Grüne grübeln über neues Grundsatzprogramm
Bonns Grüne liessen sich gestern von ihrer in Hauptstadtberlin nicht ganz einflusslosen Bundestagsabgeordneten Katja Dörner erklären, warum ihre Partei sich ein neues Grundsatzprogramm erarbeiten will. Ein Grundsatzprogramm – im Unterschied zu einem Wahlprogramm – das nicht vier, sondern “zwanzig Jahre” halten soll. Sehr anspruchsvoll, wer kann so weit vorausschauen?
Einen Versuch ist es wert. Ein Grundsatzprogramm dient nicht nur der Darstellung nach aussen, sondern auch der Selbstverständigung nach innen. Die Grünen bersten nicht nur in Umfragen, sondern parallel dazu werden ihnen viele neue Mitglieder zugeweht. In Bonn beispielsweise scheint das Cafe im Migrapolis-Haus zu klein zu werden. “Neuen”-Abende werden von Interessent*inn*en überrannt. Die Neugier auf die oppositionelle Kleinpartei wächst. Die Grünen profitieren vom Scheitern des sozialdemokratischen “Schulz-Zuges”. Bei ihnen wird jetzt sichtbar, welche Chance die SPD im Vorjahr vergeigt hat. Das Bedürfnis nach Alternativen zur herrschenden Politik, und noch mehr nach einem Gegenpol zur Rechtsentwicklung – das ist die Riesenchance, die die Wagenknecht-geprägte Linkspartei gerade vergeigt – ist unübersehbar.
In der Bonner Grünen-Versammlung wärmte ein konvertierter Ex-Sozialdemokrat das Herz der Anwesenden, der bekannte, in seiner früheren Partei bei der Programmentwicklung nie so einbezogen worden zu sein.
Eine politische Schreckminute irritierte nicht
Politisch bemerkenswert war eine Schreckminute, die im Dialog zwischen der Bonner Parteivorsitzenden Kathrin Uhlig und Katja Dörner auftrat. Uhlig wies zutreffend darauf hin, dass die Grünen unter dem Claim “Neue Zeiten. Neue Antworten” in Ökologie-, Energie- und Verkehrsfragen schon eine Menge Antworten parat hätten. Worauf Dörner ebenso zutreffend und beunruhigend ergänzte, dass heute “viele Leute der Meinung seien”, dass diese, anspielend auf die Klimawandel-Debatte, bei weitem nicht ausreichend radikal und schnell wirkend seien. Richtig dachte ich, weswegen sich die Frage aufdrängt, welches Revolutionskonzept wir für die grössten Länder der Welt, China und Indien haben.
Das spielte in der gestrigen Debatte keine Rolle. Ein Ausweichen davor wird es jedoch nicht geben. Beide Länder sind nach grünen Massstäben nicht demokratisch geführt, Menschenrechte werden – zurückhaltend ausgedrückt – wenig berücksichtigt. Sie sind aber notwendige Partner für eine wirksame Klimapolitik. Eine grüne Aussenpolitik müsste sich also mit den von einigen alten Ex-Linksradikalen verschmähten, ursprünglich sozialdemokratischen “Wandel-durch-Annäherung”-Strategien anfreunden, die auf wenig sympathische Gegenüber angewandt werden müssen. Und was machen wir mit dem rechtsradikalen Regime Brasiliens, das über den grössten Regenwald der Welt verfügt? Ich halte es, ebenfalls zurückhaltend formuliert, für offen, ob den Grünen in ihrer Grundsatzdebatte dazu was Gutes einfällt. Und ich teile die in Dörners Andeutung untergebrachte Einschätzung, dass die Zeit drängt.
“Digitaler Wandel”
Die Stimmung der gestrigen Versammlung war bedeutend heller, und ist als Antrieb für politische Energie gewiss nützlicher. Mit in meinen Augen rund 20 Jahren Verspätung gründeten die Bonner Grünen gestern eine schon stark besetzte, und offenbar arbeitswütige Arbeitsgruppe “Digitaler Wandel”. Da unsere Stadt zahlreiche Arbeitsplätze dieser Branche beherbergt, überrascht am meisten, dass das jetzt erst geschieht. Sicher ein gutes Angebot für den Zustrom neuer Mitglieder, sich gleich in die programmatische Arbeit zu stürzen.
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