Alwys spielte noch einen improvisierten Schluß und brach die erste Nummer damit ab. Aus Joshs Verstärker kam kein Mucks mehr. Crash. Ein paar Leute klatschten. Es waren so wenige, dass es sich anhörte, als hätte ein moderner Komponist ein Stück über die Abwesenheit von Applaus gemacht. Alwys sah ins Publikum. Sein Blick blieb an einer Person in der Mitte hängen. Es war Jelena, die ihn von weitem ansah. Obwohl keiner der beiden die Pupillen des anderen auf die Distanz hätte fixieren können, wusste Alwys jedoch im nächsten Moment, dass Jelena ihm schon sehr lange in die Augen geblickt hatte. Selbst, als er seine während des Solos geschlossen hatte. Ihr Blick ging ihm unter die Haut. Jetzt registrierte er auch die anderen, Legu, die Familie von Jelena, Harry hatten sie auch noch aufgegabelt und mitgebracht. Der winkte ganz fröhlich und unbedarft. Angel war inzwischen bei Josh, denn sie hatte sofort bemerkt, dass seine Elektrik den Geist aufgegeben hatte. Zum Glück hatte Alwys an seinem viel zu schweren und leistungsstarken Carlsbrow zwei Klinkeneingänge. Der Verstärker war eigentlich für Singer/Songwriter konstruiert worden. Ein Eingang für das Mikro, einer für die Gitarre. Jetzt musste es einer für die Gitarre sein und einer für den Baß. Ging auch, wie sich gleich bei der nächsten Nummer herausstellte, einem sehr nervösen Bossa für Alwys schnellem Daumen im tiefen Register.
“Klar!” Fiel es Alwys wie Schuppen von den Augen, als er sich am Griffbrett entlang abseilte und schon ganz unten angekommen war, Pressburg ist die Hauptstadt der Slowakei gewesen, Bratislava, als es noch nicht mit Tschechien zwangsverbunden war. Wir hatten das Stück ja nur so genannt, weil wir ziemlich Druck machen darin, vor allem Josh. Gepresst eben. Das kann Jelena natürlich nicht wissen. Habe es im Nachhinein für sie gespielt, die Geheimnisvolle.
Nach noch einem weiteren Titel und insgesamt gut fünfundzwanzig Minuten reiner Musik, waren Josh und Alwys der Meinung, dass es jetzt erst einmal gut sei und die Körpershow weitergehen könnte. Das Publikum saß wieder auf der Wiese. Alwys und Josh stiegen auch hinunter ins Gras zu ihren Leuten. Alwys nickte allen zu, sagte, „Hallo,“ und pflanzte sich ganz couragiert in die Nähe von Jelena, die erst einmal gar nicht reagierte. Legu gab ihm einen Klapps von hinten auf die Schulter, „habt ihr schön gespielt. Soviel Musik von nur zwei Leutchen hatte ich gar nicht erwartet. Gefällt mir.“
Die Körperfreaks hatten jetzt auch etwas mehr mit Grips vorbereitet als das alberne Posieren. Posiert wurde zwar weiterhin, aber jetzt in der Gruppe. Drei von Ihnen hatten sich die Gesichter golden geschminkt und trugen goldene Trickots. In Zeitlupe versuchten zwei der goldenen Recken eine goldene Dame auf ihren Fußsohlen rotieren zu lassen wie einen Deckenventilator. Oder die Frau machte auf den dicken Onkeln des einen Handstand und der andere nahm sie mit den Sohlen als Sessel wieder auf. So ging es eine ganze Weile. “Das haben die vom Zirkus Roncalli abgekupfert,” dachte Alwys. Weil es allmählich dämmerte und die Rockymusik auch langsame Stellen hatte, lyrische sogar, wirkte das auch nicht mehr so komplett hirnlos wie am Anfang. Alle waren zufrieden. Nur: eine kritische Stimmung in Sachen körperlicher und militärischer Aufrüstung war überhaupt nicht entstanden. Man hockte einfach beieinander und ließ Politik Politik sein. Die beiden Projektgruppenfrauen hatten zum Glück vorher schon die Haare zu Berge stehen. So sah man nicht ihre Frustration, dass das Konzept einer Body Building Parodie nicht aufgegangen war. Aus der Verstärkeranlage kam jetzt die manchmal krähende, bellende Stimme von Van Morrison. „Too long in Exile“, „Lonely Avenue“ und andere Titel mit seinem Sprechgesang. Das passte jetzt hier hin. „I live on a lonely avenue,“ Alwys hatte das Gefühl, als sei er hier auf und an der Bühne am Drususstein an diesem Abend eines politischen Festivals irgendeine abgefressene Hühnerkeule eines lange schon erkalteten Buffets. Aber das war gar kein so schlechter Zustand, fand er im gleichen Moment. Dann ist das jahrzehntelange Protestlerfest endlich einmal vorbei. Wenn sich die ehemaligen Feinde nicht mehr bekriegen, die körperbesessenen und die ganz bewussten, die den politischen Kampf von der Straße in den Kochtopf verlegt hatten, wo nicht mehr die Makroökonomie analysiert wurde, sondern die Makrobiotik, „dann hat sich doch auch etwas getan, oder?“, schoß es Alwys durch den Kopf.
„Hat sich doch was getan, oder?” fragte er ganz plötzlich in die Runde der mit dem Hanomag angereisten. „Toll, dass ihr gekommen seid. Wir haben zwar nicht so lang gespielt, was Josh? Dafür aber umso intensiver.“
„Danke für Pressburg,“ sagte Jelena als einzige auf Alwys rethorische Frage.
