Über russische Schuld und westliche Unschuld
In der Psychologie gibt es den sogenannten „fundamentalen Attributionsfehler“. Danach wird das Handeln einer Person primär als deren subjektives, inneres Wesen begriffen. Die Umstände des Handelns werden negiert. Diesen Fehler begehen all jene, die das russische Handeln der letzten Jahre, wenn nicht Jahrzehnte, primär damit zu erklären suchen, dass alles allein Putins Schuld ist: Einmal KGB – immer KGB. In anderen Versionen gilt das Russland unter Putin als „natürlich“ aggressiv, es dulde keine Demokratie in der Nachbarschaft, strebe die Wiederherstellung der Sowjetunion an. Auch der Erklärungsversuch, dass der Krieg gegen die ukrainische Zentralgewalt unter anderem dazu diene, die Bevölkerung der Russischen Föderation unter der diktatorischen Knute von Putin zu halten, gehört dazu.
Der Vorteil einer solchen fehlerhaften Beschreibung liegt darin, dass sich damit die Frage im Westen (fast) erledigt, was man selbst mit alledem zu tun hat. Natürlich nichts, eine These, die Matt Orfalea in einem kurzen Video gründlich zerlegte. Aber gemeinhin gilt: Wer der Nato eine Mitschuld am Krieg in der Ukraine gibt, behauptet, er wäre vermeidbar gewesen, wurde gar provoziert oder hätte bereits im Frühling 2022 beendet werden können, ist entweder ein russischer Desinformant oder ein Wasserträger des Kremls.
Die westliche Sichtweise führt dazu, dass alle Ereignisse so portraitiert werden, als seien sie aus der Zeit gefallen. Sie passieren anscheinend ganz plötzlich, ganz wie ein Hagelsturm, ohne Vorwarnung und ohne jeden menschlichen Einfluss auf das Geschehen: Ein Krieg bricht aus, ein Konflikt vertieft sich, die russische Aggression gegen die Nato wird kommen. Die Ukraine wird siegen (von der Leyen, 24.02. 2022).
“Jetzt wirklich”
Dazu gehört auch, dass die aktuelle Bundesregierung nunmehr entdeckte, dass sie das Ziel des israelischen Vorgehens im Gaza-Streifens „nicht mehr versteht“, und der Bundeskanzler erklärte: „Wenn Grenzen überschritten werden, wo einfach das humanitäre Völkerrecht jetzt wirklich verletzt wird, dann muss auch der Bundeskanzler etwas dazu sagen.” Frau von der Leyen ist plötzlich entsetzt, dass im Gaza-Streifen Frauen und Kinder ermordet werden. Der westliche Meinungstanker dreht sich ein bisschen. (In der Washington-Post vom 28. Mai fiel sogar das „G“-Wort). Echtes Entsetzen oder ein Politikwechsel sehen anders aus.
Sehr viel grundsätzlicher aber liegt einer solchen Sichtweise eine beschädigte Eigenwahrnehmung des Westens zugrunde. Diese reicht weit in die Geschichte zurück. Die „Entdecker“ der Welt kamen, um zu morden, um zu plündern und um zu unterjochen. Sie empfanden sich als Vollstrecker göttlichen Willens. In einer zunehmend säkularer werdenden westlichen Welt, ist es die Monstranz der sogenannten „liberalen Demokratie“.
Nicht die erfolgreichen nationalen Befreiungsbewegungen, sondern der demokratische Umbruch in Mittel- und Osteuropa wurde umgehend in ein Selbstverständnis des Westens als geschichtlicher Sieger, der das historisch Überlegene auf der Welt repräsentiert, umgemünzt. Man kann das im Gespräch zwischen Glenn Diesen und Lawrence Wilkerson gut nachlesen: „Ein CIA-Agent sagte mir einmal: `Larry, es gab noch nie eine Waffe, ein Werkzeug oder ein Instrument der nationalen Politik, das so mächtig war wie das, was wir jetzt haben, denn wir haben jetzt die liberale Demokratie auf unserer Seite.`“
Zutiefst zerstörerisches Verhalten wird in einer solchen Gedankenwelt allenfalls als vorübergehender „Fehler“, als bedauerliche Abweichung vom reinen inneren Wesen begriffen. Deshalb bezeichnete Fiona Hill, eine bekennende britische Neokonservative, die USA einmal als „belastete Supermacht“. Deshalb charakterisierte der ehemalige UN-Botschafter Israels, Gilad Erdan, 2024 sein Land „als das moralischste auf der Welt“.
