Am Samstag brachen Josh und Alwys gegen fünf Uhr am Nachmittag im R 4 auf. Die Rückbank war ausgebaut, damit die Instrumente Platz hatten: Joshs bundlose Bassgitarre, Alwys’ akustische Gitarre mit Stegtonabnehmer und ihre zwei Verstärker. Alwys spielte über einen recht knallig klingenden Carlsbrow-Verstärker, die Marke der Rolling Stones und Josh über einen dazu kontrastierend weich eingestellten Fender. Jede Menge Fußpedale, Echo, Phaser, Equalizer und für jeden ein Lautstärkepedal bildeten auf der blechernen Ladefläche gewissermaßen die rallentierende Grundausstatttung.
Das Wetter hatte sich die Woche über einigermaßen gehalten, aber diesen Samstag hockte Leguan Fritz auf einer der untersten Sprossen seiner Bibliotheksleiter. Das bedeutete Regen, zumindest eine deutliche Wetterverschlechterung. Schwülwarm war es allerdings trotzdem noch. Josh schwenkte direkt hinter der Ausfahrt aus ihrem Stichweg auf die Autobahn Richtung Darmstadt/Frankfurter Kreuz ein und steuerte die Zitadelle der Landeshauptstadt auf der das Festival stattfand in weitem Bogen an.
Alwys und Josh sprachen nicht viel miteinander. Das war gar nicht nötig. Die Stücke saßen, die Woche war für jeden von ihnen einigermaßen gut verlaufen. Alwys hatte seinen Artikel gedruckt noch gar nicht lesen können, denn die Lokalzeitung erschien nur auf der anderen Rheinseite. Vor dem großen Blockflötenkongreß wollte er Dakell noch einmal anrufen, ob es so in Ordnung gewesen sei, und ob es Neuigkeiten wegen der Blockflöten gäbe. Jelena hatte er nur zwei Mal morgens flüchtig gesehen. Sie hatte ihm aber nett zugelächelt, als sie auf dem Weg zu ihrem Deutschkurs war. Heute wollten sie ja alle zum Konzert kommen. Jelenas Familie hatte sich kurz nach ihrer Ankunft einen alten Hanomag zugelegt, der mit Schiffsdiesel fuhr und wie ein Benziner kurz vor dem Kolbenfresser stank. Der Hanomag wirkte gerade so, als hätten sie ihre Paprikazucht noch und müssten jeden Moment auf’s Feld hinaus, um zu gießen. Ja, genauso saßen sie immer vor dem Herrenhaus, so, als würden sie an einem langen und mühsamen Arbeitstag eine Vesperpause einlegen. Mal wurde geschnattert wie ein Ententeich, mal schwiegen sie sich nur an. Meistens stand der schlosserblaue Hanomag, Baujahr 1965, vor der Republik freier Flaschenhals auf der Straße wie ein verlorenes Spielzeug eines Handwerkerriesen.
„Mit dem Hanomag hätte ich nur zweimal für meinen Umzug fahren müssen und das Bett wäre sicher auch noch heil,“ dachte Alwys, während sie an den wie große Schneebälle weiß blühenden Kirschbäumen vorbeifuhren, „Wie geschaffen für einen Waschmittelwerbespot, blütenweiß alles.“
Der Rhein kam in Sichtweite, Josh blinkte und fuhr denn gemächlich von der Autobahn ab.
