Die Kultur der Anerkennung von Widerstandskämpfern gegen Hitler und den Nationalsozialismus in Deutschland ist noch nie groß gewesen – in den vergangenen Jahren war das eher verhalten und beschränkte sich auf autoritäre Vorbilder. Das ist um so tragischer, als Widerstand weit mehr war, als das, was Offiziere der Wehrmacht mit mehreren Attentatsversuche auf Hitler – unter anderem am 20.Juli 1944 unternahmen. Es waren viele, die sich gegen den NS-Staat wandten, Sozialdemokraten, Zentrumspolitiker, Liberale, Pazifisten und viele andere. Nicht zuletzt Georg Elser, dessen Bombe Hitler 1939 entging und der jahrzehntelang nicht als Widerstandskämpfer gewürdigt, sondern als “Bürgerbräuattentäter” verunglimpft wurde, obwohl er seine Tat politisch überlegt beging und mit dem Leben bezahlte.
Es ist Verfälschung der Geschichte und der Sicht auf den Widerstand, wenn anlässlich der Rekrutenvereidigung auch in diesem Jahr der 70 Jahre Grundgesetz wieder die autoritären, zum Teil monarchistsch oder deutschnational gesinnten Persönlichkeiten des 20. Juli in die Tradition einer demokratischen Armee wie der Bundeswehr gestellt werden. Eine demokratische Parlamentsarmee des Grundgesetzes kann mit den Offizieren der Reichswehr in keiner Tradition stehen – auch nicht denjenigen, die sich 1944 gewiss verdienstvoll, aber viel zu spät und viel zu wenig grundsätzlich gegen den NS-Staat und seinen Diktator wendeten.
Falsche Tradition mit falschen Leitbildern
Diese – falsche – Art der “Traditionspflege” der Bundeswehr wurde nicht etwa von Merkel, sondern schon von Rot-Grün begründet. Bereits 1999 fand im Bendlerblock eine Rekrutenvereidigung statt, gegen die es damals aus guten Gründen – wegen des Kosovo-Krieges und seiner politisch widersprüchlichen Begründung – erfolgreiche Proteste der pazifistischen Jungdemokraten, ehemalige Jugendorganisation in der Nähe von FDP und Grünen, gab, die im Jahr drauf vom unseligen Bundesinnenminister Schily damit quittiert wurden, dass er die “Judos” als “Verfassungsfeinde” im Verfassungsschutzbericht diffamierte, was nicht nur viele Grüne, sondern auch Burkhard Hirsch und viele andere Liberale heftig aufbrachte.
Der Vorgang verdeutlicht, dass die Traditionspflege der Bundeswehr nach wie vor auf demokratisch desorientierten Füßen steht – nicht nur gestört durch rechte Exzesse, wie die Sammlung von Nazi-Devotionalien in einigen Kasernen und Einheiten der Bundeswehr, sondern allgemein durch eine große Orientierungslosigkeit in der Einschätzung demokratischer Traditionen in der Gesamtgesellschaft. Dabei gäbe es so viele positive Widerstandsbiografien, die ganz anders gewürdigt werden müssten: Etwa die von Willy Brandt, der vor den Nazis nach Norwegen floh und die wichtigsten demokratischen Reformen der 70er Jahre in der Bundesrepublik prägte. Oder – hier beispielhaft erwähnt – die zahlreichen Linksliberalen, die 1933 nach der “Machtergreifung” in den Widerstand gingen, und die in der Widerstandesgeschichtschreibung bis heute praktisch nicht auftauchen. Dabei gehören ihnen Prominente wie Inge Meysel oder die Brüder Thomas und Heinrich Mann an.
Beispiele linksliberalen Widerstands der 30er Jahre
Viele Jungdemokraten, seit 1919 Jugendorganisation der linksliberalen Deutschen Demokratischen Partei (DDP) hatten sich ab 1930 aufgrund der Spaltung der Liberalen durch die Gründung der “Staatspartei”, in der “Radikaldemokratischen Partei” oder, wie Anton Erkelenz und Inge Meysel, in der SPD engagiert. Für viele Mitglieder standen individuelle Strategien zur Vermeidung von systematischer Verfolgung an erster Stelle. Die Schriftstellerin Lilo Linke etwa emigrierte nach England, später nach Ecuador, Inge Meysel ging in die noch freie Stadt Danzig, ihr jüdischer Vater wurde versteckt. Der populäre linksliberale Bürgermeister Wilhelm Külz (Dresden) wurde bereits im Frühjahr 1933 von den Nazis abgesetzt. Der Heidelberger Staatsrechtler Gerhard Anschütz, die Hamburger Reformschul-Vorreiterin Schulrätin Emmy Beckmann und Schulleiter Heinrich Landahl – letzterer kurz nach seinem fehlgeschlagenen Protest gegen die Aberkennung seines Reichstagsmandats durch die Nazis – wurden aus dem Staatsdienst entlassen.