In einer äußerst verzweifelten Äußerung rechnete Ruth Beckmann im Standard mit dem Glauben an das „innere“ Gute ab. Sie schrieb: „Unser Glaube an das Wunder, dass der Staat der Überlebenden der Vernichtung ein gerechter und moralischer sein würde, war genauso kindisch wie der Glaube, dass geschlagene Kinder bessere Menschen sein könnten.“
Deshalb wurde in der „Zeitenwende“ postuliert, dass man all zu lange zu naiv und vertrauensselig gewesen sei im Umgang mit Russland, wo wir doch nur Gutes im Schilde führ(t)en. Ach ja?
Nato-Russland-Vertrag 1997
Am 27. Mai 1997 wurde der NATO-Russland-Grundvertrag in Paris unterschrieben und trat umgehend in Kraft. Vor nicht einmal 30 Jahren versicherten die Vertragspartner (NATO, Russland), sich nicht mehr als Gegner anzusehen. Das Ziel lautete, dass sie „gemeinsam im euro-atlantischen Raum einen dauerhaften und umfassenden Frieden auf der Grundlage der Prinzipien der Demokratie und der kooperativen Sicherheit schaffen werden.“ Ausgangspunkt des Grundvertrags war die Feststellung, dass die Sicherheit im euro-atlantischen Raum „unteilbar“ ist. Die Prinzipien der UN-Charta, die allgemeinen Menschenrechte und die Beschlüsse im Rahmen der KSZE bzw. der OSZE sollten das künftige Handeln der Parteien bestimmen. Der Vertrag beschnitt nicht die Souveränität beider Seiten, eigene sicherheitspolitische Entscheidungen zu treffen. Ausdrücklich aber wurde festgehalten: „Alle von der NATO oder Russland gemeinsam oder einzeln getroffenen Massnahmen müssen mit der Charta der Vereinten Nationen und den Leitprinzipien der OSZE im Einklang stehen.“
Jelzin habe mit der Unterschrift zu diesem Vertrag seinen Widerstand gegen die Nato-Osterweiterung aufgegeben, war bei der Deutschen Welle im Dezember 2024 nachzulesen, die zu beschreiben suchte, wie Putin vom Freund zum Feind mutierte. Eine solche Behauptung hält keiner kritischen Prüfung stand.
Das US-State Department beschrieb sehr klar das Wesen dieses Grundvertrags: Russland hat kein Veto-Recht über Nato-Entscheidungen. Der Vertrag hat mit der Nato-Erweiterung nichts zu tun.
Unter Nutzung von KI erhält man auf die Frage, ob Russland jemals der Nato-Erweiterung nach Osten zustimmte, die folgende Antwort: “No, Russia has not accepted NATO’s expansion. In fact, Russia has consistently objected to NATO’s eastward expansion, viewing it as a threat to its security. While some argue that verbal assurances were made to Russia about non-expansion, NATO claims there were no written guarantees or formal agreements limiting NATO’s ability to expand.“
Übersetzung: “Nein, Russland hat die Erweiterung der NATO nicht akzeptiert. Tatsächlich hat Russland die Osterweiterung der NATO stets abgelehnt, da es sie als Bedrohung seiner Sicherheit ansieht. Während einige behaupten, dass Russland mündlich zugesichert wurde, nicht zu expandieren, behauptet die NATO, dass es keine schriftlichen Garantien oder förmlichen Vereinbarungen gab, die die Fähigkeit der NATO zur Expansion einschränkten.“
Natürlich kann eine Antwort einer KI nur so gut sein, wie die, die sie fütterten. Tatsächlich hat die Nato recht, dass es keine schriftlichen oder förmlichen Vereinbarungen gab. Die „Behauptungen“, dass es mündliche Zusicherungen gab, sind dagegen schriftlich belegt, nachzulesen in Originaldokumenten und ihrer Auswertung durch das „National Security Archive“ (What Gorbatchev heard; What Yeltsin heard), darunter auch die Niederschriften von Primakow (Dokument 22 in: What Yeltsin heard).
