Das Gegenteil von falsch muss nicht richtig sein

I.

Die neue Bundesregierung stellt Wachstum in den Mittelpunkt ihrer Wirtschaftspolitik. Sie sagt nicht, was wachsen soll, weil das der Markt regelt und regeln soll, der ja bekanntlich alles besser weiss. Hauptsache, das Bruttoinlandsprodukt des Jahres 2025 ist höher als das des Jahres 2024, und 2026 soll das Wachstum weiter wachsen. So unbefangen hat man das inhaltsleere Wachstums-Mantra schon lange nicht mehr gehört. Ökonomen, die sonst das hohe Lied des Marktes singen und denen staatliche Kreditaufnahme ein Ärgernis, wenn nicht ein Gräuel ist, setzen jetzt auf Verschuldung für staatliche Rüstungsausgaben. Sie wissen also doch, was wachsen soll. Das soll auch den technischen Fortschritt voranbringen. Die Teflon-Pfanne als Abfallprodukt der Weltraumforschung lässt grüssen.

II.

Kurz nach der Bundestagswahl ist das 2012 zum ersten Mal veröffentlichte Buch „Befreiung vom Überfluss“ von Niko Paech mit einem neuen Vorwort als „Update“ erschienen. Niko Paech ist ausserplanmässiger Professor im Bereich Plurale Ökonomie an der Universität Siegen und einer der führenden Vertreter der Postwachstumsökonomie. Wenn Paech von Postwachstum spricht, meint er Schrumpfung der Wirtschaft, vor allem der industriellen Produktion und weiter Teile des Konsums: „Was sagt es über das kulturelle und moralische Niveau einer Zivilisation aus, die in einem historisch einmaligen Wohlstand schwelgt, vom Untergang bedroht ist, aber ausgerechnet dort stetig neue Rekorde an ökosuizidalem Gebaren zelebriert, wo es um den unnötigsten Pomp geht, der noch vor Kurzem undenkbar war? Dies betrifft den Konsum und den damit verbundenen Güterverkehr infolge des ausufernden Internethandels, aber erst recht die globale Mobilität und den Tourismus, insbesondere Kreuzfahrten und Flugreisen.

Vor allem diese Entwicklung ist ein starker Indikator für eine grassierende Wohlstandsverwahrlosung, zumal hier das Verhältnis zwischen bewusst verursachter Schadenswirkung und begründbarer Notwendigkeit ins Absurde driftet.“ Kleiner und moralisch weniger aufgeladen macht Paech es nicht. Ob in seinen Büchern, in Interviews oder bei Vorträgen: Viel oder mehr Furor ist immer dabei. Ja, Paech hat vollkommen recht: Die Menschheit kann nicht weiter so wirtschaften, so produzieren und so konsumieren wie das die Mehrheit in den reichen Ländern und ganz besonders die Reichen in allen Ländern tun. Das hält der blaue Planet nicht aus.

Diese Art des Wirtschaftens, ganz gleich ob raubtierkapitalistisch, ob staatskapitalistisch oder eurokapitalistisch, betreibt Raubbau an den natürlichen Lebensgrundlagen und ist dabei, immer mehr davon zu zerstören. Die Herren aus dem Silicon Valley wissen, warum sie auf die für sie ertragreiche Flucht in digitale Welten, zum Mond und zum Mars setzen und auf neues Wachstum, das auf natürliches Leben gar nicht mehr angewiesen sein soll.

III.

Trotz vieler Nachhaltigkeits- und Klimakonferenzen, trotz vieler vernünftiger Konzepte und Beschlüsse sind wir von nachhaltigem, als auf Dauer tragfähigem Produzieren und Konsumieren weit entfernt. Neben beachtlichen Fortschritten in manchen Bereichen gibt es anderswo Stillstand, ja Rückschritt. Wenn es so weitergeht, wird es schlechter und nicht besser werden.

In vielen Ländern, auch bei uns in Deutschland und in der EU, soll der Markt von sozialen und ökologischen „Fesseln“ befreit werden. Das neue elfte Gebot lautet wieder einmal: Du sollst dem Markt, Deinem Herrn und Meister, dienen. Soziale und ökologische Regeln oder Rücksichten mögen gut gemeint sein. Gut sind sie nicht, weil sie den Markt hindern, sein Potential zu entfalten, immer wieder neue Wege zu entdecken, neue Produkte und neue Dienstleistungen zu verkaufen. Da kann, da darf man keine falschen Rücksichten nehmen auf Interessen, die dem Markt fremd sind.

