Die U.S. Nachrichtendienste verlieren in ihrer Bedrohungsanalyse 2025 kein Wort über einen russischen Angriff auf ein NATO-Land
In seinem Buch „Wenn Russland gewinnt“ sagt der über sämtliche Medien präsente Militärexperte von der Universität der Bundeswehr München, Carlo Masala, voraus, dass Russland „nach seinem Sieg in der Ukraine am 27. März 2028 Estland“ angreife. Im Interview mit der BILD-Zeitung sieht der Professor für Militärgeschichte an der Universität Potsdam, Sönke Neitzel, in diesem Jahr den „womöglich letzten Friedenssommer“; schon in diesem Herbst könnte Putin die NATO angreifen und die Bundeswehr wäre darauf kaum vorbereitet.
Schon aus verständlichem Selbstschutz warnt der ukrainische Präsident, Wolodymyr Selenskyi, davor, dass Russland, wenn es in der Ukraine nicht gestoppt würde, möglicherweise einen Angriff auf NATO-Gebiete vorbereiten könnte.
Deutsche Geheimdienste sagen einen russischen Angriff voraus
Nach von WDR, NDR und Süddeutscher Zeitung ausgewerteten, ansonsten aber geheimen Lageanalysen verschiedener deutscher Geheimdienste sagen diese einen russischen Angriff auf NATO-Territorium spätestens bis zum Ende der Dekade als „nahezu sicher“ voraus. Der BND-Chef Bruno Kahl sieht russische Streitkräfte spätestens 2030 in der Lage, NATO-Gebiet anzugreifen. . Die Bundeswehr schlug schon seit längerer Zeit Alarm, u.a. mit ihrem ranghöchsten deutschen Soldaten, dem Generalinspekteur der Bundeswehr Carsten Breuer, als Talkshowgast bei Sandra Maischberger.
Auch der litauische Inlandsnachrichtendienst VSD kommt zum Ergebnis, dass Russland in absehbarer Zeit „eine begrenzte militärische Aktion gegen ein oder mehrere NATO-Länder“ starten könnte.
Die Politik nutzt den Alarmismus für eine finanzpolitische Wende
Es ist deshalb nicht erstaunlich, dass auch Politiker solche Warnungen nur zu gerne aufgreifen, können CDU/CSU, SPD und Grüne doch damit begründen, dass alle Ausgaben für die Verteidigungslasten, die ein Prozent des Bruttoinlandprodukts übersteigen, künftig aus Krediten (und das heißt mit Schulden) finanziert werden sollen, wobei es in der Höhe keine Grenze mehr geben soll. Wieviel hunderte Milliarden das sein werden, steht in den Sternen. Wer sich mit dem Haushaltsgebaren von Ministerien ein wenig auskennt, der weiß, dass wenn erst einmal Geld da ist, dann wird es auch ausgegeben, wofür auch immer. Nachdem Friedrich Merz noch kurz vor der Bundestagswahl unerbittlich auf der Schuldenbremse stand und die Ampel wegen 3 Milliarden Ukrainehilfen scheitern ließ, musste der designierte Bundeskanzler mit solchem Alarmismus seine finanzpolitische Wende rechtfertigen: „Whatever it takes“, so will er die Bundeswehr „kriegstüchtig“ (Boris Pistorius) machen. „No Limits“ sekundiert SPD-Chef Lars Klingbeil. Auch der CDU-Sicherheitspolitiker Roderich Kiesewetter, der schon immer für noch mehr Waffen für die Ukraine eintrat, befürchtet Angriffe auf Europa durch Putin. Und der CDU-Verteidigungspolitiker Henning Otte meint, dass „Putins Aggression grenzenlos“ sei. Auch der noch amtierende (und wahrscheinlich künftige) Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius will „nicht ausschließen, dass Russland in wenigen Jahren NATO-Territorium angreift“…“Ab 2029 oder 2030 könnte Putin so aufgerüstet haben, dass Russland zu einem Angriff auf die NATO in der Lage wäre.“ Pistorius warnte weiter: „Wir müssen auch damit rechnen, dass Putin in den nächsten Jahren durch einen Vorstoß an der ein oder anderen Stelle des Bündnisgebiets testen könnte, wie geschlossen die NATO wirklich ist.“
Im Koalitionsvertrag ist Abschreckung die wichtigste Maxime
Angesichts dieses Alarmismus von Seiten von „Militärexperten“ und von Politikern sowie deren Echo in den Medien – gestützt auf geheime Berichte der Nachrichtendienste – ist es wenig verwunderlich, dass im schwarz-roten Koalitionsvertrag auf 7 Seiten (von Seite 125 bis 132) und insgesamt 260 Zeilen sich nur ein einziger Satz zu Rüstungskontrolle, Nichtverbreitung von Nuklearwaffen und Abrüstung findet und das auch nur als „langfristiges Ziel“. Ansonsten kein Wort zu einer Entspannungs- und Friedenspolitik. Das Kapitel Außenpolitik wird eingeleitet durch den Satz „Wir müssen uns verteidigen können, um uns nicht verteidigen zu müssen“, d.h. Abschreckungspolitik ist offenbar die wichtigste außenpolitische Maxime. In der Ukrainepolitik soll es nach dieser Vereinbarung um eine umfassende Unterstützung zur Erlangung einer „Position der Stärke“ gehen mit der Perspektive eines NATO-Beitritts. Verteidigung in Europa ist der schwarz-roten Koalition nicht genug, die neue Regierung will auch noch Präsenz im Indo-Pazifik-Raum zeigen aufgrund einer „systemischen Rivalität“ zu China.
