Im Jahr 2014 wollte eine israelischen Nichtregierungsorganisation mit einer Anzeige im Radio an die Namen von palästinensischen Kindern erinnern, die damals innerhalb von 17 Tagen im Gaza-Konflikt getötet wurden. Das wurde verboten. Es sei „politisch kontrovers“. Der Guardian berichtete. Deshalb schrieb der britische Journalist und Autor Michael Rosen das folgende Gedicht

Don’t mention the children.
Don’t name the dead children.
The people must not know the names
of the dead children.
The names of the children must be hidden.
The children must be nameless.
The children must leave this world
having no names.
No one must know the names of
the dead children.
No one must say the names of
the dead children.
No one must even think that the children
have names.
People must understand that it would be dangerous
to know the names of the children.
The people must be protected from
knowing the names of the children.
The names of the children could spread
like wildfire.
The people would not be safe if they knew
the names of the children.
Don’t name the dead children.
Don’t remember the dead children.
Don’t think of the dead children.
Don’t say: ‘dead children’.

(Erwähne die Kinder nicht.

Sage nicht, wie die toten Kinder hießen.

Die Menschen sollen die Namen der toten Kinder nicht kennen.

Die Namen der Kinder müssen verborgen werden.

Die Kinder müssen namenlos bleiben.

Die Kinder müssen diese Welt namenlos verlassen.

Niemand soll die Namen der

der toten Kinder kennen.

Keiner soll die Namen der toten Kinder sagen.

Niemand soll auch nur denken, dass diese Kinder

Namen hatten.

Die Menschen müssen verstehen, dass es gefährlich wäre,

die Namen dieser Kinder zu kennen.

Die Menschen müssen davor geschützt werden

zu wissen, wie diese Kinder hießen.

Die Namen der Kinder könnten sich sonst

wie ein Buschfeuer verbreiten.

Die Menschen wären nicht mehr sicher,

wenn sie die Namen der Kinder wüssten.

Nenn die Namen der toten Kinder nicht.

Erinnere dich nicht an die toten Kinder.

Denk nicht an die toten Kinder.

Sage nicht: „tote Kinder“.)

Nach der Terror-Attacke der Hamas am 7. Oktober 2023 auf Israel erreichte die Gewaltspirale in Gaza eine ganz neue Dimension. Denn die Vergeltung Israels scheint – trotz gegenteiliger Erklärungen – keine Grenzen zu kennen. Zur Erinnerung: Am 7. Oktober 2023 wurden aufgrund der Terrorattacke etwa 1200 Israelis getötet und 251 Geiseln genommen, darunter 40 Kinder. Die Times of Israel berichtete über deren Schicksale im November 2023. Nach UNICEF-Angaben vom September 2024 waren immer noch zwei israelische Kinder unter den Geiseln, der 5-jährige Ariel Bibas and Kfir, sein sechs-jähriger Bruder.

Im gleichen Monat warnte ein Vertreter von UNICEF, Ted Chaiban, eine ganze Generation von Palästinensern wäre „verloren“. Da waren schon über 10.000 Kinder zu Kriegsopfern geworden, gab es noch eine einzige funktionierende Kinderabteilung im nördlichen Gaza-Streifen, im Kamal Adwan Hospital. Dort traf Chaiban auf nur zwei Überlebende eines militärischen Angriffs: eine Mutter und ihr wenige Monate altes Kind. Das Baby war verwundet worden. Auch dieses Kind blieb im Bericht namenlos.

Seit Ende Dezember 2024 ist nun auch das Kamal Adwan Krankenhaus völlig funktionsunfähig. Sein Direktor befindet sich mutmaßlich in israelischer Gefangenschaft. Laut israelischen Verlautbarungen war dieses Krankenhaus eine Hochburg der Hamas. Laut WHO wurde das Gesundheitswesen im nördlichen Gaza-Streifen „systematisch“ zerstört. Von den Krankenhäusern blieben nur die Namen.

Zu den wenigen verlässlichen Zeugen, die Auskunft geben können, was im Gaza-Streifen wirklich los ist, gehören Ärzte, die aus den USA und aus Europa freiwillig dort medizinischen Beistand leisten. Das bestätigte die New York Times in einem Bericht, der die Eindrücke von amerikanischen Ärzten, Schwestern und Pflegern, die im Gaza-Streifen dienten, wiedergab. Sie sprachen von gezielten Tötungen von Kindern durch Scharfschützen, Traumatisierung, Hunger.

Breaking Point hat mit einem der freiwilligen Helfer im Gaza-Streifen, Dr. Mohammed Khaleel, Anfang 2025 gesprochen. Khaleel wurde in Harvard ausgebildet und arbeitet als Rückenchirurg in Texas. Er machte im Lauf des Jahres 2024 zweimal einen kurzen freiwilligen Einsatz. Nach seinem ersten Einsatz sprach er mit dem Intercept.

