Andrea Nahles hat es mit knappster Mühe geschafft, das Ende ihrer Politkarriere selbst zu bestimmen. Ich bedaure, dass es dazu gekommen ist. Ich bin selbst ein Weichei, das die Mehrheit einer Grünen Stadtratsfraktion alltagskulturell nicht mehr ausgehalten hat. Frau Nahles habe ich für viel härter gehalten. Wenn eine es durchhalten kann, dann sie. Dachte ich. Jetzt hat sie vermutlich selbst festgestellt: mit wachsendem Alter wird die Zeit knapper und die Zeitverschwendungs-Frustrationstoleranz schmilzt wie die Arktis. Bei Nahles kommt hinzu, dass sie alleinerziehende Mutter einer 8-jährigen Tochter ist. Es gibt Wichtigeres im Leben als Berlin. Kompliment zu dieser Prioritätensetzung!
Ich weiss nicht, wie es Anderen geht. Aber die am wenigsten geheuchelte Stellungnahme im Heuhaufen des allgemeinen Gebrabbels schien mir die Stellungnahme der Bundeskanzlerin. Ist die die Letzte, die das Handwerk ihres Geschäfts beherrscht? Sie schafft es sogar im Amt, dass Sehnsucht nach ihr artikuliert wird. Wie aufsehenerregend, dass sie im Europa-Wahlkampf “vermisst” wurde – noch während sie im Amt ihre Arbeit macht! Noch einen Wimpernschlag zuvor kam jeder “Merkel-muss-weg!”-Schreihals live ins Seniorenmedium TV, und jetzt das.
Den Gipfel schaffen allerdings die Medienprofis in den USA. Schauen Sie sich bitte mal den 30-Sekundentrailer der Harvard-Uni an, den letzten Freitag die ZDF-heute-show zugänglich machte (ab Minute 4:30). Hammer! Haben Sie Merkel jemals so gesehen? Ich nicht. Aber relevante Teile der trumpregierten Welt da draussen.
Wie schrecklich das Bild von dem, was danach kommen wird. Die zukünftige Regierungspartei Die Grünen hatte eigentlich vor, jetzt zwei Jahre ein neues Grundsatzprogramm zu diskutieren. Keine Zeit. Politiker*innen in der Hauptstadt sind jetzt dazu da, sich bei leichtem Gegenwind umblasen zu lassen. Und die Windmacher*innen sind nicht die Wähler*innen! Um die Macht des Windmachens kämpfen alte und neue Medienkonzerne, die sich zu weltumspannenden Konglomeraten entwickeln müssen, wenn sie es nicht schon sind. Ihre Kapitalmacht ist so gross, dass jede*r Politiker*in zu kaufen (oder umzublasen) ist, alles eine Frage des Preises. Alles nur Menschen, jede*r hat also Schwächen. Und Geld ist genug in Umlauf (in immer weniger Händen). Die Grünen sind nur deswegen (noch) die Intelligentesten in der Parteienkonkurrenz, weil sie genug Potenziale zum Denken hatten. Zeit und Raum dafür wird ihnen in Kürze genommen. Dann sind sie auch im Hamsterrad.
Hoffentlich verfangen die zahlreich aufgestandenen Kinder und Jugendlichen sich nicht darin. Denn es kann sein, dass das politische Geschehen eines Tages eine Revolution provoziert. Es darf keine Rechte sein.

Über Martin Böttger:

Martin Böttger ist seit 2014 Herausgeber des Beueler-Extradienst. Sein Lebenslauf findet sich hier...
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