Wenn sich die Stimmung innerhalb einer Partei parallel zu ihren Umfragewerten bewegt, dann muss die Frage erlaubt sein, welchen Stellenwert ihre eigenen Überzeugungen dabei behalten. Wenn die Grünen, ihre Mitglieder und Anhänger*innen sich von privaten Umfrageinstituten umblasen lassen, dann wirft das Fragen nach ihrer politischen Praxis auf, für den Fall, dass sie irgendwohin gewählt werden. Wenn sich Wähler*innen diesbezüglich auf eine Partei nicht verlassen zu können meinen, dann schauen sie sich, sofern sie überhaupt teilnehmen wollen, nach Alternativen um. Schnell entsteht daraus eine sich selbst verstärkende Dialektik.
Grüner Markenkern
In vielerlei Hinsicht wurden Grüne früher mal als standhaft wahrgenommen:
– für Umwelt, Ökologie, Klima- und Verbraucher*innen*schutz
– für Frieden, Abrüstung und ein fortschrittliches Europa (Zweifel begannen bereits 1999 mit dem Kosovo-Krieg)
– für soziale Gerechtigkeit mit Priorität für die Schwächsten
– für Bürgerrechte für alle, auch alle Minderheiten, gegen Polizei- und Überwachungsstaat
– für Solidarität mit Flüchtlingen und Einwanderer*innen und bewusstem Umgang mit religiöser, kultureller und sozialer Diversität.
Mit diesen Themen waren glaubwürdige öffentliche Personen und Gesichter verbunden, von Petra Kelly bis Claudia Roth, Bärbel Höhn und Renate Künast, von Jürgen Trittin bis Cem Özdemir und Fritz Kuhn. Niemand von ihnen unumstritten, alle mit vielen sie ehrenden Gegner*inne*n und Feind*inn*en, aber jede*r für sich eine Marke, die für Substanzielles geradestand.
Wie konnten die Grünen dieses kraftvolle Branding gedankenlos gefährden und selbst demontieren?
Schuld ist im Kern vermutlich die FDP. In ihrer sozialen Herkunft nämlich sind die Grünen nicht Fleisch vom Fleische der SPD, wie die wohl heute immer noch glaubt, sondern die Kinder der FDP-Eltern. Und so, wie viele jahrzehntelang mit ihren Eltern kein Wort gesprochen haben, verhalten sie sich gegenüber dieser Konkurrentin. Gesprochen wird nicht. Aber mit Aussterben wurde gerechnet. Darauf waren etliche grüne Köpfe so fixiert, dass sie sich ihre gedankliche Agenda davon diktieren liessen. Die verarmte auf diese Weise intellektuell und verlor an gesamtgesellschaftlicher Relevanz. Ich habe mich selbst in meinem politischen Leben stark an der FDP abgearbeitet. Aber seien wir ehrlich: es ist ein kleines Thema vom äussersten Rand unserer Gesellschaft.
Wenn die FDP wirklich ausstürbe, entstünde ein Vakuum, als Funktions- (= Mehrheitsbeschaffungs-)Partei zwischen SPD und CDU, und man wäre, ganz wie früher die FDP, in den feuchtesten aller Realo-Träume für immer Regierungspartei. Endlich. Lebensziel erreicht. Entsprechend wählte die Grünen-Basis in einem der überflüssigsten Wahlakte aller Zeiten sogenannte, im deutschen Wahlrecht nicht existente, Spitzenkandidat*inn*en zur Bundestagswahl, die diese Rolle optimal spielen könnten, “Boring-“Eckardt und Özdemir. Dann machte es einmal “Puff” mit der SPD-Aufstellung von Martin Schulz, und langsam wachen die Grünen auf.
Wahlprogramm – von der Stärke zur Schwäche
Werden sie nun die richtigen Schlüsse ziehen? Selbstironisch sprechen die Grünen schon immer über ihre dicken Wahlprogramme. Diesmal wollte es die Parteiführung endlich “professionell” machen, vermied eine übermässige Beteiligung von Basis und Fachgremien und war selbstbesoffen beglückt davon, dieses Mal einen viel kürzeren Text vorlegen zu können. Doch ihre Partei haben sie damit ein weiteres Mal enteiert.