Im Gespräch mit Breaking Point verglich Khaleel beide Einsätze. Im April, sagte er, habe es „nur“ wie ein Genozid ausgesehen, im November sei es wie ein „voller Holocaust“ gewesen. Ihm kam der nördliche Gaza-Streifen wie ein Testgebiet technologischer Kriegsführung vor. Erst kämen die Drohnen, danach die, die auf alle schießen, die sich noch bewegen. Man muss still liegen bleiben, erzählten ihm Kinder, die er im Krankenhaus behandelte . Auf Hamas-Kämpfer sei er während seines Einsatzes nicht gestoßen. Er wünschte sich, dass das so nicht weitergeht, dass sich viele dieser Katastrophe entgegenstellen.

In beiden Gesprächen bescheinigt Khaleel seinen palästinensischen Kollegen im Gaza-Streifen ein Ethos, der an Selbstaufopferung grenzt. Mit immer bescheidener werdenden Mitteln, von Hunger und Überarbeitung gezeichnet und auch beladen mit Trauer über persönliche Verluste, bleiben sie ihren Patienten und dem Ringen um deren Rettung treu. „Wir taten, was wir konnten“ schrieb Dr. Mahmoud Abu Nujaila vom Kamal Adwan Krankenhaus im Oktober 2023 an eine Wandtafel. „Erinnert Euch an uns“. Im November wurde auch er zum Angriffsziel, so wie viele seiner Kollegen vor und nach ihm.

Im nördlichen Gaza-Streifen scheint der Tod inzwischen daheim.

Aber er wütet auch im Süden. In der Weihnachtsnacht erfror ein Neugeborenes. Das Mädchen hieß Sela Mahmoud Al-Fasih. Es war das fünfte Baby, das im Dezember 2024 im Süden von Gaza an Unterkühlung starb.

Die internationale Hilfsorganisation „Ärzte ohne Grenzen“ sprach am 19. Dezember 2024 von der „Todesfalle“ Gaza-Streifen. Die Organisation forderte „die Staatengemeinschaft, insbesondere die engsten Verbündeten Israels, auf, ihre bedingungslose Unterstützung für Israel zu beenden und ihrer Verpflichtung nachzukommen, einen Völkermord in Gaza zu verhindern.“

Die EU-Staats- und Regierungschef verabschiedeten am gleichen Tag eine Erklärung. Sie forderten einen sofortigen Waffenstillstand, mehr humanitäre Hilfe und eine Zwei-Staaten-Lösung. Was schriftlich niedergelegt wurde, war ein solcher Minimalkonsens, dass der neue Ratspräsident, der Portugiese Antonio Costa, das Wort Israel in seinem Pressebriefing nicht mal in den Mund nahm.

Bedenkt man, dass die EU und Israel durch einen Assoziierungsvertrag verbunden sind, in dem die politischen Grundlagen der Assoziierung klar definiert sind, und dass überdies die EU für Israel der wichtigste Handelspartner ist, wird völlig klar, dass die EU ihre Möglichkeiten in diesem Beziehungsverhältnis bei weitem nicht ausschöpft. Da mag die EU noch so sehr über ihre globale Rolle sinnieren, wenn es konkret wird, fällt sie auseinander in Einzelinteressen.

Am 4. Januar 2025 schließlich berichtete Axios unter Berufung auf Insider, der US-Präsident plane, weitere Waffen im Wert von 8 Milliarden US-Dollar an Israel zu verkaufen. Am gleichen Tag erinnerte der ehemalige hochrangige CIA-Analyst Ray McGovern in einer Diskussion auf Youtube an das Gedicht von Michael Rosen.

Weil das Unsagbare nicht mehr anders gesagt werden kann.

Noch sind tote Kinder in Gaza wie Müll verscharrt. Oder unter Trümmern begraben. Nicht jedes wurde in weiße Tücher in die Erde zur letzten Ruhe gebettet. Inzwischen sollen es mindestens 14.500 tote Kinder sein. Jeden Tag kommen kleine Körper hinzu, die für uns namenlos sind.

Wir können nicht behaupten, wir hätten das alles nicht gewusst.

Über Petra Erler / Gastautorin:

Petra Erler: "Ostdeutsche, nationale, europäische und internationale Politikerfahrungen, publizistisch tätig, mehrsprachig, faktenorientiert, unvoreingenommen." Ihren Blog "Nachrichten einer Leuchtturmwärterin" finden sie bei Substack. Ihre Beiträge im Extradienst sind Übernahmen mit ihrer freundlichen Genehmigung.