Julius Elbau, Chefredakteur der “Vossischen Zeitung” musste diese verlassen, die Frauenrechtlerin Dr. Marie-Luise Lüders erhielt Redeverbot und musste ihren Vorsitz in mehreren Frauenverbänden niederlegen.[1] Georg Bernhard, Mitbegründer der DDP, emigrierte im Februar 1933 über Kopenhagen nach Paris, Hellmut von Gerlach, Pazifist, Bürgerrechtler der Deutschen Liga für Menschenrechte und Mitbegründer der Radikaldemokratischen Partei, floh über Österreich nach Frankreich, ebenso wie Heinrich Mann, der bereits im Februar in die Schweiz emigrierte. Der populäre, den Jungdemokraten nahestehende Bürgermeister von Nürnberg, Herrmann Luppe, wurde von den Nazis 1933 illegal seines Amtes enthoben und am 18. März verhaftet. Luppe wurde aus Nürnberg ausgewiesen und ging nach Berlin, wurde Mitglied in einer Zelle späterer Widerstandskämpfer und war am Vertrieb vom Materialien der Deutschen Freiheitspartei beteiligt. Deswegen wurde er im Herbst 1938 verhaftet, allerdings nach zwei Monaten wieder entlassen, weil ihm nichts nachgewiesen werden konnte. Danach kehrte er in seine Geburtsstadt Kiel zurück. Nach dem Attentat von Georg Elser auf Adolf Hitler kam er für weitere drei Wochen in Haft. Auch danach kam er wieder frei, wurde aber ständig zu Verhören bei Polizei und Gestapo vorgeladen. Er starb bei einem Bombenangriff auf Kiel.
Alltagswiderstand statt Heldenepos zeichnet Demokraten aus
Der jungdemokratische Bürgerschaftsabgeordnete Erich Lüth (HH) prangerte 1932 die Heldenverehrung Hitlers an, was seinen Bruder in Gestapo-Haft brachte. Er wurde 1943 als Soldat ins Afrikakorps eingezogen und geriet 1945 in Italien in Kriegsgefangenschaft. Lüth trat nach 1945 als Publizist und aktiver Bürgerrechtler hervor (u. a. Direktor der Staatlichen Pressestelle Hamburg 1946-1954 und 1957-1964). 1950 rief er als Privatperson zum Boykott eines Films von Veit Harlan auf, des Regisseurs des NS-Propagandafilms „Jud Süß“. Auf Antrag der Verleihfirma verurteilte ihn im Nov. 1951 das Landgericht Hamburg zur Unterlassung (mit Strafdrohung). Mit seiner Verfassungsbeschwerde erstritt er ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts, das als „Lüth-Urteil“ berühmt geworden ist.[2] Das BVerfG hob das Urteil des Landgerichts auf und stellte klar, dass das Grundrecht auf freie Meinungsäußerung nicht nur gegen staatliche Eingriffe gilt, sondern dass ihm eine besondere Bedeutung „auch dort zukommt, wo es mit privaten Interessen anderer in Konflikt kommt.“ Für die „Drittwirkung von Grundrechten“ erlangte dieses Urteil wegweisende Bedeutung.
Linksliberale Widerstandsgruppen bildeten sich in Hamburg, wo Hans Robinsohn bereits vor der Machtergreifung 1932 die Gründung einer Untergrundgruppe forcierte, aber damit zunächst scheiterte.[3] Allerdings war er 1934 auf breiterer Basis in Berlin (Ernst Strassmann), Bamberg (Thomas Dehler) erfolgreich, indem er etwa 60 Personen in voneinander abgeschotteten Zellen organisierte. Nach der Emigration Robinsohns hielten diese Gruppen Kontakt mit Gruppen um Goerdeler und mit dem britischen Geheimdienst.[4] Ludwig Martin Hein (*1906), Bankangestellter und von 1924-1933 Vorsitzender der Berliner Jungdemokraten, emigrierte als Jude und Liberaler nach kurzer Haft 1933 nach Frankreich, im September ’33 nach Brasilien. Auch Ernst Feder, Rechtsanwalt und Journalist, aktives Mitglied der Jungdemokraten, floh zunächst über die Schweiz nach Paris, 1992 nach Rio de Janeiro, von wo aus er weiter publizierte.[5] Im März 1933 emigrierte auch Harry Graf Kessler (1868-1937) nach Südfrankreich, er war linker Liberaler, Pazifist und offen Homosexueller, Vorstandsmitglied der Deutschen Friedensgesellschaft und des Deutschen Künstlerbundes und schrieb eine Biografie über Walther Rathenau. Er starb 1937 im Exil.[6] Nach dem 20. Juli 1944 saßen prominente DDP-Mitglieder in KZ-Haft wie Otto Geßler, Theodor Tantzen, die überlebten, dagegen wurden Fritz Elsas, Eduard Hamm, Hans von Donahnyi und Albrecht Graf Bernstorff in GESTAPO-Haft bzw. Konzentrationslagern ermordet. [7]
Widerstand mit Intelligenz und Phantasie
Thomas Dehler, Rechtsanwalt und mit der Jüdin Irma Dehler geb. Frank verheirateter Jungdemokrat, leistete aktiv Widerstand, indem er Juden vor Gericht verteidigte, sich weigerte, in eine Scheidung von seiner jüdischen Frau einzuwilligen und weiterhin Juden in Prozessen vertrat. Er verweigerte den Hitlergruß beim Betreten des Gerichts indem er grundsätzlich zwei schwere Aktentaschen trug. Der “Stürmer” verunglimpfte ihn deshalb als “echten Judengenossen” und die NS-Gerichte versuchen wiederholt vergeblich, ihn wegen “groben Unfugs”, “Rechtsbeugung” oder Pflichtverletzung zu verurteilen.[8] Dehler war einer der wenigen bekannten Jungdemokraten, die die NS-Zeit überlebten, nicht emigierten und nach 1946 in der FDP aktiv wurden.