Das letztverbliebene friedenpolitische Aushängeschild kann man kaum ernst nehmen: Um die bilateralen Beziehungen zu den Ländern des Globalen Südens intensivieren, will die neue Bundesregierung – vielleicht in Erinnerung an eine solche Kommission Ende der 70er Jahre unter dem Vorsitz von Willy Brandt – „eine neue Nord-Süd-Kommission gründen“ – gerade so, als ob die Bundesregierung allein eine solche internationale Organisation für Entwicklungsfragen gründen könnte.
Stimmen, die dem Alarmismus widersprechen und für eine realistische Bedrohungsanalyse plädieren, werden nicht gehört
Es gibt nur wenige Stimmen, die diesem weitverbreiteten Alarmismus widersprechen und den damit verbreiteten Ängsten entgegentreten. Das „Bonn International Centre for Conflict Studies (BICC)“ hält einsam dagegen, dass „die derzeitige sicherheitspolitische Debatte in Deutschland Maß und Mitte verlassen“ habe.
Der Alarmismus basiere nicht auf einer serösen Bedrohungslage. In einem Aufruf den 14 Friedensforscher, ehemalige hochrangige Militärs und Vertreter internationaler Organisationen unterzeichnet haben, heißt es:
„Ohne Zweifel ist Russland eine Bedrohung für die europäische Sicherheit, und aggressive Absichten auch über die Ukraine hinaus sind nicht vollkommen auszuschließen – wenn auch als hybride Bedrohungen plausibler als klassisch militärisch. Ein nüchterner Blick auf die ökonomischen und militärischen Kapazitäten wie auch die (realisierbaren) Intentionen Russlands ergibt jedoch, dass wenig dafür spricht, dass Russland sich mit der Nato militärisch anlegen und deren Territorium angreifen könnte oder nur wollte.
Ein Russland, das große Schwierigkeiten hat, seine Ziele in der Ukraine zu erreichen, ist eine beherrschbare militärische Bedrohung. Zudem ist die Nato heute und auf absehbare Zeit in praktisch allen militärischen Belangen ungleich stärker als ihr Gegner Russland. Dies gilt selbst dann, wenn man nur die Ausgaben bzw. die Ausstattung der europäischen Staaten inklusive Großbritannien addiert. In den europäischen Armeen gibt es zugleich deutliche Schwächen u. a. bei Luftabwehr, Drohnen und Munition, die zu beheben sind – was auch Geld kostet. Ohne eine verlässliche amerikanische Sicherheitsgarantie muss sich Europa sicherheitspolitisch neu aufstellen. Auch sind moderne Gesellschaften anfällig, etwa was Angriffe auf kritische Infrastruktur oder im Cyberbereich, aber auch den inneren gesellschaftlichen Zusammenhalt, angeht.