„Meine Klavierstunde ist auch bald fertig,“ sagte er zusammenhanglos zu Alwys und meinte damit seine Diplomarbeit über Ibsens Theaterstück. „Angel muss nur noch X, Y und Z bauen, dann ist ihr alphabetisches Relief auch fertig.“
„Ein Relief soll das sein? Wusste ich nicht,“ erwiderte Alwys abwesend. „Ich dachte, dass würde ein Strukturposter für die Wand.“
„Nein, nein, das wird ein Buchstabenkontinent. Das, was uns das Urland Gondwana an Sprache anvertraut hat, damit wir mit der Erde pfleglich umgehen und uns über sie verständigen können. Sie wird dazu noch das Meer bauen, mit sehr leichter hellblauer Folie, so Frischhaltefolie.“
„Hm, bin gespannt,“ sagte Alwys zu Josh und dachte aber, „hoffentlich habe ich das Kabel mit der kleinen Chinch für den Stegtonabnehmer mitgenommen und den kleinen Schraubenzieher, mit dem ich den bevorzugten Frequenzbereich auf die Anlage abstimmen kann.“
Dann standen sie erst einmal an der Einlassschranke vor dem Zitadellengelände fest. Die Kontrolle für Fahrzeuge musste erst zum Festivalbüro laufen, um die Identität von Josh und Alwys mit dem Programm abzugleichen. Sein Walkie Talkie war defekt, also half nur Walkie. Nach einer Viertelstunde hob sich der Schlagbaum und sie wurden durchgewunken. Fast nur mit Standgas ging es eine Tordurchfahrt hinauf auf das weitläufige Gelände. Hunde und Kinder sprangen vor ihnen auf der Fahrbahn wild durcheinander und wurden von ihren Müttern in transparenten indischen Kleidern im Wortsinn zurückgepfiffen, Kinder und Hunde zugleich. Man wusste gar nicht, mit wem sehr elaboriert geschimpft wurde, mit den halstuchtragenden Hunden oder mit den schmutzigen Kindern. Überall gab es Buden mit den üblichen Jahrmarktsverköstigungen, links oben neben der Einfahrt war ein asphaltierter Platz, auf dem ein Flohmarkt stattfand. Second hand Lederhosen, Pfeifen aller Art, gebrauchte Vinyl-Schallplatten, Aktion Sühnezeichen hatten einen Stand, die Deutsche Friedensgesellschaft verschenkte Button mit der Aufschrift „Schwerter zu Pflugscharen“ und ein mürrischer Mitarbeiter vom Städtischen Aufsichtsamt ging herum und kassierte die Platzmiete von den Kleingewerbetreibenden. Den Wagen ließen sie nach ca. hundert Metern auf einem Parkplatz der Festivalleitung stehen und trugen danach ihre Ausrüstung über einen ziemlich rutschigen, weil feuchten Lehmweg durch einen Hain hinauf zu einer kleineren Bühnen neben einem alten römischen Wehrturm, der fast komplett erhalten war, dem Drususstein. Vor der Bühne stieg eine Wiese amphitheaterartig an. Eine Bühnenaufsicht zeigte ihnen die Stromanschlüsse und nach einer halben Stunde waren sie spielbereit. Um sieben Uhr sollte es beginnen. Zwei punkig wirkende, korpulente Frauen stellten sich ihnen beim Einspielen und Soundcheck als Verantwortliche von der Projektgruppe des Festivals vor. Sie wollten mit der Show, zu der sie die Mitglieder eines großen Fitnessstudios eingeladen hatten, einmal zeigen, wie absurd körperliche Aufrüstung sei und zu welcher Bewegungslosigkeit letztlich die hirnlose Kraftmeierei führen würde. Das sei körperliches Wettrüsten und auch nichts anderes als das, was die Russen und Amerikaner miteinander veranstalten würden. „Klar, ja, klar,“ antworteten Josh und Alwys nur. Langsam kamen die Leute vom Fitnessstudio dazu. Braun gebrannt von der Sonnenbank und in bunten Hemden. Eine dürre Moderatorin hatte weiße Western-Stiefel mit Sporen an und eine Fransenweste aus rotem Knautschlack. Ungefähr zehn Männer und drei Frauen schienen die Showstars zu sein. Sie bewegten sich tatsächlich nicht gerade aufgeregt, sondern ziemlich entspannt.
„Ihr macht die Musik dazu?,“ fragte einer der Männer, drehte sich dann aber ohne auf Antwort zu warten wieder um. Scheinbar war eine der hiesigen Discos Sponsor der Gruppe. Auf ihren gelben T-Shirts standen groß die Lettern L’escalier, ein Tanzschuppen, zu dem man ab einem Dreier-BMW aufwärts fuhr oder sich fahren ließ. Ein anderer fragte, ob es Josh und Alwys was ausmachen würde, wenn sie während des Körpereinsatzes eigene Musik abspielen würden.
„Na ja,“ antwortete Alwys etwas unsicher, „vielleicht sollten sich die Musiken nicht zu sehr unterscheiden, oder?“
„Ist schon Ok,“ warf ihnen eine der punkigen Projektgruppenfrauen zu.