Auch Dr. Julie Meyer, Mitherausgeberin des “Echo der jungen Demokratie”, einer wichtigen reichsweit erscheinenden linksliberalen Monatsschrift, emigrierte 1937 nach New York mit ihrer Mutter und Schwester, berichtete 1946, dass einige andere Jungdemokraten wie Hans Muhle, Hans Kallmann, Edgar Dreyfuss, Eugen Schmidt und Prof. Friedrich Bärwald in die USA emigrierten.[9] Allein dieser kleine Ausschnitt der aktiven Demokraten, die sich in Deutschland oder aus dem Exil heraus gegen den Nationalsozialismus engagierten, machen deutlich, dass es ein breites Reservoir an Demokraten gab, die eine Widerstandstradition begründeten – die Widerständler der Sozialdemokratie und des Zentrums sind da noch hinzuzufügen.
Echter Widerstand braucht Zivilcourage der BürgerInnen im Alltag – keine Helden
Dass allesamt im politischen Bewußtsein der Gegenwart unterbelichtet sind, hat auch mit der Geschichte der beiden deutschen Staaten zu tun. Denn während im Westen selbst von Stauffenberg von Ewiggestrigen bis in die 70er Jahre als “Landesverräter” diffamiert wurde, und der Adenauer-Staat, der mit einem Staatssekretär im Kanzleramt Globke und einem BND-Chef Gehlen alte Nazis in entscheidenden Positionen duldete, sich mit einer Widerstandskultur schwer tat, durften in der Propaganda der DDR außer Kommunisten keine nennenswerten Widerstandsnester existent gewesen sein. Eine wirklich demokratische Widerstandstradition herauszuarbeiten und die bisher kaum beachteten kleinen Heldinnen und Helden des Alltags und des Nicht-Abfindens mit dem NS-Regime aus dem Dunkel der Geschichte herauszuholen, bleibt eine wichtige Aufgabe der Auseinandersetzung mit der NS-Zeit. Um so wichtiger angesichts der Versuche der AfD und anderer Rechtsextremisten, die Geschichte nach rechts zu wenden und zu klittern.
[1] Horst R. Sassin, Liberale und Widerstand, Friedrich Naumann-Stiftung 1983 S. 28ff.
[2] 15. Januar 1958, BVerfGE Bd. 7, 198.
[3] Horst R. Sassin, a.a.o. S. 28.
[4] Horst R. Sassin, a.a.O. S. 39 ff.
[5] Horst R. Sassin, a.a.O. S.102-103.
[6] Horst R. Sassin S. 68.
[7] Eine umfassende Liste der ermordeten Nazi-Ofer mit liberalem Hintergrund hat Sassin auf S. 111 seiner Publikation erstellt, soweit dies die Quellenlage 1983 erlaubte.
[8] https://de.wikipedia.org/wiki/Thomas_Dehler.
[9] Brief von Dr. Julie Meyer v. 5.4.1946 an die Familie Stündt im Deposit Fuhlrott FNS-Arch.d.Liberalismus, zit. nach Appel/Kleff 100 J. Jungdemokraten, Academia-Verlag 2019
Hinweis des Herausgebers: der Autor hat auf Angabe seines eigenen gemeinsam mit Michael Kleff herausgegebenen Werks “Grundrechte verwirklichen – Freiheit erkämpfen; 100 Jahre Jungdemokrat*inn*en” verzichtet, in dem zahlreiche in diesem Text genannte Persönlichkeiten eine nachträgliche politische Würdigung finden.
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