Von der Verwechslung von Gewinnstreben mit materialistischer Analyse

Seit längerem beklage ich, dass die gesellschaftliche politische Linke selbst ein Musterbeispiel für die vom Neoliberalismus angetriebene Individualisierung bietet. Aktuell zu nennen sind der Westend-Verlag, Herberge des overton-magazins, und ein weiteres Mal die Kolleg*inn*en von den nachdenkseiten. Gift und Galle haben sie einst über Wolfgang Storz’ Querfrontstudie ausgestossen. Und nun?

Bei den nichtrepräsentativen Leser*innen*umfragen von overton war mir, wie vermutlich auch Verlag und Redaktion, aufgefallen, dass die parteipolitische Präferenz der Teilnehmer*innen beim BSW lag. An zweiter Stelle: die AfD. Manipuliert? Vielleicht. Online ist das leicht zu machen. Doch offenbar haben Verlag und Redaktion daraus (voreilige) Schlüsse gezogen. Nicht nur wird dem Neurechten Rainer Zitelmann ein freundliches Forum geboten. Das Buch der frei flottierenden rechten Kanonenkugel Ulf Poschardt aus dem mächtigen Springerverlag wird sogar umsatzlüstern verlegt (und bei den nachdenkseiten gefeiert). Na, dann viel Vergnügen … Auf Verlinkungen verzichte ich hier. Suchen Sie sich den Trash selbst zusammen, ist nicht schwer.

Es gibt Wichtigeres, zweifellos

Wichtiger als diese mikroskopisch relevanten Irrläufereien, ebenfalls weit wichtiger als eine Beerdigung in Rom, ist ein eskalierender Konflikt zwischen Atomwaffenstaaten. Ich will nicht behaupten, dass er “totgeschwiegen” wird. Das geht gar nicht, und wird auch nicht versucht. Seine Bedeutung für das Fortleben der menschlichen Welt wird jedoch kaum adäquat adressiert. Ein lobenswerter Versuch von Lars Lange/telepolis: Atommächte am Abgrund: Indien und Pakistan eskalieren Konflikt – Terroranschlag erschüttert Kaschmir. Indien und Pakistan suspendieren Abkommen, reduzieren Diplomatie. Die Lage bleibt stark angespannt.”

Das Problem ist, dass sich hier trump- – oder wenn Sie so wollen – auch putinähnliche Regimes gegenüberstehen. Sie haben keine demokratisch rückkoppelnde Basis, sondern sind despotengeführt. Die fürchten um ihre Basis zurecht. Und glauben, sie durch Eskalation stabilisieren zu können. In der Vergangenheit waren andere Atommächte, USA, Russland/UdSSR und VR China, verantwortungsvoll genug, öffentlich oder diskret, aber immer mässigend, einzugreifen. Doch sie konkurrieren nun selbst innerhalb dieser Eskalation miteinander. Meine These: das ökonomisch auf der Überholspur fahrende China hat noch am ehesten ein Eigeninteresse an Kooperation statt Eskalation. Ein klassischer Fall für Diplomatie im UN-Sicherheitsrat. Diplomatie? Gibts die noch?

Und nun zur Linken

In der vorgenannten wahrlich wichtigen Frage ist sie politisch komplett abgemeldet. Warum? Und wie und was kann daran geändert werden? Der konstruktivste Beitrag dazu war gestern dieses Jacobin-Interview, das Helmer Stoel mit Grace Blakeley führte: »Im Kapitalismus gibt es keinen freien Wettbewerb« – Der Neoliberalismus als System der freien Märkte? Grace Blakeley erklärt, warum diese Vorstellung falsch ist: Zentralisierte Planung ist im heutigen Kapitalismus allgegenwärtig.” Da können auch Grüne noch was von lernen. Wenn sie noch lernen wollen …

Danke, gute Arbeit. Weitermachen.

Über Martin Böttger:

Avatar-FotoMartin Böttger ist seit 2014 Herausgeber des Beueler-Extradienst. Sein Lebenslauf findet sich hier...
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