Rainer Maria Woelki muss als Theologiestudent an der Universität Bonn einem meiner erfolgreichsten Vorlesungsauftritte in einem Studentenparlamentswahlkampf beigewohnt haben. Bei den katholischen Theologen aufzutreten, war für alle linken Gruppen ein hartes Auswärtsspiel. Als Kandidat des kleinen, und dazu noch antiklerikalen Liberalen Hochschulverbandes (LHV) bedeutete das Szenario, dass ich als Letzter von allen drankomme, also dann, wenn schon alle eingeschlafen sind. Ich beobachtete, dass die Linken-Kandidaten fast alle betonten, dass sie mal Messdiener gewesen seien, so dass das Publikum nur noch ironisch aufstöhnte. Darauf baute ich die Rhetorik meines Auftrittes auf. Ähnlich ironisch kehrte ich heraus, “ja, auch ich” sei Messdiener gewesen, aber als Einziger sage ich das nicht nur daher: “Ich konnte in meinem Jahrgang das ‘Confiteor’ als erster auswendig!” (Confiteor war ein lateinisches Stossgebet, die längste Passage an einem Stück, das die Messdiener im Knien an den beiden Seiten des Priesters vor Eröffnung der Messe aufsagen mussten). Ich erntete einen brüllend-begeisterten grossen Vorlesungssaal. Viele Wählerstimmen brachte er wahrscheinlich nicht, aber einen Platz im Gedächtnis des Publikums hatte ich mir erobert.
Da der Herr Woelki in der Flüchtlingsdebatte der letzten Jahre die richtige Fahne heraushängte, muss das nicht alles vergeblich gewesen sein. Was er sich allerdings jetzt in der Debatte um sexuelle Gewalt in seinem bistümlichen Herrschaftsbereich leistet, das quält vermutlich – neben den traumatisierten Opfern – seinen Kirchenapparat mehr, als irgendwas anderes. Köln, das ist nach Chicago das reichste und also mächtigste Erzbistum der Welt. Es ist also geeignet, die komplette katholische Weltkirche in einen unbekannten, riesigen Höllenschlund zu ziehen. Es ist kaum denkbar, dass der Papst und der Vatikanapparat dem noch lange tatenlos zusehen kann. Es ist einfach zu teuer.
Signale dafür sind unüberhörbar. Manche meiner Gesinnungsfreunde stören die ganzen Religionssendungen in öffentlichen Medien gewaltig. Mit Recht weisen sie darauf hin, dass die Gruppe der Ungläubigen längst die grösste, und wachsende Einzelgruppe in der deutschen Bevölkerung ist. Andererseits: wer könnte Schandtatendeckern wie Woelki wirksamer das Handwerk legen, als Redaktionen wie “Tag für Tag” vom DLF (werktags, 9:35 h), wo Christiane Florin gestern zum Gnadenstoss angesetzt hat, um den Kardinal zur Aufgabe zu bewegen. Heute wird mit einer Diskussion nachgelegt (9:30 h).
Weihnachten läuft “optimal” schlecht für die Kirche, in der sich manche fürs Virus-Spreaden rüsten. Und dann noch dieser Woelki. Schlechteres Timing geht nicht.
Der spätere Kardinal Rainer Maria Woelki, wie er damals als Student an der Bonner Uni in den 70ern der Wahlkampfrede des LHV-Kandidaten Böttger lauscht, der sich als ehemaliger Messdiener für seine Wahl ins Studi-Parlament empfiehlt – eine wirklich schöne Geschichte, lieber Martin, die uns da erzählst. Dass Du in Deinem Jahrgang „das Confiteor als erster auswendig“ konntest, glauben wir Dir auch heute noch gerne.
Gut, dass der Link zum einschlägigen Eintrag bei Wikipedia auch Leser*innen, die „nichts mehr mit Kirche“ zu tun haben, in gebotener Sachlichkeit erläutert, was es mit dem Confiteor auf sich hat. Jedenfalls handelt es sich dabei nicht um ein „lateinisches Stoßgebet“ – da trügt Dich Deine Erinnerung, Martin –, sondern um ein öffentlich vorgetragenes Schuldbekenntnis: das Eingeständnis der persönlichen oder kollektiven Schuld vor Gott.
In einer Situation „vor Gott“ werden einstige Mitglieder des „antiklerikalen“ Liberalen Hochschulverbands sich vermutlich eher nicht sehen. Doch dass es neben dem individuellen Schuldigwerden auch kollektive Schuld von Verbänden, Regierungen oder Staaten gibt, das ist bekanntlich eine Auffassung, durch die sich beispielsweise vor allem die Nachkriegsgeneration in der damaligen Bundesrepublik veranlasst sah, ihren Eltern wegen ihrer Nazi-Vergangenheit peinliche Fragen zu stellen. (Der Wikipedia-Eintrag verweist in diesem Zusammenhang auf die verschiedenen „kirchlichen Schuldbekenntnisse“, die nach 1945 formuliert wurden.)
Insofern empfinde ich es – trotz aller Vorbehalte aus aktuellen oder historischen Gründen –
als wohltuend, dass die christlichen Kirchen das Bewusstsein des Schuldigwerdens von uns Menschen über die Jahrhunderte wach halten. Den amtierenden Kölner Kardinal sehe ich durchaus als einen Vertreter der christlichen Kirchen, der in dieser Tradition steht. In der Aufarbeitung der Fälle von sexuellem Missbrauch durch Priester fungiert er als Verwaltungschef der Erzdiözese Köln. Lügt er, deckt er Schuldige, verhält er sich ungeschickt? Die Features des Deutschlandfunks, zu denen der Beueler Extradienst verlinkt, stellen in diesem Zusammenhang die richtigen Fragen. Und wenn Kardinal Rainer Maria Woelki denn dem Papst seinen Rücktritt anbieten würde? Es wäre eine tragische Geschichte.