Die Nato-Russland-Grundakte macht deutlich, was damals unterschrieben wurde: das Ziel unteilbarer Sicherheit in Europa bzw. von Vancouver bis Wladiwostok, in der die Sicherheit des einen auch die Sicherheit des anderen ist. Die Verfestigung einer militärischen Bündnisstruktur – der Nato -, die sich nicht als inklusiv versteht (ohne Russland), läuft dem diametral entgegen.
Joe Biden 1997
1997 hielt der damalige Senator Joe Biden eine Rede zur ersten Nato-Erweiterung vor dem Atlantic Council. Er sprach darüber, dass er niemanden Wichtigen in Moskau getroffen hätte, der ernste Sicherheitssorgen wegen der Nato-Erweiterung hatte. (Ab Min 15: 38) Die hätten die Erweiterung akzeptiert. Die öffentliche Opposition des Kremls sei nur ein psychologisches Problem, ein Reflex auf den imperialen Verlust. Sie sei verletztem Stolz und einer unklaren Vorstellung über die russische Rolle im 21. Jahrhundert geschuldet… Zur Belustigung aller erzählte er ebenfalls, was er einem Russen geantwortet habe, der meinte, die US-Politik würde Russland in Richtung China drängen: Viel Glück damit, habe er erwidert. Versucht es vielleicht auch mit dem Iran … Jeder wisse, Russland habe keine andere Alternative, als nach Westen zu schauen (und sich ihm unterzuordnen).
Zum Nato-Russland-Grundertrag erklärte Biden damals: Russland könne nun beweisen, dass es ein verantwortlich handelnder Staat sei. Biden kam gar nicht in den Sinn, sein eigenes Land, geschweige die Nato mit gleicher Elle zu messen. Die Nato-Osterweiterung legitimierte Biden mit einer „moralischen Pflicht“ gegenüber den Nato-Bewerbern aus Mittel- und Osteuropa, so wie das damals auch im Bundestag geschah. Seit wann ist es moralisch, die Hoffnung aller europäischen Völker auf eine stabile und inklusive Friedensordnung zu zerstören?
Tatsächlich ging es seit 1990 den USA allein darum, ihre führende Rolle in Europa zu behalten. Dass das die Sowjetunion, später Russland, isolieren, dass dadurch politisches Kalkül militärischen Erwägungen Platz machen würde, war eingepreist. 1990 bestand der Warschauer Pakt nur noch auf dem Papier, und auch das wussten damals alle. Jeder möge das alles in einer ganz unbefangen geschriebenen Analyse der CIA-Repräsentanz in Moskau zur „raison d’être“ der Nato vom Juni 1990 nachlesen.
Nein, auch wenn sich Russland nun schon seit mehr als 30 Jahren beschwert, der eigentliche Verrat des Westens wurde nicht an Russland begangen, sondern an allen, auch an der eigenen Bevölkerung. Allen Nationen Europas hätte das Gemeinsame Haus Europa eine sichere und friedliche Heimstatt geboten – von Lissabon bis Wladiwostok. Im OSZE-Rahmen wären auch die Amerikaner und Kanadier Mitbewohner gewesen.
Aber die „einzig“ verbliebene Supermacht war nicht bereit, als gleiche Macht unter gleichen zu agieren. Ihre Nato-Verbündeten, einschließlich Deutschland, machten bei diesem bösen Spiel mit und erhaschten so einen Zipfel des Gefühls, die Welt wenigstens ein bisschen mitzuregieren.
Nato-Europa verunsichert
Heute sind die europäischen Alliierten der USA völlig verunsichert, denn sie brauchen den Oberboss in Washington für alles, mögen den aktuellen aber ganz und garnicht. Da war der alte Biden, den Deutschland mit der höchsten staatlichen Auszeichnung bedachte, doch von freundlicherem Kaliber. Der spielte nur manchmal ganz unverhüllt, wie in Sachen NordStream 2 im Februar 2022 öffentlich aus, wer das Sagen hatte, und der ehemalige Kanzler Scholz quittierte es mit dem Schweigen eines Dieners vor dem Herrn.
Vor dem Atlantic Council 1997 trat ein eloquenter und äußerst selbstgewisser Joe Biden, der sich als typischer Vertreter der„unverzichtbaren“ Nation präsentierte, die in Europa (und weltweit) für Ordnung sorgen muss. In dieser Kontinuität agierte er später als Präsident. Zwar inzwischen schwer vom Alter gezeichnet, blieb er felsenfest überzeugt, als Präsident der USA zum Herrscher der Welt berufen zu sein, und über alle Mittel zu verfügen, um mit Zuckerbrot und Peitsche das Imperium zu verteidigen. Schon 1997 war er mit geschichtlicher Blindheit geschlagen.