Langsam füllte sich die Wiese mit Publikum. Einem sehr gemischten Publikum. Es bestand aus den üblichen Festivalbesuchern aus der alternativen Szene. Menschen, die rund um die Zitadelle während des Festivals ihre Zelte aufschlagen durften. Die anderen waren wahrscheinlich Mitglieder des Fitnesstudios oder Freunde der Muskelprotze. Alle ziemlich schlank tailliert, groß und oft blond, echt oder gefärbt. Das Fitnessstudio hatte reichlich Werbung für die Körperperformance gemacht. Ein lokaler Privatsender, bei dem das Studio für sich warb, hatte ebenfalls immer wieder den Auftritt angekündigt.
Jetzt machten die Body Builder Soundcheck. Sie hatten die Musik von den Rockyfilmen mitgebracht, kernig-melodiöser und pathetischer Mainstreamrock mit viel Bläsereinsatz. Josh und Alwys saßen am Bühnerand auf Barhockern. Da sollten sie auch hocken, wenn sie spielten. Die Body Builder machten zu der Musik einige kantige, schiebleerenartige Verrenkungen und wirkten mit ihren sonnenbank gegerbten Gesichtern wie gegrillte Meister Propper, obwohl der ja schon vorgestellt wirkte. Zwischen Männern und Frauen war kein Unterschied festzustellen. Vor lauter Muskelfleisch war bei den Frauen gar keine Brust mehr erkennbar. Alles wölbte sich an den Body Buildern nach vorne. Bei den Männern sah es genau so. Die hatten allerdings Brüste, oder so etwas ähnliches. Ihr stark ausgebildeter Brustmuskel zuckte wie ein Froschschenkel, den man zum Nachweis elektrischer Energie an eine Batterie angeschlossen hatte. Das sollte Körperbeherrschung darstellen. „Alles eine Frage des Willens,“ sagte einer der Vorturner zu Josh und Alwys beim Vorübergehen – allerdings wohl mehr zu sich selbst, als an eine bestimmte Person gerichtet. Die Welt der Strecker-Beuger-Sekte sei wirklich nur Willen und Vorstellung, eine recht schmierige allerdings, wie Josh meinte, „die sind ganz auf Bizeps eingestellt und sonst gar nichts.“ Bei allem, was sie an Merkwürdigkeiten veranstalteten, grienten sie sich an wie Honigkuchenpferde, wie fremdgesteuerte Wesen eines Dr. Mabuse. Alwys und Josh waren darüber erstaunt und auch leicht erschrocken. Denn, so schien es jedenfalls, es hätte jeden Moment eine der hervorquillenden Adern dieser scheinbar gestählten Körper platzen können. Schon bei diesem Vorposieren wurde eifrig applaudiert. Die Rocky-Musik verwandelte den mythischen römischen Ort tatsächlich in eine Gladiatorenarena. Gekämpft wurde um jeden Kubikzentimeter Muskelvolumen. Die Moderatorin in ihren weißen Cowboystiefeln piepste zwischen den Posen die vermeintlichen Künstlernamen der Athleten in die Menge, irgend etwas wie Hannibal Raptor, Herkules II. oder Missing Link, der Unerklärliche. Die drei Damen hatten auch telling names. Eine hieß Andromeda und sollte wohl den galaktischen Nebel meinen. Wegen ihrer vielen Höcker überall dachten Alwys und Josh in ihrer Schmollecke aber eher an Kamele. Walküre war schon treffender und Madonna Ferrata, fanden sie, passte auf die drahtseilumspannt wirkende Frau, falls die Wachstumshormone ihr noch einige weibliche Merkmale zumindest biologisch übriggelassen haben sollte, wie die Faust auf’s Auge.
„Paß’ auf,“ sagte Alwys zu Josh, „die zaubern gleich auch noch eine Madame Proteina aus dem Hut, oder glaubst du nicht, dass in der ersten zwei stecken. Ich bin zwei Krafttanks. Können die eigentlich noch normal auf’s Klo, bei soviel Anspannung? Tamara Press war ja nichts gegen, die sowjetische Kugelstoßgoldmedaillengewinnerin 1960 in Rom.“
„Was Du immer weißt, echt schräg! – Heyh, wir sind dran,“ rief Josh überrascht.
