Indizien für die gegenwärtige Irrelevanz der Linken
An analytischer Schärfe und Intelligenz fehlt es schon länger. Aber noch mehr fehlt es an der daraus zu folgernden strategischen, bündnis- und organisationspolitischen Intelligenz. Die ist der anstrengendste Teil und wird auch von den kritischsten Geistern gemieden, als wenn sie Angst haben, sich damit zu infizieren. Drei tagesaktuelle Beispiele.
Das Onlineportal Jacobin gibt es nun schon seit einiger Zeit deutschsprachig. Es ist eine Gründung der US-amerikanischen Linken, derer, die sich dort als Democratic Socialists verstehen, und an die sich die deutsche Partei Die Linke anzudocken versucht. Nicht abwegig, finde ich. Dort erschien dieser Tage ein wichtiger Text von Vivek Chibber unter dem Aufmacher “Die Parteifrage – Die Wirkungslosigkeit der heutigen Linken ist kein Zufall, sondern Ergebnis ihrer Organisationsstruktur. Will sie neue Stärke aufbauen, muss sie diese von Grund auf ändern.” Eine der wichtigen Strategiefragen unserer Zeit, dachte ich, und begann zu lesen. Um dann nach der Frage “Was ist also passiert?” vor dieser Wand zu landen: “Dieser Artikel ist nur mit Abo zugänglich. Logge Dich ein oder bestelle ein Abo.” Verarschter kann mann sich nicht fühlen. Die wollen nicht gewinnen, war das Resultat meiner Lektüre.
Bei overton, bei allem persönlichen Respekt für Florian Rötzer nach meinem Gefühl immer wieder inhaltlich grenzwertig und mit einem merkwürdigen Überhang an BSW-Sympathien, die gelegentlich schmerzfrei ins AfD-Spektrum übergehen (so deren eigene Online-Leser*innen-Umfragen), lese ich von dem Journalisten Patrik Baab, dem zweifellos in seiner Laufbahn mehrfach übel mitgespielt wurde: “Deutschland – Quo Vadis? – Ein Nachruf in 12 Thesen – oder der Absturz eines Auslauf-Modells.” Oje, ja schlimmschlimm. Und jetzt? Was tun?
Mehrere Minuten mitgehen konnte ich den Gedanken von Andreas Buderus/Junge Welt: “Kapitalismus: Reale Barbarei – Warum es keine Reorganisation des Kapitalismus gibt – und was droht, wenn wir das nicht zur Kenntnis nehmen. Eine Positionsbestimmung”. Endlich mal der Versuch einer materialistischen Analyse, dachte ich über längere Passagen. Doch gegen Ende entpuppt sich das Opus als folgenlose Bescheidwisserei. Reformist*inn*en sind doof und auf dem falschen Danpfer. Richtig liegen nur die durchblickenden Revolutionär*inn*e*n. Und weil die in den mächtigen kapitalistischen Kernländern nur eine irrelevante Minderheit sind – und unbedingt bleiben wollen – gilt es geduldig zu warten, bis die ausgebeuteten Massen irgendwoanders auf der Welt den Entschluss fassen, die wahre Revolution zu beginnen. Das ist, mit Verlaub, hier weit besser erklärt. Und selbstverständlich wird die Junge Welt das in einigen Tagen in einem paywallbewehrten Archiv verschwinden lassen. Damit die Massen so doof bleiben, wie sie sind. Alles Andere wäre ja mit (politischer) Arbeit verbunden.
(Materialistische) Dialektik, wo bist du?
Es gibt Ansätze in einzelnen Gewerkschaftsteilen, das Gegenwarts-Proletariat zu identifizieren und zu organisieren. In den Sätzen des Bescheidwissers Buderus: “Laut der Internationalen Arbeitsorganisation (International Labour Organization, ILO) sind weltweit über 1,8 Milliarden Menschen in abhängiger Lohnarbeit; hinzu kommen rund zwei Milliarden im informellen Sektor – insgesamt also weit über drei Milliarden Menschen, deren Existenz direkt auf abhängiger Beschäftigung basiert. Hinzu kommen die jeweils abhängigen Familienangehörigen. Nie zuvor in der Geschichte gab es eine derart große Klasse von Menschen, die für ihr Überleben Lohnarbeit leisten müssen. Diese Klasse ist jedoch zunehmend in prekären und rechtlosen Verhältnissen gefangen: von der massenhaften Ausweitung unsicherer Dienstleistungs- und Logistikjobs über die extrem prekäre digitale Tagelöhnerarbeit in der »Clickwork«-Ökonomie bis hin zur Identifizierung ganzer Bevölkerungen als »überschüssig«.” Das ist richtig erkannt. Und wer das ignoriert, kann politisch buchstäblich nichts gewinnen. Die Rechten wissen davon. Die sind ja nicht blöd.
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