1999 wurde die Idee einer „Partnerschaft“ zwischen der Nato und Russland in Belgrad erstmals zerbombt. In einem Interview im Jahr 2024 erinnerte der russische Außenminister Lawrow daran, dass diese (völkerrechtswidrige) Nato-Entscheidung einen tiefen politischen Eindruck in Russland hinterließ. Aber noch war das Tischtuch zwischen Russland und Nato nicht endgültig zerschnitten. In seiner Rede vor dem Deutschen Bundestag 2001 bekannte sich Putin zu einer Partnerschaft mit dem Westen.
Ende 2024 beschäftigte sich der bereits erwähnte Artikel der Deutschen Welle vom 31.12. 2024 auch mit den weltpolitischen Ambitionen Putins. Darin hieß es: „Aus seinem Anspruch, dass Russland eine Großmacht, eine Weltmacht, ja Supermacht bleiben müsse, hat Putin nie einen Hehl gemacht. Schon bei seinem Amtsantritt als Ministerpräsident vor 26 Jahren sagte der Ex-Geheimdienstchef: „Wir müssen unsere Autorität erhöhen und dürfen uns unserer Interessen und Einflusszonen nicht schämen. Russland war und ist eine Großmacht. Wir dürfen nicht zulassen, dass unsere Meinung ignoriert wird. Diese Forderung wiederholte er auch bei seiner als eher kooperativ empfundenen Rede im Deutschen Bundestag 2001.“ Im Jahr 2024 zitierte Deutschen Welle korrekt aus der Antrittsrede Putins als russischer Ministerpräsident. Die Behauptung, Putin habe das vor dem Deutschen Bundestag wiederholt, ist dagegen völlig aus der Luft gegriffen.
Tatsächlich plädierte Putin vor dem Bundestag für ein gemeinsames Haus Europa und warb dafür, „dass Europa seinen Ruf als mächtiger und selbstständiger Mittelpunkt der Weltpolitik langfristig nur festigen wird, wenn es seine eigenen Möglichkeiten mit den russischen menschlichen, territorialen und Naturressourcen sowie mit den Wirtschafts-, Kultur- und Verteidigungspotenzialen Russlands vereinigen wird.“ Das Kalte-Kriegs-Denken sei überholt. Russland strebe nach Partnerschaft, nach gleichberechtigter Mitbestimmung.
Auszüge aus der Antrittsrede des frisch bestellten Ministerpräsidenten Putin 1999 fand ich mit Hilfe des SWR : „Russland ist eine Großmacht“. Dort findet sich eine archivierte Sendung aus dem Jahr 1999. (16 Min) Damals berichtete der SWR über politische Probleme in Russland. Mehrere Ministerpräsidenten war verschlissen worden. Das Land war zudem in einer tiefen Wirtschaftskrise. In der SWR-Sendung 1999 wurden auch Auszüge aus der Rede von Putin eingespielt. Was 2024 von der Deutschen Welle gerügt wurde, trieb damals niemanden im Westen um. Denn Russland lag am Boden, sozial ausgezehrt, das Land drohte womöglich zu zerbrechen und wurde zusätzlich vom Terrorismus geplagt. Das war nicht das Russland, dass sich dessen Bürger wünschten, auch nicht die damals politisch sehr mächtigen Oligarchen.
Nobles Grundgesetz
Deshalb lautete der politische Auftrag von Jelzin an Putin, als er den Platz als Präsident der Russischen Föderation Ende 1999 räumte, sich um Russland zu kümmern („take care of Russia“). Darauf verpflichtete sich der neugewählte Präsident Putin im Mai 2000. So wie russische Präsidenten muss auch jeder deutsche Bundeskanzler dafür Sorge tragen, dass die deutsche Meinung international nicht ignoriert wird. Ganz besonders, da unser Grundgesetz fordert, dass von deutschem Boden nur Frieden ausgehen soll. Tatsächlich ist das sogar eine Legitimation für die EU-Integration. Sie soll zu Frieden auf dem ganzen europäischen Kontinent beitragen (Art 23 GG) und dafür sorgen, dass europäische Interessen weltweit gehört werden. Das Ziel ist nobel. Es ist aus den Lehren der Geschichte geboren, an die sich seit der „Zeitenwende“ allerdings auch kaum einer erinnern will.
