Einkommen bei Mindestlohnbeschäftigung deutlich höher als mit Grundsicherung. Anders als von Bundeskanzler Merz behauptet auch in Städten mit hohen Mieten.

Im Koalitionsvertrag haben sich CDU/CSU und SPD geeinigt: „Das bisherige Bürgergeldsystem gestalten wir zu einer neuen Grundsicherung für Arbeitssuchende um.“ (Zeile 501 des Vertrages) Bundeskanzler Friedrich Merz sagte im Sommerinterview der ARD beim Bürgergeld ließen sich mehr einsparen „als nur ein oder zwei Milliarden“. Auch CSU-Chef Markus Söder forderte „Wir brauchen mehr Gerechtigkeit im Sozialstaat“, das Bürgergeld müsse von Grund auf verändert werden und nicht nur „ein bisschen streichen“.

Am 5. September 2023 machte etwa die BILD-Zeitung mit der Schlagzeile auf „Mehrheit der Deutschen sagt: Arbeit lohnt sich nicht mehr!“ Nahezu jede Woche schürt BILD den „Klassenkampf im Armenhaus“ und hetzt Lohnempfänger gegen Bürgergeldempfänger auf, mit Schlagzeilen wie etwa „Immer öfter Stütze statt Arbeit“ oder „Bürgergeld ist zu hoch“ . Aber auch seriösere Quellen wie etwa das Ifo Institut fragen: „Lohnt“ sich Arbeit noch“. Und schon gar beklagen Arbeitgeber, dass durch eine Erhöhung des Mindestlohns der „Lohnabstand“ zum Bürgergeld nicht mehr gewahrt sei und der finanzielle Unterschied zwischen Erwerbseinkommen und Sozialleistungen notwendig sei, um einen Anreiz zur Arbeitsaufnahme zu schaffen. Arbeit müsse sich wieder lohnen.

Angesichts dieser Stimmungslage ist es äußerst verdienstvoll, dass das gewerkschaftliche Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlicher Institut (WSI) Fakten dagegenstellt und auf der Basis einer Sonderauswertung der Statistik der Bundesagentur für Arbeit für alle Kreise der Bundesrepublik für den März 2025 in Modellrechnungen zeigt, dass beim Bürgergeld das Lohnabstandsgebot zum Mindestlohn bei allen Haushaltskonstellationen gewahrt ist.

Das Fazit der von Eric Seils erarbeiteten WSI-Studien lautet: „In Übereinstimmung mit der Literatur zeigen die Ergebnisse, dass unabhängig von der Haushaltskonstellation und der jeweiligen Region der Lohnabstand zwischen Bürgergeld und einer Vollzeitbeschäftigung zum Mindestlohn stets vorhanden ist. Dies ist eine Folge von entsprechend gestalteten Sozialleistungen: Erstens gibt es mit dem Wohngeld, Kindergeld und Kinderzuschlag Leistungen, die verhindern sollen, dass erwerbstätige Menschen überhaupt auf die Grundsicherung angewiesen sind. Zweitens bewirken die Absetzbeträge im SGB II, dass auch Menschen, die Bürgergeld beziehen, bei Erwerbstätigkeit stets mehr Einkommen zur Verfügung haben als ohne eine Beschäftigung.“

In der Pressemitteilung des WSI über die Studie heißt es, auch wer zum Mindestlohn arbeitet hat ein deutlich höheres verfügbares Einkommen, als vergleichbare Personen, die Bürgergeldbezieher. Das gelte überall in Deutschland und unabhängig von der Haushaltskonstellation. Im Durchschnitt liege der Einkommensvorteil bei 557 Euro monatlich.

Das mag für höhere Einkommensbezieher wenig Geld sein, aber bei einem Regelbedarf der Bürgergeldempfänger von 563 Euro ist das nahezu eine Verdoppelung.

Eine alleinerziehende Person mit einem Kind habe im Modellfall bei Vollzeitbeschäftigung zum Mindestlohn durchschnittlich 749 Euro mehr zur Verfügung als bei Bürgergeldbezug. Bei einer Paarfamilie mit zwei Kindern und einer oder einem in Vollzeit zum Mindestlohn Beschäftigten betrage der Vorteil 660 Euro. In Ostdeutschland inklusive Berlin sei der Lohnabstand etwas größer als im Westen. Bei einer alleinstehenden Person seien es beispielsweise durchschnittlich 570 Euro im Osten gegenüber 549 Euro im Westen. Auch regional unterschieden sich der Umfang des Einkommensvorteils bei Beschäftigung, dabei sei der Lohnabstand zum Bürgergeldbezug in Städten mit hohen hohen Mieten am kleinsten.

Auch die Begründung von Bundeskanzler Friedrich Merz, dass in manchen Großstädten Bürgergeldempfänger bis zu 20 Euro pro Quadratmeter als Zuschuss erhalten und bei 100 Quadratmeter auf monatlich 2.000 Euro kämen, die sich viele Arbeitnehmerfamilien nicht leisten könnten, geht an der Wirklichkeit vorbei und gehört in die Rubrik blanker Populismus.

Für München weist etwa die vom WSI mitgelieferte Excell-Tabelle beim verfügbaren Einkommen mit und ohne Arbeit beim Alleinstehenden Mann einen Lohnabstand von 379 Euro, bei der Alleinerziehenden Frau mit einem1 Kind von 5 Jahren ein Lohnabstand von 558 Euro oder beim Ehepaar mit zwei Kindern von 5 und 14 Jahren einen Abstand von 485 Euro aus. (Im Appendix,  Zeile 8194 der Tabelle)

Dieser Beitrag erschien zuerst im “Blog er Republik”, hier mit freundlicher Genehmigung des Autors. Wolfgang Lieb ist ein deutscher Jurist und Publizist. Nach dem Studium der Politik und Rechtswissenschaften an der FU Berlin, in Bonn und in Köln arbeitete er in der Planungsabteilung des Kanzleramtes in Bonn (Helmut Schmidt war Kanzler), wechselte als Leiter in das Grundsatzreferat der Landesvertretung NRW in Bonn, war Regierungssprecher des Ministerpräsidenten Johannes Rau und Staatssekretär im NRW-Wissenschaftsministerium. Zusammen mit Albrecht Müller war Lieb Mitherausgeber und Autor der politischen Website “NachDenkSeiten” und wurde mit dem Alternativen Medienpreis ausgezeichnet. 2015 gab er seine Mitherausgeberschaft wegen unüberbrückbarer Meinungsdifferenzen mit Müller über die redaktionelle Linie des Blogs auf. Heute arbeitet Wolfgang Lieb als freier Autor.

Über Wolfgang Lieb:

Avatar-FotoUnter der Kennung "Gastautor:innen" fassen wir die unterschiedlichsten Beiträge externer Quellen zusammen, die wir dankbar im Beueler-Extradienst (wieder-)veröffentlichen dürfen. Die Autor*innen, Quellen und ggf. Lizenzen sind, soweit bekannt, jeweils im Beitrag vermerkt und/oder verlinkt.