Die bizarre Show hatte tatsächlich längst schon angefangen. Im Publikum war es wegen der lauten Musik und auch dem sichtlichen und unüberhörbaren Amusement aller, der Alternativen und der Fitnessleute, so laut geworden, dass es über den Drususstein hallte wie in einer Bahnhofshalle bei Zugausfällen, wenn alle vor der Abfahrtsanzeige darüber orakeln, wie man die geplante Verbindung doch noch zustande bekommen könnte. Das also war jetzt Joshs und Alwys’ Zeitfenster. Die Frauen von der Projektgruppe kauerten lauernd wenige Meter von der Bühne entfernt und wollten jetzt für das bescheidene Honorar von 150 Mark auch etwas zu hören bekommen. Sobald aber die Rockymusik verklungen und klar war, dass jetzt eine Körperpause stattfand, stand die Hälfte auf und verschwand zum Bierstand hinter dem Mischpult. Die andere Hälfte quatschte.
„Mr. Fosbery gehört gehängt,“ sagte Alwys zu Josh trocken.
„Warum?“, fragte Alwys ebenso cool zurück und stöpselte das Verstärkerkabel in seinen Fretless.
„Er hat den Flop erfunden,“ antwortete Alwys rasch zurück, „und wir sind seine Opfer.“
Er zählte vier vor und beide begannen mit zwei harten Harmonien ihr erstes Stück, genannt Pressburg, eine fetzige Jazzrocknummer, in der Josh als Solist sofort seinen Baß zum Singen brachte, während Alwys ziemlich perkussiv mit dem Daumen die Basssaiten seiner akustischen Konzertgitarre schlug und mit den Fingern gegen den Grundrhythmus Dominantseptnonakkorde einwarf. In der Mitte gab es längere Passagen unisono, in denen Josh und Alwys parallel über verschiedene Skalen quer durch den Quintenzirkel tingelten, um schließlich ganz bluesig in cis-moll anzukommen. Diese Parallelsoli hatte Josh von Wishbone Ash abgeguckt, die das gleiche, aber gut fünfzehn Jahre früher, mit zwei Gitarren veranstalteten. Die Linien waren mehr als bloße Breaks. Sie waren, so empfanden es die beiden Saitenartisten jedenfalls, eine große Verbeugung vor der Einstimmigkeit, vor der Entfaltung der Musik in der Zeit. Da hast du schon alles, was Musik sein kann, hatte Alwys zwischen der ersten und zweiten Frikadelle während einer Probe einmal gesagt. Die Zeit selbst ist der Rhythmus, der gedehnte Moment, den wir an seinen Kanten nur zum klingen bringen. In einem Bücherkunstwerk am Hochhaus, wo er ja einmal wohnte und Passanten ihre alten Bücher einstellen und interessante, auch alte, wieder mitnehmen konnten, hatte et einmal ein ganz dünn bedrucktes Taschenbuch über Pygmäen gefunden, die Aka Pygmäen vor allem. Dort hatte er gelesen, dass die gar kein Wort für Musik hätten, sondern das ganze Dasein als Musik begreifen würden, als klangliche Ausdehnung in der Zeit. Die Zeit selbst sei sogar Musik für die Aka, stand dort geschrieben. Die Aka Pygmäen könnten daher, obwohl sie reichlich auf sehr differenziert gestimmten hohlen Baumstämmen welche machten, nicht über Musik reden, weil eben alles Musik sei. Tag, Nacht, Jagen, Essen, Schlafen, Lieben, Wachsen, einfach alles.
Das fiel Alwys wieder ein, als er ein kleineres Solo einbrachte, vier Takte Sequenz abwärts und danach ein paar Oktavgänge à la Joe Pass. Das klang immer nach mehr, als es war. Manchmal setzte er noch eine Unteroktave im Stil von Volker Kriegel dazu, dessen berühmte Oktavgabel, die er einmal aus dem H-Dur-Griff abgeleitet hatte. Damit konnte man schön relaxed gegen das Tempo spielen. Josh zerlegte dazu die Zählzeiten in immer kleinere Einheiten, bis er schließlich triolisch in die Linie von Alwys wieder einschwenkte. In diesem Moment gab es eine gehörige Rückkopplung im Verstärker von Josh und danach roch es verkohlt auf der Bühne.
Die „Komödie des Geldes” von Arthur Zupf erscheint mit freundlicher Genehmigung vom 1. bis 24. Dezember 2024 als Erstveröffentlichung exklusiv im Extradienst. Rückmeldungen sind explizit erwünscht.
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