Die EU hat sich längst zu „Europa“ umdefiniert. Das führt unter anderem dann dazu, dass sich zwei EU-Länder (Deutschland und Polen) nun im Wettbewerb befinden, wer die größte europäische konventionelle Armee haben wird. Dabei haben beide komplett vergessen, dass die Türkei, ebenfalls ein europäisches Land, die zweistärksten Streitkräfte in der Nato hat (etwas unter 500.000). Russland wiederum, das größte europäische Land, soll über etwa 1,4 Millionen aktive Streitkräfte verfügen. Aber Russland wurde aus Europa weggedacht, geistig und politisch. Das wiederum führt zur absurden Lage, dass Russland zwar weiter für Frieden in Europa gebraucht wird, aber dieser nun mittels Konfrontation, Abschreckung und ohne jede Diplomatie gefunden werden soll. So wird schließlich auch Frieden umgedeutet.
Hochgefährlich, selbstmörderisch
Rational ist das alles nicht, allenfalls hochgefährlich, selbstmörderisch. Verlässlicher, dauerhafter Frieden beruht nicht auf politischem Zwang. Er ist nur auf dem Weg der Diplomatie und der Verständigung zu erreichen.
In besagter SWR-Sendung 1999 kam auch Frau Adler, damals Korrespondentin in Moskau, zu Wort. Die Frage an sie lautete, wie man in Russland den Jelzin-Vorschlag zu Putin bewertet. Ich spare mir den Kommentar zu Frau Adlers Antworten. Sie hatten jedenfalls nichts mit den damaligen politischen Herausforderungen in Russland zu tun: Wie kommt das Land aus der Krise? Wie wird die Gefahr abgewendet, dass Russland zerbricht? Steht zu befürchten, dass die Kommunisten in der Lage sein werden, in der Präsidentschaftswahl 2000 die Macht zu ergreifen? Letzteres ist die Erklärung dafür, warum die USA damals umgehend verlautbarten, dass sie auch mit einem Ministerpräsidenten Putin eng zusammenarbeiten würden. Ein „Experte“ beim SWR war sich sicher, dass Putin in der Duma, die ihn wählen musste, durchfallen würde, und dass das ganze Ziel der Operation von Jelzin wäre, die Duma aufzulösen
Wie wir wissen, lief es anders. Putin siegte in der Präsidentschaftswahl 2000 über den kommunistischen Gegenkandidaten. Bis heute sind die russischen Kommunisten die zweitstärkste Kraft in der Duma. In dem Maße, wie sich Russland unter Putin wieder stabilisierte und demzufolge auch selbstbewusster in den internationalen Beziehungen auftreten konnte, veränderte sich – ausgehend von den USA – der Blick auf Russland.
Im erwähnten Artikel der Deutschen Welle wird die Putinsche Veränderung unter der Überschrift „Putin ändert den Kurs“ wie folgt beschrieben: “Als dann die USA im Irak-Krieg als Führungsmacht der Welt völlig autonom handelten und die NATO 2004 erneut gegen den Widerstand aus Moskau um die drei baltischen Staaten, Rumänien, Bulgarien, die Slowakei und Slowenien erweitert wurde, muss sich bei Wladimir Putin etwas aufgestaut haben. 2007 bei der Internationalen Sicherheitskonferenz in München platzte der Zorn aus ihm heraus.”
Nur bei längst gebrochenen Vasallen staut sich nichts auf, wenn die globale „Führungsmacht“ zusammen mit einer „Koalition der Willigen“ Völkerrecht bricht, die ganze Welt belügt, das Leben von Millionen nimmt oder schwer beschädigt, foltert und jahrelang Menschen ohne richterlichen Haftbefehl einsperrt. Da folgt kein Mucks. Tatsächlich war die Rede Putins auf der Münchner Sicherheitskonferenz nicht zornig. Sie war unverblümt. Putin wusste, was er sagte.
Im Rückblick ist es tragisch, dass der Westen nicht zuhören wollte oder konnte, und das Gespräch über wechselseitige Wahrnehmungen und Interessen 2011 gänzlich versiegte. Statt die Nato in München zu loben, sprach Putin 2007 über Risiken der Nato-Erweiterung und gebrochene westliche Versprechen. Statt vor den führenden USA zu Kreuze zu kriechen, redete er über militarisierte Außenpolitik und deren Konsequenzen. Er sprach darüber, dass die Welt multipolar sein würde, und die Vereinten Nationen die zentrale Verantwortung für Frieden und Sicherheit haben sollten.