Die derzeitig verbreitete Panikstimmung, begleitet von einer gigantischen Verschuldung für Aufrüstung, löst aber Europas Sicherheitsprobleme nicht. Wichtiger wäre, den Krieg in der Ukraine mit Hilfe kluger politischer Kompromisse über Verhandlungen zu beenden und danach auf der Basis vorhandener Stärke eine Stabilisierung der europäischen Sicherheitsarchitektur anzustreben, in der nicht nur Aufrüstung und Kriegsvorbereitung, sondern auch die zweite Säule der Sicherheitspolitik – Rüstungskontrolle, vertrauensbildende Maßnahmen und Diplomatie – wieder eine zentrale Rolle spielen.
Obwohl dieser Appell schon Anfang April veröffentlicht worden ist, habe ich – anders als wenn Masala und Neitzel die Furcht vor Angriffsplänen Putins schüren – ein mediales oder politisches Echo dazu bisher nirgendwo vernommen.
Auch Stimmen wie etwa die von Michael Rühle, der über 30 Jahre im Internationalen Stab der NATO arbeitete, der vor Panikmache warnte, werden nicht gehört. Rühle erhebt den Vorwurf, dass wer „den Krieg zwischen Russland und der Ukraine zum Weltordnungskonflikt stilisiere und Russland größer mache, als es ist“, das „Geschäft mit der Furcht“ betreibe.
Die Bedrohungsanalyse der sonst so hoch gelobten US-Geheimdienste, wonach Russland unterhalb der Schwelle eines offenen NATO-Konflikts bleibt, ist keine Nachricht wert
In Deutschland wird ja immer wieder das Versagen unserer eigenen Geheimdienste beklagt, und bewundernd auf das Vorbild ausländischer Nachrichtendienste – meist aus den USA – verwiesen, die in der Lage sind, deutsche Behörden etwa vor Verbrechen zu warnen. Die Aufmerksamkeit gegenüber einer umfassenden Bedrohungsanalysen der US-Nachrichtendienste, die doch den besten Überblick über das Kriegsgeschehen und das russische Militär haben, müsste deshalb eigentlich groß sein. Wenn aber die vereinten US-Nachrichtendienste in ihrer jüngsten Bedrohungslage vom März 2025 kein Wort über einen bevorstehenden Angriff Russlands verlieren, so ist das in Deutschland keine Nachricht wert. (Siehe ANNUAL THREAT OF THE U.S. INTELLIGENCE COMMUNITY, S. 16 – 22) In dieser Bedrohungsanalyse ist allenfalls von „Risiken einer unbeabsichtigten Eskalation zwischen Russland und der NATO“ die Rede. Im Ergebnis lässt sich diese US-Geheimdienst-Analyse wie folgt zusammenfassen: Russland bleibt – trotz hoher Kriegskosten – ein widerstandsfähiger Gegenspieler. Sein Mix aus nuklearer Abschreckung, modernisierter Präzisionsmacht und ausgefeilter Cyber/Influence‑Werkzeuge erlaubt Moskau, unterhalb der Schwelle eines offenen NATO‑Konflikts massiven Druck auszuüben.
Ohne die geschürten Kriegs-Ängste stießen die Einschnitte im Sozialsystem möglicherweise auf Widerstand
Würden solche die Bedrohung realistisch einordnenden Nachrichtendienstanalysen aufgegriffen, dann würde man dem Kriegs-Alarmismus die Grundlage entziehen. Den ohne die geschürten Kriegs-Ängste könnten die etwa vom parlamentarischen Geschäftsführer der CDU-Fraktion, Thorsten Frei, angekündigten „unangenehmen Entscheidungen“ bei Gesundheit, Pflege und Rente in der Bevölkerung auf Widerstand stoßen.
p.s.:
Um den Leserinnen und Lesern einen Überblick auf deutsch über diesen Bericht zu geben, hat die KI die Russland betreffende Passage zusammengefasst:
JÄHRLICHE BEDROHUNGSANALYSE DER U.S. NACHRICHTENDIENSTE
1 Strategisch
- Selbstbild Kreml sieht den Krieg in der Ukraine als Stellvertreterkrieg gegen den Westen. Er will seine Einflusssphäre sichern und zugleich westliche Expansion bremsen.
- Kosten‑Nutzen‑Kalkül Trotz hoher Verluste bleibt Moskau handlungsfähig: starker Verteidigungsetat, robuste Wirtschaft (BIP Platz 4 kaufkraftbereinigt) und wachsende Kriegsindustrie.