Es ist richtig, dass kaum jemand solche dicken, sprachlich schwer lesbaren Texte (ich war selbst mal an der Endredaktion des NRW-Landtagswahlprogramms 2005 beteiligt) vollständig liest. Ebenso vollständig falsch ist, dass keine/r Teile des Programms liest. Im Gegenteil: bei den zahlreichen grünen Wahlkampfinfoständen, an denen ich seit 1990 teilgenommen habe, waren Partei- und Wahlprogramme immer Bestseller, egal ob sie verschenkt oder verkauft wurden. Ganze Klassensätze für den Schulunterricht, waren keine Ausnahmen, sondern Regel.
Noch wichtiger sind diese Texte jedoch für die inhaltliche und strategische Selbstverständigung sowie die fachlich und diskursive Weiterbildung der eigenen Mitglieder, die anschliessend in Wahlkämpfen den Wähler*inne*n gegenübertreten. Welche Botschaften werden sie im persönlichen Kontakt vermitteln? Standfestigkeit? Überzeugungskraft? Selbstbewusstsein? Oder Wankelmütigkeit, Überdruss und schlechte Laune? Das alles entscheidet sich in der Wahlprogrammdiskussion.
Sollte es nach der Wahl zu Koalitionsverhandlungen kommen, wären es die mit dem dicksten, gründlichsten Wahlprogramm, die auch am besten vorbereitet wären, weil sie eben vieles in den eigenen Reihen schon ausgetragen hätten, was die anderen dann hektisch nachholen müssen.
Die Profis in Berlin fürchten nichts mehr als die öffentliche Austragung von Meinungsverschiedenheiten. Dabei war das mal ein Schmuck der Grünen: Streit über wirklich wichtige Themen, über die sich sonst niemand zu streiten traute: Krieg und Frieden, Kosovo, Afghanistan, Irak. Oder in NRW: Garzweiler. Phönix würde das live übertragen, die bei diesem Nischensender vor der Glotze sitzende politikinteressierte Minderheit würde alles Gesehene in die Gesellschaft multiplizieren, es würde ausstrahlen. Davor haben die Grünen von heute Angst. Warum nur?
Agenturen in Verzweiflung
Die geographische Randlage und soziale Selbstreferentialität der Hauptstadt, sie könnte die Grünen umbringen. Ich habe selbst in den 90ern die Verzweiflung von dienstleistenden PR-Agenturen erlebt, die von Grünen Auftraggeber*inne*n in Schiedsrichterrollen für innerparteiliche Konflikte, deren offene Austragung gefürchtet wurde, gedrängt wurden. Wenn sie professionell reagierten, gaben sie den Auftrag zurück: klärt eure internen Konflikte erst mal, das dient der strategischen Klarheit eures Auftrages an uns. Heute regiert das Geld. Der Auftrag wird gerne genommen. Was die Partei nicht erledigt, besorgt die Agentur. So mutieren Wahlkämpfe zu Agenturwettbewerben. Was politisch dabei rauskommt, ist ja egal. Inhaltlich kommen Kopfgeburten dabei heraus, die mit dem Alltag ausserhalb von Berlin-Mitte zu wenig zu tun haben.
Die ungeklärten Grünen-Konflikte werden nicht mehr öffentlich und nachvollziehbar ausgetragen, sondern klandestin. Das beeinträchtigt auch ihre inhaltliche Qualität auf lebensgefährliche Weise. Die feuchten Realo-Träume habe ich oben schon erwähnt. Doch auch eine Parteilinke ist mir zwar in Teilen persönlich bekannt, aber öffentlich und für Aussenstehende gar nicht mehr wahrnehmbar. Die Austragung von Konflikten wird auf die nichtöffentliche Aushandlung von Kandidat*inn*enlisten eingedämmt. Das funktioniert leidlich unbemerkt und ist zum Vorteil der beteiligten Personen. Der Partei und ihrer Ausstrahlung nützt es dagegen nichts. Die “erfolgreichen” Personen werden noch nicht einmal bekannter. Ist das vielleicht der Zweck? So wird nicht nur die öffentliche Ausstrahlung ausgeknipst, auch das eigene Denken und Handeln der Beteiligten: es kreist um die eigene Absicherung und die gefährlichsten Konkurrent*inn*en. Das sind gemäss der innerparteilichen Wettbewerbslogik dann nicht mehr politische Gegner*innen, sondern die nahestehendsten Parteifreund*inn*e*n. Das habe ich an dieser Stelle schon mal als “neoliberalen Charakter des linken Radikalismus” beschrieben.