Zornig reagierte allein der Westen 2007, und dieser Zorn sollte nie wieder versiegen: Was nahm sich dieser Putin heraus, dieser KGB-Oberboss einer gigantischen Tankstelle, die nur so tut, als sei sie ein Land? Burns, zuletzt CIA-Chef unter Biden, machte in seinen Memoiren die Reaktion Putins auf Libyen 2011 als Bruchstelle des russische-amerikanischen Verhältnisses aus. Burns stellte im Buch ebenfalls die rhetorische Frage, wer nun Russland “verloren” habe. Seine Antwort lautete, dass Russland „niemals unser Land“ war. Übersetzt bedeutet das, dass sich Russland niemals dem US-Führungsanspruch unterwarf. Aus imperialer Sicht ist das das unverzeihliche russische Verbrechen.
Da das aber nicht laut gesagt werden soll, wird der russische Völkerrechtsbruch in Sachen Ukraine von westlichen Staaten, die ebenfalls Völkerrechtsbrüche begingen, als „Spezialverbrechen“ behandelt. Die Heuchelei liegt auf der Hand.
Der mehrfach erwähnte Artikel der Deutschen Welle begriff die Rede von Putin 2007 als Wendepunkt: „Die Rede in München gilt als Wendepunkt im Verhältnis zwischen Putins Russland und den westlichen Staaten. Die Rüstungskontroll- und Abrüstungsverträge bröckelten, Russland versuchte sein Verhältnis mit China zu verbessern und mehr Einfluss auf dem Balkan, in Afrika und Asien zu gewinnen. Putin wollte beweisen, dass Russland immer noch eine Großmacht war. In westlichen Kommentaren wurde er als ‘beleidigter Zar’ belächelt.”
Wenn es sich nicht um ein mit Steuergeldern finanziertes Medium handeln würde, in dem solcher Schrott zu lesen ist, würde es mich nicht weiter kümmern. Aber die Deutsche Welle ist ein mediales Aushängeschild Deutschlands. Offenbar weiß der Verfasser nicht, dass der ABM-Vertrag einseitig gegen russischen Widerstand bereits 2001 durch die USA gekündigt wurde. Offenbar weiß er nicht, dass 2006 die USA ernsthaft darauf hofften, eine nukleare Erstschlagsfähigkeit (über Russland) zu gewinnen. Offenbar weiß er nicht, dass die Verbesserung der russisch-chinesischen Beziehungen auf diplomatischen Aktivitäten aufbaute, die auf die Ära Gorbatschow zurückgehen und schon 1996 zur Bildung eines dreiseitigen Gesprächsformats Russland-China-Indien führten. Oder er will es nicht wissen.
Der Preis, den die Ukraine bezahlt
Ich spare mir weitere Kommentare zum restlichen DW-Artikel, der so ganz im sogenannten „Mainstream“ liegt: Wir gut, Putin böse. Mit uns hat alles, was Russland macht, gar nichts zu tun. Es ist eine sehr ungesunde Ignoranz, wenn man nicht einmal mehr weiß, dass Aktionen Gegenreaktionen hervorrufen. Es ist noch sehr viel ungesünder, wenn man das zum Feind erklärte Land behandelt, als sei es eine Anomalie der Weltgeschichte. Es kann ganz ungesund enden, wenn nicht bald erkannt wird, dass der Plan, den russischen Bären mittels der Ukraine militärisch Mores zu lehren, vollständig gescheitert ist. Der Preis, den die Ukraine dafür bisher an Menschenleben zahlte, ist längst viel zu hoch.
Aber nein, das ist ganz sicher auch russische Desinformation. Jedenfalls erklärte die Ukraine umgehend, dass ein Bericht des internationalen Roten Kreuzes in der Ukraine auf Telegram, wonach inzwischen 400.000 vermisste Menschen (mutmaßlich Soldaten) durch Familienangehörige gesucht würden, nichts als russische Manipulation innerhalb des Internationalen Roten Kreuzes sei. Die Zahlen seien viel niedriger. Wie schön, dass die Wirklichkeit, wobei über die Wirklichkeit gefallener Ukrainerinnen und Ukrainer nichts Verlässliches bekannt ist, bzw. bekannt werden soll, sehr viel rosiger sein soll.
