte er sich jetzt selbst als sein eigenes alter ego in der Hängematte. Wie er auf die Runde blickte, sah er, wie er, Alwys, aufstand, was sonst niemand bemerkte, zu sich herüber zur Hängematte blickte und sich selbst fast unmerklich mit dem Kopf zunickte: Ja, das macht Sinn!

Im gleichen Moment, als er aus der Hängematte zurück genickt hatte, war dort aber kein zweiter Alwys mehr und der erste Alwys war es, der da am Tisch aufgestanden war und jetzt zur Trauerweide hinüberblickte, wo kein zweiter Alwys mehr schaukelte und sich dabei selbst zusah. Er kniff die Augen zusammen, um sich zu vergewissern, dass da wirklich niemand war. Als Schlagzeuger Ian Page der Band Deep Purple nach einem furios geräuschbesessenen Gitarrensolo von Richie Blackmore die drei Schläge von „Child in Time“ durch einen etwas längeren, aber akzentuierten Wirbel ersetzte und die Hammond-Orgel von John Lord dazu den Song als eben diesen – „Child in Time“ – identifizierte, sagte Alwys, Jelena, zeigst du mir das Faxgerät? Josh, danach proben wir im Keller für Samstag und für Sonntag morgen sollten wir uns das Rheintal hinaufwerfen, es wird schon irgendein Gemeindefest stattfinden, bei dem wir den Bürgermeister von St. Goar, der ja meist auch Vorsitzender des Verkehrsvereins ist, abfangen können, vielleicht einfach nach dem Kirchgang an seinem Stammtisch. Bis dahin müsste mal jemand dort anrufen und den Namen herausbekommen.“

Legu blickte ziemlich ernst zu ihm und sagte nur, „ok“, und „ich rufe den vom Funk an. Wettervorhersage gegen Rheingold Vorspiel, Deal!“

Die „Komödie des Geldes” von Arthur Zupf erscheint mit freundlicher Genehmigung vom 1. bis 24. Dezember 2024 als Erstveröffentlichung exklusiv im Extradienst. Rückmeldungen sind explizit erwünscht.

Über Arthur Zupf:

Unter der Kennung "Gastautor:innen" fassen wir die unterschiedlichsten Beiträge externer Quellen zusammen, die wir dankbar im Beueler-Extradienst (wieder-)veröffentlichen dürfen. Die Autor*innen, Quellen und ggf. Lizenzen sind, soweit bekannt, jeweils im Beitrag vermerkt und/oder verlinkt.

Ein Kommentar

  1. Martin Böttger

    “Die Vögel sangen aus der kolossalen Trauerweide in der Mitte des verwunschen wirkenden Wendehammers dazu ihr fröhliches Lied.” Wow, hat Bastei-Lübbe schon angerufen?
    Und als Erinnerung an die Fax-Ära:
    im Bonner “Tulpenfeld”, dem seinerzeitigen Hauptstadt-Pressezentrum, gab es ein Postamt (Eingang unter dem Saal der Bundespressekonferenz, und dann direkt rechts), in dem ich meine auf passende Zeilenbreite getippten Manuskripte nach Berlin zur Tageszeitung “Die Neue”, dem Nachfolgeprojekt des “Berliner Extradienstes”, senden konnte. Geschriebener Text, durch die Telefonleitung, beim Postamt abgegeben. Mann brauchte also gar nicht mehr durchs Telefon auf ein Magnetband diktieren. Was für eine technische Revolution! Und am nächsten Morgen war die gedruckte Zeitung aus Westberlin mit meinem Text im Briefkasten in Beuel-Süd! Von Briefträger Heinz eingeworfen, der uns immer brav berichtete, wenn sich merkwürdige Gestalten bei ihm nach unserer WG erkundigt hatten. Wir kannten unseren (immergleichen) Briefträger noch mit Namen, und hatten Zeit für eine freundliche Unterhaltung. Schöne Zeit.

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