Die zwei punkigen Frauen von der Projektleitung standen plötzlich vor Alwys. Das Stromaggregat wäre leider nicht gleichmäßig gelaufen und hätte plötzlich eine zu hohe Drezahl gehabt. Dadurch sei eine Ampèrespitze entstanden, die dann wohl den Verstärker von Josh gefetzt habe. Das täte ihnen leid, sie seien aber versichert.
Josh und Alwys nahmen es zur Kenntnis, wie überhaupt den gesamten Auftritt. Das Publikum hatte sich mittlerweile komplett verzogen. Die Stimmung auf der Wiese vor der leeren Bühne war schlichtweg heimelig. Es war fast dunkel, die Augen hatten sich bereits daran gewöhnt, die Silhouette des mächtigen römischen Wehrturms ragte wie ein schwarzer Monolith ehrfurchtsvoll in den Himmel. Zum ersten Mal saßen die unterschiedlichen Bewohner der Republik freier Flaschenhals gemeinsam zusammen. Nicht wie sonst getrennt voneinander, die vom Wirtschaftsgebäude im Hof am Schweinestall und die aus der Slowakei vor dem Herrenhaus. Jelenas Bruder Franticek fand die Körperschau zusammen mit der Rocky-Musik ziemlich cool. Jelenas Onkel Claus, der den Hanomag gefahren hatte, übrigens auch.
Der Mann am Mischpult ließ jetzt Keith Jarretts esoterisch die späte Dämmerung aufheizendes Köln Concert laufen. Die Politik oder Gesellschaftskritik war in dem Moment Lichtjahre von diesem Platz entfernt. Angel klärte Jelena über die Geschichte der Wehranlage auf. Franticek und sein Onkel schritten die Wiese Richtung Wehrturm ab. Legu lag auf dem Rücken und blickte in den Himmel und Harry versuchte ohne zu fragen ein paar Akkorde auf Alwys Gitarre zu spielen. Der nahm ihm das gute Stück aber nach kurzer Zeit weg und legte es in den Hartschalenkoffer zurück. „Das ist kein Spielzeug,“ raunzte er ihn an.
„Ok, Ok,“ kam es zurück, „und du heißt nicht Frank.“
Von der großen Festwiese schallte der Hauptgig zu ihnen hinüber. Ulla Meinecke sang die deutsche Version von Paul Simons „Fifty Ways to leave your lover.“
„Spiel nicht mehr mit, Britt. Sag nich’, wo du bist, Liz. Mach’ die Tür zu, Su. Du kannst einfach gehn.“
Das war der deutsche Refrain. Josh kommentierte ihn mit witzigen Zwischenbemerkungen, wie etwa: „Das ist keine Art, Art. Du singst mir einfach zu Smart.“
„Der Art Garfunkel hat doch immer schon schöner gesungen als Paul Simon, findet ihr nicht? Selbst die deutsche Cover-Version von der Lindenberg-Entdeckung aus Hessen macht die Nummer besser.“
Es ging niemand darauf ein. Legu meinte nur in das Stöhnen vom Tastentiger Keith Jarrett hinein, dass man doch besser jetzt aufbrechen sollte, sie wollten doch morgen früh nach St. Goar. Angel stand bereits, Jelenas Onkel Claus und Franticek waren auch wieder da und schon waren sie alle verschwunden. Alwys und Josh bekamen beim Instrumentetragen Hilfe und mussten nur einmal den Lehmweg abwärts gehen, vorbei an den Waschanlagen, wo sich einige Festivalbesucher schon die Zähne putzten. Jelenas Onkel stellte sich ihnen selbst noch als Claus vor. Claus mit „C,“ hatte er gesagt. Er wirkte ganz nett. Alwys hatte ihn mit einem Grundig-Radio-Kassettenrekorder manchmal vor dem Herrenhaus Hendrix und alte The Who-Nummern hören gesehen. Meistens lief „Don’t talk about my Generation“ und „Pictures of Lilly,“ von The Who, manchmal Hendrix’ „All along the Whatchtower.“ „Wachturmrock,“ hatte er einmal Alwys zugerufen, als der über den Schotter stapfte. „Alles klar,“ hatte der geantwortet und den Arm zum Gruß gehoben. Claus brachte, außer Harry, alle wieder gut zur Republik freier Flaschenhals zurück. Josh und Alwys waren fast genauso schnell dort angekommen, obwohl sie sich mit dem Wagen im Schneckentempo diesmal durch einige entweder angetrunkene oder tanzende Festivalbesucher, es sah alles gleich hampelig aus, schlängeln mussten. Am Lederhosen-Second-Hand-Stand war ziemlich Betrieb und die halstuchtragenden Hunde tollten immer noch umeinander. Kinder waren nur noch wenige zu sehen.
Das war die „Komödie des Geldes” von Arthur Zupf. Sie erschien mit freundlicher Genehmigung vom 1. bis 24. Dezember 2024 als Erstveröffentlichung exklusiv im Extradienst. Rückmeldungen sind explizit erwünscht.
Ich danke allen Leser*#$¥Innen für Ihre kritische Begleitung. Das motiviert! “Es gibt nur das Ziel, jeder Weg ist Zögern!” ((Franz Kafka). Es geht trotzdem weiter, Ihr Arthur Zupf
P.S.: Könnte Dialektik gewesen sein.
Ein Glück. Ich will nämlich wissen, ob sich Jelena und Alwys noch kriegen.
Super, ich will nämlich wissen, was in der Tatra politisch gejodelt wird.