Nun braucht der ukrainische Präsident 10 neue Patriot-Systeme für insgesamt 15 Milliarden Dollar. Ich frage nicht, was aus den bereits gelieferten Systemen wurde, denn ich will nicht spitzfindig werden. Denn, wie ich höre oder lese, greifen die Russen mit Vorliebe zivile Infrastruktur an und töten immer massenhaft Zivilisten. Andere mögen sich den Kopf darüber zerbrechen, was das wiederum mit den Rekrutierungsproblemen der ukrainischen Armee, der dramatischen Frontlage und den fehlenden Patriot-Systemen zu tun hat.
Nur, im Jahr 2025 haben die USA keine Patriots mehr, die sie liefern könnten (Marco Rubio vor dem US-Kongress, Mai 2025). Die deutsche Regierung will auch nicht mehr sagen, was sie der Ukraine liefert. So viel kann es nicht mehr sein, was sich in deutschen Depots oder in aktueller deutscher Herstellung befindet, was ohne Gefahr für die deutsche Sicherheit der Ukraine gegeben werden könnte. Die ganze Nato hat inzwischen dieses Problem. Außer natürlich, wenn es um unseren Taurus geht. 600 sollen wir davon haben. Normalerweise sind es Luft-Boden-Raketen, also Mittelstreckenwaffen. Inzwischen soll es aber offenbar auch Taurus als Boden-Boden-Waffen (mobile Abschussrampen) geben. Es gibt allerdings keine Ukrainer, die unseren Taurus selbständig beherrschen, und Deutschland läuft Gefahr, zur direkten Kriegspartei gegen Russland zu werden. Eine Mehrheit unter den Deutschen (im April 2025: 65%) lehnt deswegen eine Lieferung von Taurus ab.
Merz kam nun auf die Idee, in Sachen Taurus Technologietransfer in die Ukraine betreiben zu wollen, eine Art Joint venture. Man muss schon sehr verzweifelt sein, um das auch nur zu erwägen. Die USA sind noch nie auf die Idee verfallen, ihr know how in der Waffentechnik innerhalb der Nato „partnerschaftlich“ zu teilen. Soweit ich weiß, galt das bisher auch für den Taurus, der als hervorragende Waffe gilt: ein richtiger „Brücken- und Bunker-Brecher“.
Deshalb kann man im Kiev Independent nachlesen, dass es dann womöglich gelänge, damit die russische Krim-Brücke zu zerstören, aber auch, dass es beim Taurus weniger um die Ukraine als vielmehr um Deutschland ginge. Taurus sei zum „ultimativen Symbol deutscher Furcht und Eskalationsangst geworden“. So nennt sich das also neuerdings, wenn ein Land mit einer Geschichte wie Deutschland glücklicherweise politisch noch etwas zögert, in die direkte Kriegskonfrontation mit Russland zu marschieren.
Aber alles belegt, was schon Clausewitz über das Wesen von Kriegen und deren Eskalation schrieb: Je verzweifelter die Lage, um so irrer die Durchhalteparolen. Um so wahnwitziger dreht sich das Kriegs-Roulette. Doctorow, ein in den USA ausgebildeter Analyst, der aktuell in Brüssel lebt, hielt es für angebracht, seine Veröffentlichung zum jüngsten Vorschlag von Merz wie folgt zu überschreiben: „Hotsy-Totsy, another Nazi: Friedrich Merz proposes joint production of Taurus with Kiev“ (Übersetzung: „Perfekt, noch ein Nazi: Friedrich Merz schlägt gemeinsame Produktion von Taurus mit Kiew vor”)
Diese völlig überspitzte, ganz falsche Formulierung verdeutlicht allerdings, auf welch dünnem Eis wir wandern. Sollte Deutschland wieder als aggressive Nation wahrgenommen werden, die nichts aus der Geschichte lernte, wird sich das nicht auf Russland beschränken. Nur die, die den ewigen Kampf gegen „die Russen“ für heldenhaft und historisch notwendig halten, und das sind weltweit nicht sehr viele, werden noch applaudieren. Das Weiße Haus wäre womöglich auch “not amused”.
Dieser Beitrag ist eine Übernahme aus dem Blog der Autorin, mit ihrer freundlichen Genehmigung.
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