von Dr. Anita Idel
Das gefährlich dünne Eis des Agrarsystems
Corona. Ein heikles Thema in öffentlichen wie privaten Diskussionen. Aber ob Afrikanische Schweinepest oder Corona – Tierärztin Dr. Anita Idel versucht, über Fragen zu Ursprung und Verbreitung hinaus nach gemeinsamen Zielen suchen. Diese betreffen insbesondere das industrialisierte Agrarsystem sowie unser Ernährungsverhalten und reichen deshalb tief hinein in das Slow-Food-Motto »gut, sauber, fair!«
Das erste Corona-Superspreading Event
Die Zahl der Menschen, die zu Beginn des Jahres 2020 in Wuhan intensivmedizinisch wegen COVID-19 (coronavirus disease 2019) behandelt werden mussten, gilt inzwischen als Indiz für eine bereits im vergangenen Herbst erfolgte erhebliche Verbreitung des Virus in der dortigen Bevölkerung. Denn nur sehr wenige der Menschen, die mit SARS-CoV-2 (severe acute respiratory syndrome coronavirus-2) in Kontakt kommen, erkranken schwer.
Ihre wohl erste drastische Verbreitung fand COVID-19 auf einem Tiermarkt in der chinesischen Zehnmillionenstadt Wuhan Ende 2019: ein Superspreading Event, wie es auch Influenza-, Masern- sowie die SARS-CoV-2 verwandten Viren SARS-CoV-1 und MERS-CoV auslösen können. Dass der »Südchinesische Großhandelsmarkt für Fische und Meeresfrüchte Wuhan« einen wesentlichen Beitrag zur Verbreitung und damit entscheidend zur Wahrnehmung von SARS-CoV-2 geleistet hat, ist unbestritten, aber »keines der untersuchten Tiere« dieses Tiermarktes war positiv auf SARS-CoV-2 getestet worden. Dennoch hält sich das gängige Mantra, wonach »auch das neuartige Coronavirus auf einem Tiermarkt in Wuhan auf Menschen übersprang«. Märkte als Ursprung von Zoonosen, also Infektionskrankheiten, die wechselseitig zwischen Tieren und Menschen übertragen werden können, zu verstehen, würde in vielen Fällen voraussetzen, dass dort drei entscheidende evolutionäre Sprünge gleichzeitig passieren.
Welchen Weg nahm das Virus?
Denn wie kam SARS-CoV-2 letztlich auf den Tiermarkt? Auch fast ein Jahr später gibt es keine wissenschaftlichen Veröffentlichungen, die dessen evolutionäre Sprünge herleiten: Gemeint sind Erbgutschnipsel mit den speziellen Gensequenzen, die die für den Sprung auf eine andere Art jeweils notwendigen Veränderungen des Erbguts belegen. Seit SARS-CoV-2 bei Menschen zirkuliert, ermöglichen Erbgutvergleiche, seine Verbreitung teilweise rückwärts zu verfolgen und so Infektionsketten beim Menschen nachzuvollziehen.
Hingegen erweist es sich je nach Virus als extrem schwer bis unmöglich, bis zum genauen Ursprung einer viralen Epidemie vorzudringen. Zwar hat China am 13. Januar 2020 das komplette Genom des bei Menschen isolierten Virus SARS-CoV-2 veröffentlicht. Aber dessen konkreter Ursprung im Tierreich ist weiterhin nicht bekannt.
Erstens, wie wurde es dem Virus möglich, ausgehend von Fledermäusen, auf Tiere einer bestimmten anderen Art übertragen zu werden? Zweitens, wie gelang es dieser, Menschen zu infizieren? Und drittens, was musste im viralen Erbgut noch passieren, damit schließlich infizierte Menschen weitere Menschen infizieren konnten? Solche artüberschreitenden Entwicklungen starten häufig; aber sie enden aus Sicht der Viren meistens in Sackgassen, ehe sie ein für uns Menschen gefährliches epidemisches Potenzial entwickeln konnten.
Am Beginn der SARS-CoV-1-Epidemie in Guangdong im Jahr 2002 wird die chinesische Hufeisennase, eine Fledermausart, vermutet. Aber auch, dass eine andere Tierart als Zwischenwirt für die letztlich erfolgreiche Übertragung auf den Menschen notwendig war.
Für SARS-CoV-2 steht ebenfalls eine Fledermaus im Fokus, die Java-Hufeisennase – wiederum weniger direkt als indirekt; denn illegal gehandelte Malaiische Schuppentiere könnten als Zwischenwirt gewirkt haben. Ob Fledermäuse wie Nilflughund und Java-Hufeisennase oder Schuppentiere und Marderhunde – ihr Potenzial als Ursprungswirt oder Zwischenwirt für Viruserkrankungen beim Menschen verunsichert.