Kaum jemand scheint sich noch daran zu erinnern, was Enquête-Kommissionen des Bundestags, Sachverständigen-Berichte oder ungezählte Forschungsarbeiten weltweit schon seit Jahrzehnten festgestellt haben: Wirtschaftliches Wachstum darf man nicht verwechseln oder gleichsetzen mit Lebensqualität für alle und individuellem Wohlbefinden. Das neue alte Buch von Niko Paech ist ein gutes Beispiel dafür, dass wer ein Gegenbild zur heutigen wirtschaftlichen Praxis entwirft, nicht unbedingt zu Vorschlägen und Konzepten kommen muss, die überzeugender und Praxis-tauglich sind.

IV.

Wenn es darum geht, den ökologischen Kollaps zu verhindern, hat Niko Paech Politik, Staat und Gesellschaft aufgegeben: „Demokratischen Regierungen vorzuwerfen, sie würden sich nicht für eine nachhaltige Entwicklung einsetzen, ist schamlos untertrieben.“ Ja, für diese Behauptung gab und gibt es leider viel zu viele Beispiele, aber wie lassen sich notwendige Veränderungen auf demokratischem Weg herbeiführen? Paech glaubt es zu wissen: „Dieser Konsumkapitalismus lässt sich nicht institutionell, sondern nur materiell überwinden, indem ihm die lebenspraktische Basis entzogen wird. In anderen Worten:

Erst wenn Menschen eine Lebensführung eingeübt haben, die ohne kapitalistische Produktionsbedingungen auskommt, kann sich das System wandeln. Daraus folgt erstens, dass nachhaltigkeitsbasierte Gesellschaftskritik – zumindest im Kontext der Postwachstumsökonomie – zuvorderst die Lebensstilfrage thematisieren muss (ohne deshalb politische Forderungen auszublenden). Zweitens sind wachstumskritische Zukunftsentwürfe, deren Umsetzung auf Gedeih und Verderb von politischen Weichenstellungen abhängig sind, reine Zeitverschwendung.“ Eine gewagte Vorstellung: Möglichst viele einzelne oder kleine Gruppen sollen sich von den Zwängen des „Konsumkapitalismus“ befreien, der sie in seinen Fängen hat, und dann wird – ab wann? – Quantität in Qualität umschlagen.

Lebensstile stürzen die wirtschaftliche Ordnung um. Stellt sich Niko Paech das wirklich so vor? Er schreibt und sagt es jedenfalls. Paech setzt auf „funktionale Minderheiten“, auf einen „vielgliedrigen Kosmos an kulturellen und ökonomischen Gegenkulturen“. Dazu zählt er gemeinschaftliche Wohnformen, Projekte der Selbstversorgung und Eigenproduktion, Tauschringe, Netzwerke der Nachbarschaftshilfe, gemeinschaftliche Nutzung von Gärten und Geräten. Das sind Projekte engagierter Menschen, die es inzwischen an vielen Orten gibt und die Respekt und oft auch Unterstützung verdienen. Paech sieht darin aber viel mehr. Für ihn sind das Pioniere, die Vorboten einer neuen Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung, die er so skizziert:

„Grob vereinfacht, lassen sich drei Kategorien von Versorgungssystemen benennen, die durch eine unterschiedliche Länge der Wertschöpfungskette und Rolle des Geldes als Zahlungsmittel gekennzeichnet sind. (1) Entmonetarisierte Lokalversorgung, (2) regionalökonomische Systeme auf Basis zinsloser Komplementärwährungen und – als zu minimierende Restgrösse – (3) Leistungen aus globaler Arbeitsteilung könnten kombiniert werden, um die Ausschöpfung aller Rückbaupotentiale verbleibenden Bedarfe so wachstumsneutral wie möglich zu befriedigen.“

V.

Wer das für möglich und wünschenswert hält, hat der Menschen aus Fleisch und Blut im Blick? Denkt er an die ganz und gar nicht trivialen Voraussetzungen für das friedliche Zusammenleben in grossen Gesellschaften? Glaubt er wirklich, eine Gesellschaft liesse sich auflösen in Gemeinschaften von Gleichgesinnten, kloster-ähnliche Gruppen, in verschworene Weltverbesserer, Hundertfünfzigprozentige bis hin zu gläubigen Anhängern ganz unterschiedlicher Sekten? Paech nennt sie jedenfalls anders.