- Ressourcen & Partner Enge Achse mit China (Dual‑Use‑Güter), Iran (UAVs ↔ Technologie) und Nordkorea (Munition ↔ Devisen). Kooperation mindert Sanktionsdruck und verlängert Durchhaltefähigkeit.
- Nukleare Erpressbarkeit Größtes, modernisiertes Nukleararsenal; greift auf nicht‑strategische Sprengköpfe zurück, um konventionelle Unterlegenheit auszugleichen.
- Geopolitische Hebel Diplomatischer „Spoiler“ in UN‑Foren, treibt Ent‑Dollarisierung in BRICS und nutzt Pol‑Arktis‑Ressourcen als Druckmittel.
- Risikotrend Je erfolgreicher Moskau sich fühlt, desto höher das Eskalationsrisiko bis hin zur nuklearen Drohung.
2 Militärisch
- Kernfähigkeiten intakt Luft‑ und Seestreitkräfte sowie Untersee‑ und Weltraumkapazitäten weitgehend unversehrt; liefern Reichweite bis in den US‑Perimeter (z. B. Kalibr‑LACM von Subs).
- Präzisionsschlagmacht Neue Flugkörperfamilien, Hyperschall‑Gleiter und Gleitbomben erhöhen Schlagzahl und Zielgenauigkeit.
- Heimische Produktion Verteidigungsetat auf Höchststand; Fertigungsstraßen laufen im Drei‑Schicht‑Betrieb. Importsubstitution reduziert Sanktionswirkung.
- Lerneffekt Ukraine EW‑Taktiken, Drohnenschwärme und Artillerieführung wurden iterativ verbessert – Blaupause für zukünftige Konflikte mit NATO‑Beteiligung.
- WMD‑Portfolio Nebst Nuklearkomponente: verdecktes Chemiewaffenprogramm (Novitschok‑Einsätze belegt) und biologische Forschung.
- Weltraum‑Dominanzversuch ASAT‑Raketen, gerichtete Energiewaffen und Tests orbitaler Manöver‑Satelliten; sogar nuklear bestückter Antisatellit in Entwicklung.
3 Digital (Cyber + Information)
- Offensiv‑Cyber Russische Teams haben dauerhaften Zugang zu US‑Kritischer Infrastruktur aufgebaut. Kriegserfahrung in der Ukraine verbindet Cyber‑, EW‑ und kinetische Effekte zu einem wirksamen Mix.
- Influence‑Ops Gezielte Desinformation soll US‑Wahlen delegitimieren und westliche Unterstützung für Kiew erodieren. Werkzeuge: KI‑Deepfakes, Troll‑Farmen (SDA, RT) und gehackte Mailkonten.
- Hybrid Risk Vorpositionierte Malware ermöglicht in einer Krise das gleichzeitige Lahmlegen von Netzen, Satellitenlinks und Logistikketten – Abschreckungswirkung ohne direkte Kollision.
Fazit
Russland bleibt – trotz hoher Kriegskosten – ein widerstandsfähiger Gegenspieler. Sein Mix aus nuklearer Abschreckung, modernisierter Präzisionsmacht und ausgefeilter Cyber/Influence‑Werkzeuge erlaubt Moskau, unterhalb der Schwelle eines offenen NATO‑Konflikts massiven Druck auszuüben.
Kurz: Russland wird sehr ernst genommen, aber kein Wort über einen bevorstehenden Angriff.
Dieser Beitrag erschien zuerst im “Blog der Republik”, hier mit freundlicher Genehmigung des Autors. Wolfgang Lieb ist ein deutscher Jurist und Publizist. Nach dem Studium der Politik und Rechtswissenschaften an der FU Berlin, in Bonn und in Köln arbeitete er in der Planungsabteilung des Kanzleramtes in Bonn (Helmut Schmidt war Kanzler), wechselte als Leiter in das Grundsatzreferat der Landesvertretung NRW in Bonn, war Regierungssprecher des Ministerpräsidenten Johannes Rau und Staatssekretär im NRW-Wissenschaftsministerium. Zusammen mit Albrecht Müller war Lieb Mitherausgeber und Autor der politischen Website “NachDenkSeiten” und wurde mit dem Alternativen Medienpreis ausgezeichnet. 2015 gab er seine Mitherausgeberschaft wegen unüberbrückbarer Meinungsdifferenzen mit Müller über die redaktionelle Linie des Blogs auf. Heute arbeitet Wolfgang Lieb als freier Autor.
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