Beueler-Extradienst

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Wenn alles zu ist

Deutschland ist – noch – Einwanderungsland. Dank Wladimir Putin. Und der sieht das mutmasslich als “gerechte Strafe” an. Durch die ukrainischen Kriegsflüchtlinge hat Deutschland nämlich – noch – einen Überschuss an Einwanderungen (1,7 Mio.) gegenüber den Abwanderungen (1,3 Mio.). Aber jetzt gucken Sie mal hier. Das ist keine Prognose, sondern der aktuelle Stand der Dinge. D.h. in 20 Jahren ist alles zu. Es sei denn, es wird Politik gemacht von denen, die wir dazu beauftragen.

Wie kommichdrauf? Pünktlich zu meinem Herzinfarkt schliesst meine Apotheke nebenan wg. “Fachkräftemangel”. Mein Biometzger ist schon weg. Eine meiner zwei Fussballkneipen vegetiert nur noch vor sich hin. Eine kürzlich eröffnete Weinkneipe hat schon ein Insolvenzverfahren am Hals. Und das nicht wg. mangelnder Kundschaft. Und was geschieht, wenn die Betreiber*innen von Bioläden, “Italienern”, Edeka und Hausarzt um die Ecke usw. mal so alt sind wie ich? Selbst Altenpflegedienste schliessen massenhaft – bei steigender Nachfrage!

Was ich hier beschreibe, ist Jammern auf hohem Niveau. In Beuel. Woanders ist schon alles weg. In meiner Herzinfarkt-Reha an der idyllischen Mosel hörte ich nicht nur von Dörfern, sondern auch aus mittelgrossen Städtchen, dass schon alles weg. ist. Hätte ich meinen Herzinfarkt dort an der Mosel gehabt, statt in Beuel 10 Minuten Fussweg von der Kardiologischen Abteilung eines Krankenhauses entfernt, wäre ich vielleicht nicht mehr am Leben.

Selbst hier am Rhein mit seinen zwei Bahn-Hauptstrecken, die gelegentlich sogar befahren werden, und mit seinem in Europa meistbefahrenen Radwander-Fernweg gibt es Ortschaften ohne Einzelhandel oder Gastronomie, wo sich die Einwohner*innen gelegentlich auch mal ausserhalb ihrer Privatwohnungen treffen und austauschen – und überhaupt die Existenz von Mitmenschen erfahren können. Das, was die mir benachbarten 300 Altensozialwohnungen von Vebowag und Tenten-Stiftung noch haben, einen Edeka, einen Hausarzt und eine gut vertaktete (10 Min.) Bushaltestelle in Rollator-Entfernung (die Apotheke ist jetzt weg) – das ist die Ausnahme in dieser Republik, und nicht die Regel.

Das weiss ich nicht aus einem “Heimatdorf”, sondern aus dem Ruhrpott, dem grössten deutschen Ballungsraum, doppelt so gross wie Berlin. Mein 93-jähriger Vater hat, selbst wenn er wollte, keine Chance, das Erbe seiner Kinder zu versaufen: alles zu. Von einem Dutzend Kneipen aus meiner Jugend ist noch eine über. Die sehr, sehr alte Wirtin öffnet aber nur noch “on demand”, nach Gruppenanmeldung. Auf dem weitläufigen Gelände der in den 70ern stillgelegten Zeche “Mathias Stinnes 1/2/5” betreiben Aldi und Lidl parkplatzgerechte Filialen. Bioläden gibt es hier – weiträumig! – keine. Im Essener Süden Richtung Ruhr, da wo die Wohnungen nicht mehr bezahlbar sind, dagegen jede Menge.

Wie würde ich reagieren, wenn ich diesen Verhältnissen in meinen beuelparadiesischen Gewohnheiten ausgesetzt würde? Nach der Apothekenschliessung lästerte ich im Bus zu Freund*inn*en: “Wenn wir nicht früh genug sterben, werden wie alle noch Zwangskunden von Amazon.”

Den Kern des Problems wollen die grösseren Teile der Medienöffentlichkeit nicht benennen, weil die Medienwirtschaft den gleichen Mechanismen ausgesetzt ist. Im real existierenden Kapitalismus muss das Kapital zirkulieren und expandieren, und zwar immer schneller. Das ist mit den Ressourcen eines einzelnen Menschen selbstverständlich nicht vereinbar. Darum wurde die Industrialisierung erfunden, deren Folgen derzeit erforscht werden und recht weitgehend ermittelt sind – mann nennt es Klimaforschung. Darum wurde auch die Finanzialisierung erfunden, begünstigt durch die technischen Wunderwerke der IT-Industrie.