Statt Politikberatung zu betreiben, sollten Wissenschaftler und Nachhaltigkeitsakteure „sich auf eine transformationsaffine Minderheit (zu) fokussieren, damit diese das Veränderungswissen für einen Plan B hervorbringen und diese durch vorgelebte Praxis dem Rest der Gesellschaft vermitteln kann… Es stellt sich längst nicht mehr die Frage, ob Krisen zum Motor des Wandelns werden, sondern nur noch, wie diese gemeistert werden können. Die viel zitierte Formel ´by design or by disaster´ bedarf also einer Korrektur, nämlich ´by decentralized design and disaster.´ Zu mehr Hoffnung besteht derzeit kein Anlass.“

„Derzeit“? Sieht Paech gegen seine Grundhaltung irgendwie doch noch Hoffnung über gegenwärtige Hoffnungslosigkeit hinaus? Darf er das hoffen? Darf man das von ihm und für ihn hoffen? An anderen Stellen seines Buchs argumentiert Paech ganz pauschal und scheint nicht zu bemerken, wie sein Argumentationsgang in Widerspruch zur Wirklichkeit gerät. Die „Energiewende“ kritisiert er unter vielen Aspekten, zu denen auch richtige gehören. Dann versucht er sich an einer differenzierten Darstellung. Die geht so: „Würde beispielsweise der Ausbau des erneuerbaren Energiesektors daran gekoppelt, im selben Umfang fossile und atomare Kapazitäten zurückzubauen, stünde der Erhöhung des Bruttoinlandsprodukts durch die Erneuerbaren eine Wertschöpfungsreduktion im Atom- und Kohlesektor gegenüber, sodass im Saldo sogar eine Senkung des BIP wahrscheinlich wäre.“

Genau das ist in den vergangenen Jahren doch geschehen. Inzwischen sind in Deutschland alle Atomkraftwerke vom Netz und auch viele fossil betriebene Kraftwerke. Der Anteil der erneuerbaren Energien an der Stromversorgung liegt bei über 50 Prozent und wird weiter steigen. In Zukunft werden unterschiedliche Formen der Speicherung und technische Steuerung und Koordination Schritt für Schritt den Umstieg zu einer vollständig auf Erneuerbare setzenden Stromversorgung ermöglichen. Das führt zu einer wesentlichen Entlastung der Biosphäre, von der Gewinnung fossiler Energieträger bis hin zum Ausstoss klimarelevanter Emissionen. Ob das zu einer Senkung des BIP führen wird, ist eine andere Frage.

VI.

Das Buch von Niko Paech ist lesenswert, weil er über viele reale Probleme schreibt, über die man sonst immer weniger hört und liest. Aus seiner Kritik an einer Nachhaltigkeits Politik, die ihren Namen zu Unrecht trägt, weil sie den wirklichen Aufgaben und den mit ihnen verbundenen Interessenkonflikten aus dem Weg geht, lässt sich manches lernen. Leider zeigt sein Buch aber auch einen Mangel an Wirklichkeitssinn und an Verständnis dafür, wie gesellschaftliche Veränderungen gelingen können. Sein Gegenentwurf zu den herrschenden Verhältnissen macht deutlich, dass es nicht nur kapitalistische Irrwege in die Zukunft gibt.

In einem Streitgespräch mit Niko Paech, das 2016 auch bei oekom erschienen ist, stellt Erhard Eppler, der früh die Orientierung an inhaltsleerem Wachstum kritisiert hat, fest: „Aber aus meiner Perspektive erscheint es völlig unrealistisch, eine solche Lebensweise in unserer Gesellschaft grossflächig einzuführen. Und dann gibt es noch etwas, da mich an Ihrem Ansatz wirklich stört: Während Sie für diesen Wandel streiten, der die Nische noch lange nicht verlassen hat, bagatellisieren sie zugleich leider fast alle realistischen Schritte in Richtung Nachhaltigkeit – beispielsweise die Energiewende. Ich habe den Eindruck, Sie lehnen eigentlich alle Zukunftsansätze ab, die gerade praktisch umgesetzt werden, Herr Paech, und die doch eigentlich ihre Unterstützung brauchen.“

Diese Feststellung gilt aus meiner Sicht noch immer, auch für das in diesem Jahr erschienene „Update“ seines Buchs aus dem Jahr 2012. Niko Paech hält es für notwendig, dass die Wirtschaftsleistung drastisch schrumpft statt weiter zu steigen. Dabei setzt er auf die „Kunst der Reduktion“ auch und besonders für die „individuelle Lebensführung“. Die erste Ausgabe seines Buchs erschien 2012 im Format 18,5 cm auf 12 cm. Die neue Ausgabe hat das Format 21 cm auf 13,5 cm. Das ist ein Viertel mehr, ein Wachstum von 25 Prozent. Dafür hat es 10 Prozent weniger Seiten und wiegt 2,5 Prozent mehr. So schwierig kann es sein, Theorie und Praxis in Einklang zu bringen.

Niko Paech „Befreiung vom Überfluss. Das Update. Eine Postwachstumsökonomie für das 21. Jahrhundert“, oekom verlag, München 2025

Dieser Beitrag ist zuerst beim “Blog der Republik” erschienen. Mit freundlicher Genehmigung des Autors.

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