Türkische Demokrat*inn*en – Chance vertan
Aus dieser Logik der Praxis ergibt sich zwingend eine gezielte Vermeidung von Kaderplanung und -entwicklung, böse Wörter, früher aus dem Stalinismus, heute aus dem Fußball. Eine Stärke haben die Grünen sich bis heute erhalten, die Frauenquote. Umso blamabler war es, dass Boring-Eckardt öffentlich präsentiert ohne Wettbewerberin blieb. Da fehlte zum ideellen Postulat die materielle Basis, verräterisch. Immerhin: bisher haben die Männer erfolglos gegen diese Quote gestänkert. Die Chance der spektakulären Wahl von Cem Özdemir zum Parteivorsitzenden liessen die Grünen Untergliederungen dagegen weitgehend tatenlos verstreichen. Die Grünen könnten heute die Vertretung der erdogankritischen türkischen Demokrat*inn*en in Deutschland sein, zumal die Linke/ehem. PDS sich zunächst nur als reines Scheunentor für PKK-nahe Kurd*inn*en anbot, und so mangels eigener Kenntnis eine Riesen-Marktlücke offenliess. Die ist jetzt geschlossen. Denn die biodeutschen Grünen interessierten sich nicht dafür, sondern für sich und das eigene Fortkommen. Warum poenzielle Konkurrent*inn*en für Kandidaturen und Mandate anwerben? (s. “neoliberaler Charakter”)
Völlig verloren gegangen ist das frühe grüne Talent zur Provokation, das heute die Rechtsradikalen umso besser beherrschen und damit in den letzten Monaten die Agenda bestimmt und das gesamte politische Diskursspektrum weit nach rechts verschoben haben. Sicher, Provokationen haben das Talent zum Eigentor, einige davon (“5 Mark für Liter Benzin”, “Veggie-Day”) haben die Grünen traumatisiert. Der vollständige Verzicht auf dieses Mittel zeugt vor allem von Verunsicherung und Selbstzweifeln, ein leichtes Opfer für die rechte Sonntagspresse.
Grüne Medienstrategie – in Bonn nerdig-fehlerhaft
Dass die Presse von gestern ist, ist ein verhängnisvoller Irrtum der meisten technikaffinen jungen Grünen. Und die Jungen bilden überall den mehrheitlichen Kern von Aktivist*inn*en. Richtig ist: die Presse wird immer weniger wichtig. Das heisst aber nicht, dass sie schon unwichtig ist. Aussterben wird sie nicht. Viele Junge nutzen sie nicht mehr, aber die Alten sind mehr. Und sie gehen noch mehr wählen. So falsch es von saturierten Alten ist, die asozialen Netzwerke für irrelevante Schulhöfe zu halten, so verhängnisvoll strategisch falsch ist es von den Jungen, die Altmedien Presse und TV nicht mehr bespielen zu wollen. Darum ist es z.B. ein verhängnisvoller Fehler der Bonner Grünen, in einer extrem hohen Grünen-Hochburg ihre einst von Georg Abel in Beuel unter dem Titel “bonn drei” gegründete und später lange von Karl Uckermann weitergeführte Zeitung für alle Haushalte, die zeitweise sogar ausserhalb von Wahlkämpfen erschien, eingestellt zu haben. Ihre direkte Verbindung, vorbei an der lokalen Monopolzeitung, zu allen Haushalten, auch den nicht-grün-affinen, die die Grünen selbst dazu zwang, aus ihrer Filterblase herauszutreten und ihre Politik allgemeinverständlich zu vermitteln.
Wer einen relevanten Medienkanal mutwillig ausspart, wird bestraft. Viele Menschen lernen eben nur durch eigene Erfahrung.
