„Künstliche Intelligenz“: Ursula von der Leyen als Papagei der Tech-Bosse
EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen macht sich die Übertreibungen der Tech-Bosse über „Künstliche Intelligenz“ zu eigen. Dagegen protestieren nun Wissenschaftler: Die EU sollte eher ein Auge auf die Fehlentwicklungen bei der KI haben, statt den Tech-Bossen die Füße zu küssen. Ein Kommentar.
Ursula von der Leyen steht blamiert da. Sie wollte aufspringen auf die KI-Welle, von der aber längst klar ist, dass viele damit verbundene Erwartungen übertrieben sind. Vor allem das Geraune um die alsbald kommende Künstliche Intelligenz, die uns intellektuell ebenbürtig oder uns gar in den Schatten stellen wird, verursacht bei Menschen Kopfschütteln, die sich wissenschaftlich mit dem Thema befassen.
Die EU-Kommissionspräsidentin hatte behauptet, KI werde sich schon nächstes Jahr dem menschlichen Denken und Verstehen annähern. Sie sagte das in einer Rede auf der EU-Haushaltskonferenz im Mai in Brüssel: „Als der aktuelle Haushalt ausgehandelt wurde, dachten wir, dass die KI erst um 2050 dem menschlichen Verstand nahekommt. Jetzt gehen wir davon aus, dass das bereits nächstes Jahr der Fall sein wird.“
Wissenschaftler, die zu Künstlicher Intelligenz forschen und lehren, widersprechen ihr jetzt öffentlich in einem Brief (pdf). Sie drängen von der Leyen, Abstand davon zu nehmen, dem KI-Hype hinterherzuhecheln und einer unmittelbar bevorstehenden Allgemeinen Künstlichen Intelligenz (Artificial General Intelligence, AGI) das Wort zu reden.
Sie fordern, dass die Kommission stattdessen die Behauptungen der Tech-Konzerne „sorgfältig prüfen“ und „unparteiisch und wissenschaftlich“ analysieren sollte. Potentiell sinnvolle KI würde nicht dadurch befördert, „dass unwissenschaftliche Marketingaussagen von US-Technologieunternehmen“ wiedergekäut würden.
Was die Forscher besonders erzürnte: Anlässlich der Rede fragte ein Wissenschaftler bei der Kommission nach Belegen (pdf), wie von der Leyen auf dieses schmale AGI-Brett gekommen wäre. Als Antwort erhielt er jedoch keinerlei wissenschaftliche Fakten. Stattdessen zog die Kommission ernsthaft ein paar Blog-Einträge oder Aussagen auf Konferenzen von Tech-Broligarchen wie Anthropic-Chef Dario Amodei oder OpenAI-Chef Sam Altman als angebliche Beweise aus dem Hut.
Desinformation aus der Spitzenpolitik
Es ist gut, wenn jemand Kompetentem mal der Kragen platzt und angesehene Wissenschaftler übertriebenen Quatsch als solchen benennen und auf Fehlentwicklungen hinweisen. Denn Desinformation sollte nicht auch noch aus der Spitzenpolitik kommen. Die Kommissionspräsidentin sollte nicht eine solch kühne Behauptung in den Raum zu stellen, die unbelegt ist.
Die noch immer anschwellende KI-Blase blubbert nun seit drei Jahren. Weder Anthropics Claude noch OpenAIs ChatGPT rentieren sich auch nur annähernd, im Gegenteil: Sie kosten die Ex-Start-ups Unmengen Geld. Und sie kosten uns alle Unmengen Strom und Wasser und Elektronik-Hardware, die bald zu Bergen von Elektronikschrott werden könnten, wenn das drastische Wachstum der KI-Großrechenzentren so weitergeht. Die notwendige Umstellung der Energieproduktion hin zu Erneuerbaren wird buchstäblich von KI aufgefressen.
Wir sollten aufhören, Software zu anthropomorphisieren, ihnen also menschliche Fähigkeiten anzudichten. Wir müssen weg von dem Glauben an KI und dem Nachplappern von Versprechungen der Tech-Bosse. Es vernebelt nicht nur von der Leyen die Sinne, sondern auch uns, wenn wir informiert und sachlich einschätzen wollen, welche Fähigkeiten der Sprachmodelle wir wo sinnvoll einsetzen können und was schlicht Bullshit ist.
Wir müssen auch weg von einer allzu freundlichen Sichtweise auf die Tech-Konzerne. Denn sie sind eben keine Heilsbringer, denen nun auch noch mit einer Anti-DSGVO-Agendaentgegengearbeitet werden sollte. Sondern es gehört ihnen mit gesunder Skepsis begegnet sowie dem Willen, geltendes EU-Recht durchzusetzen statt rückzubauen.
Im Vergleich zu der Rede von der Leyens zur sogenannten „State of the Union“ noch im September ist eine Umkehr zu beobachten. Damals betonte die Kommissionspräsidentin in ihrer Rede noch, dass sie „europäische Unabhängigkeit“ und die „Kontrolle über die Technologien […], die unsere Volkswirtschaften antreiben“, anstrebe. Sie wolle eine gute Regulierung der US-Konzerne, sagte die CDU-Politikerin. Explizit zur Digitalregulierung posaunte sie gar: „Wir setzen unsere eigenen Standards. Und unsere eigenen Regeln.“
Davon lässt ihre Anti-DSGVO-Agenda wenig übrig. Kein Wunder, wenn sie offenbar lieber den Übertreibungen und Halbwahrheiten der Tech-Bosse als der Wissenschaft zuhört.
Constanze Kurz ist promovierte Informatikerin, Autorin und Herausgeberin von Büchern, zuletzt Cyberwar. Ihre Kolumne „Aus dem Maschinenraum“ erschien von 2010 bis 2019 im Feuilleton der FAZ. Sie lebt in Berlin und ist ehrenamtlich Sprecherin des Chaos Computer Clubs. Sie war Sachverständige der Enquête-Kommission „Internet und digitale Gesellschaft“ des Bundestags. Sie erhielt den Toleranz-Preis für Zivilcourage und die Theodor-Heuss-Medaille. Kontakt: E-Mail (OpenPGP). Dieser Beitrag ist eine Übernahme von netzpolitik, gemäss Lizenz Creative Commons BY-NC-SA 4.0.

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