Letzteres beschleunigt Monopolisierungstendenzen, und diese global. Ganz offenbar sind gewählte Regierungen und demokratische Politik nicht mehr in der Lage, in grossen Teilen auch gar nicht bereit, diese Entwicklung noch unter Kontrolle zu bringen. Soziale Begrenzungen von Ausbeutung werden geschleift, die Grossen fressen die Kleinen, manchmal fressen auch clevere Kleine einen Grossen, gelegentlich verschlucken sie sich auch daran. Das entscheiden dann die grossen Kapitalgeber, die von grossen Teilen (auch der demokratischen) Politik in Kommunen, Ländern und Staaten unter der Bezeichnung “Investor*inn*en” göttergleich angebetet werden (in Sachsen-Anhalt liegen gerade 10 Mrd. Bundessubventionen ungenutzt rum). Selbst gewillte Bürger*innen erkennen immer weniger, wie und mit welchem Engagement sie das aufhalten oder wenigstens beeinflussen können.

Dass das mit individuellen Konsumentscheidungen gelingen kann, ist ein vielerzähltes Märchen. Die sind relevant für individuelles Befinden, aber nicht für Politik. Dafür müssten sie massenhaft organisiert sein. Organisieren ist kollektives Handeln. Und das ist das, was der real existierende Kapitalismus den Menschen ab- und umzuerziehen versucht. Und dabei schon ganz schön weit gekommen ist.

Ergebnis: viele geben auf. Und die Anderen gehen noch wählen, mit den allgemein bekannten Ergebnissen.

Ob das zum Überleben reicht? Bei mir in Beuel war es schon ganz schön knapp.

Über Martin Böttger:

Avatar-FotoMartin Böttger ist seit 2014 Herausgeber des Beueler-Extradienst. Sein Lebenslauf findet sich hier...
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Ein Kommentar

  1. Avatar-Foto
    Detlef Wilske

    “Wenn wir nicht früh genug sterben, werden wie alle noch Zwangskunden von Amazon.”

    Den Eindruck habe ich auch hier im Berliner Nordosten, in Neu-Hohenschönhausen, wo sich die Deutsche Post AG aus dem Filialgeschäft der Post zurückgezogen hat und nur noch Bankdienstleistungen anbietet. Rund 60.000 Menschen leben im Lichtenberger Ortsteil, der 1984 mit dem Bau von vielen Hochhäusern gegründet wurde. Ca. 12.000 sind 65 Jahre alt und älter. Zwei Läden gibt es in der Nähe, die auch begrenzte Postdienstleistungen anbieten, ein Bäcker und ein REWE-Supermarkt. Im letzteren immerhin bis 20 Uhr, anderthalb Stunden länger als früher in der jetzigen Postbank-Filiale, die früher eben auch den Paketshop beherbergte.

    Nun gut, bis zuletzt musste man im “Postamt” auch immer lange in der Schlange stehen, um Pakete zu verschicken oder Briefmarken zu kaufen. Jetzt ist es dort freundlich leer. Das wird dann sicher auch ein Grund dafür sein, dass auch die Postbank-Filiale irgendwann ganz schließt. Auf Anfrage, was mit den Bankautomaten zum Geldabheben und Kontoauszugdrucken geschieht, bekam ich jetzt die Antwort, dass die demnächst auch abgebaut werden. Da auch die Mieten immer weiter steigen, wird sich wohl ein amerikanisches “Spezialitätenrestaurant” die Fläche unter den Nagel reißen. Vermutlich das mit dem M. Das mit dem B haben wir schon.

    Für viele der älteren Menschen ist das Internet immer noch “Neuland”, wie die Alt-Bundeskanzlerin einmal sagte. Die kaufen lieber in Läden ein und nicht online, wo sie dann auch die Lieferung nach Hause bestellen müssen. Apropos Lieferung: Wenn man nicht zuhause ist, kann man natürlich zur nächstgelegenen Videothek gehen und das schwere Paket dort abholen.

    Ich habe immer gedacht, Post gehört zur Grundversorgung der Bürger:innen, die man nicht einfach so abschaffen darf. Aber Göttin sei Dank: Wir leben im Kapitalismus, und das Postamt ist keine Behörde mehr, sondern ein Logistikkonzern, und der muss ja für steigende Rendite bei seinen Aktionär:innen sorgen. Also alles gut?

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