Nicht Garzweiler – die NRW-Grünen in einem neuen Loch
Kann sein, dass die Bundesgrünen aus der beschriebenen aktuellen Malaise noch schnell lernen und Schlüsse ziehen. Doch was sollen die NRW-Grünen machen, die schon in wenigen Wochen eine wirklich wichtige Landtagswahl zu bewältigen haben? Die beschriebenen Probleme sind hier alle zu besichtigen. Die grünen NRW-Führungkräfte konnten, wenn wir mal Sylvia Löhrmann als Beispiel nehmen, persönliche Integrität und politische Strategie nicht ausreichend auseinanderhalten. Löhrmann ist integer, vertrauenswürdig, standhaft und geschäftsfähig. Doch was hilft das, wenn die Öffentlichkeit dann von der Landespolitik nichts mehr bemerkt, ausser den problematischen Auswirkungen? Man muss nicht nur dicke Bretter bohren und diskret-wirkungsvoll Gutes vorantreiben (z.B. die Inklusion in den Schulen), sondern auch öffentlich-inszeniert demonstrieren, wie man die Probleme zu lösen gedenkt. Und um die Aufmerksamkeit darauf zu erhöhen, kann die öffentliche Austragung eines Konfliktes dafür dienlicher sein, als seine Vermeidung. Jetzt sind die NRW-Grünen im Aufmerksamkeitsloch. Was machen die eigentlich? Wer kennt noch die Namen ihrer Minister*innen? Gut: Ralf Jäger ist dafür auch kein gutes Vorbild.
Parteien sind Mittel – nicht Zweck
Klingt Ihnen das nach bitterer Abrechnung? Ist es nicht. Über die Grünen weiss ich nur zuviel. Die anderen Parteien sind, auf jeweils eigene Weise, in vielem viel schlimmer. An Grünen-Infoständen riet ich Leuten, die erwogen, lieber diese oder jene Partei zu wählen: gehen Sie mal zu denen hin, schauen Sie sich die mal genauer an!
Parteien sind als politische Heimat nicht geeignet. “Der menschliche Erkenntnisprozess ist prinzipiell unabschliessbar.” (“Leverkusener Manifest” der Jungdemokraten von 1971). Den sollte man seiner Partei nicht überlassen. Parteien sind ein vom Grundgesetz vorgesehenes, wichtiges Mittel zum Zweck, an der politischen Willensbildung mitzuwirken. Dabei könnten Sie, wie ich seinerzeit in der FDP, bei “der Agentur jener Kräfte” landen, “denen wir in unserer Gesellschaft die Macht abnehmen wollen” (Bundeshauptausschussbeschluss der Jungdemokraten von 1980). Grundsätzlich sollte niemand seine ganze Persönlichkeit und sein ganzes Leben einer Organisation widmen. Das ist Sektenkultur. Es war vielleicht, aber auch nur vielleicht, im Widerstand gegen Faschismus eine mögliche Lebensform. Wir sind heute damit beschäftigt, es so weit nicht kommen zu lassen.
Parteien sind kein Zweck. Was könnten sinnvolle Zwecke sein, die z.B. ein fortschrittliches Parteiprogramm benennen müsste?
1. Grundrechte verteidigen, und zwar für alle.
2. Zukunft der Arbeit definieren – was und wieviel bleibt? Wie wird es verteilt? Wie bleibt niemand zurück? Welchen Lebenssinn wollen wir neben Arbeit sichern?
3. Frieden und Entwicklung – Frieden durch Auf- oder Abrüstung; Entwicklung durch “humanitäre” Intervention oder ökonomische Entwicklung?
4. Wie soll ein Friedensprojekt EU aussehen? Und wie erreicht werden? Wie die Kräfte ausgebremst werden, die sie zu einem aggressiven Subjekt gegen den Rest der Welt (Russland, China, USA und andere Konkurrenten) machen wollen? Wie wird die EU ein Freund der Welt statt eine feindliche Festung?
5. Klimaschutz – wollen verbal alle (ausser Trump); wer schliesst dabei welches Bündnis mit denen, die Angst um ihre Existenzsicherung haben (s. 2.)?
Und wenn es darauf inhaltliche Antworten geben sollte: wer sind die Gesichter dazu? Zu welchem Streit sind sie bereit? Und zu welchen Bündnissen? Wie steht es um die bündnispolitische Diskursfähigkeit der Partei und der handelnden Personen? Was bekommt der/die Wähler*in für ihre Stimme – nach der Wahl?
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