Erkenntnisse vor der eigenen Haustür…
Dass es sich bei SARS-CoV-2 um ein besonderes Virus und auch um ein besonderes Corona-Virus handelt, hätte in Europa und speziell in Deutschland spätestens seit Ende Januar 2020 das staatliche Handeln bestimmen können und müssen. Denn nach Bordeaux und Paris offenbARTE das Virus auch beim bayrischen Autozulieferer Webasto eine zentrale Eigenheit: Nicht oder noch nicht für sich und andere wahrnehmbar Erkrankte können das Virus bereits deutlich vor einem möglichen Krankheitsausbruch übertragen: Dokumentiert sind Fälle bis zu zwei Wochen – ein Alptraum für die Epidemiologie. China drosselte rund um das Neujahrsfest wegen der bereits massiven Verbreitung den Verkehr und riegelte am 23. Januar das Epizentrum Wuhan und die Provinz Hubei mit 60 Millionen Menschen ab. Deutschland reagierte erst Mitte März und ließ symptomlose Flugreisende aus China oder dem Iran sogar noch bis in den April unbeschränkt einreisen. Ebenfalls erst im April startete eine Studie, um das Superspreading in Heinsberg vom Februar zu untersuchen.
…aber Forderungen an die anderen
Hingegen stand im Fokus der Diskussion in Europa in den ersten Wochen und Monaten dieses Jahres viel mehr, was in China zu tun und zu lassen sei. Dabei dominierten Ansprüche mit erheblichem Einfluss auf das Ernährungsverhalten. »Wir fordern«, formulierte zum Beispiel am 15. Februar 2020 die Deutsche Tierschutzgesellschaft: »Eine dauerhafte Schließung solcher Märkte ist aus gesundheitlichen Gründen, aber vor allem auch aus Sicht des Tierschutzes unausweichlich«; denn die dort gehandelten Schuppentiere stünden »im Verdacht, potentielle Zwischenwirte des Wuhan-Virus zu sein.« Der WWF brachte es am 8. April 2020 auf den Punkt: »Schliesst die Tiermärkte jetzt.« Eine entsprechende Petition richtete Peta an die Weltgesundheitsorganisation WHO.
Gut und sauber
Für Ursula Hudson, unsere erst im Juli verstorbene damalige Vorsitzende, kamen solche einseitigen Forderungen nicht überraschend: »Die Tiermärkte sind öffentlich; dort können wir die Tierqual direkt erleben und die Tiere noch als Individuen wahrnehmen.« Vieles spräche für die Schließung, aber vorrangig gelte es, uns und insbesondere unser hiesiges Ernährungssystem in die Verantwortung nehmen: »Wir sehen niedliche Pangoline in Metallkäfigen. Verborgen leben hingegen unsere Schweine und ebenso niedlichen Ferkel, bis sie dann als anonyme Schnitzel auf dem Teller liegen… Und der Raubbau an den Ressourcen für Tierfutter in Monokulturen findet zwar auch hier bei uns, aber noch weit mehr auf anderen Kontinenten statt!« Das bringt es auf den Punkt: Wir nehmen das individuelle Leid der Tiere – auf Spaltenböden aus Beton und auf perforierten Metallgitterböden aus ummanteltem Draht – nicht wahr. Zudem verdrängen wir die mit der industriellen Fleischproduktion verbundene Zerstörung der Bodenfruchtbarkeit, der Gewässerqualität, der biologischen Vielfalt und der sozio-ökonomischen Verheerungen durch das Höfesterben.
Ob Hybridschwein aus der zunehmend industrialisierten Produktion oder Pangolin: Die Ressourcenzerstörung für Tierfutter in Monokulturen sowie Wildtiermärkte verschärft Klima- und artenkrise in bisher unbekanntem Ausmaß. Mit der dramatischen Zerstörung der Ökosysteme und dem damit verbundenen Verlust von Lebensraum gefährdet der Mensch letztlich immer auch sich selbst: Es begegnen sich wilde Tiere und Menschen einschließlich ihrer bakteriellen und viralen Mitbewohner: In der Folge entstehen Erreger mit ganz neuem Potenzial, auch Menschen zu infizieren. Der UN-Bericht des Weltbiodiversitätsrats IPBES (Intergovernmental Science-Policy Platform on Biodiversity and Ecosystem Services) von 2019 sieht rund eine Million Tier- und Pflanzenarten vom Aussterben bedroht.
Keine Chance für ein gesundes Immunsystem
Aber es wäre ein großer Irrtum zu meinen, von den hiesigen abgeschotteten Tierställen mit ihren »Bio-Security-Konzepten« ginge keine Gefahr aus. Im Gegenteil! Erstens zielt die Tierzucht einseitig auf Hoch- und Höchstleistung und nicht auf Robustheit und Freilandtauglichkeit – auf Kosten der tierischen Selbstregulationsmechanismen. Zweitens behindern auch die Haltungs- und Fütterungssysteme die Ausbildung eines gesunden Immunsystems. Daraus resultiert, dass die Tiere anfällig werden für virale und bakterielle Erkrankungen. Und drittens verwandeln diese Rahmenbedingungen Ställe in »schnelle Brüter«, weil sie beste Lebens- und Vermehrungsbedingungen für Erreger bieten. Deshalb nehmen mit dem weltweit steigenden Einsatz von Antibiotika, Antiparasitika und Desinfektionsmitteln auch die Resistenzen dagegen dramatisch zu, weil zwangsläufig immer potentere Erreger entstehen.
Und wo bleibt fair?
Soweit zum »gut und sauber«. Ursula Hudson hob in diesem Zusammenhang auch das »fair« hervor: »Tiermärkte sind nicht selten Teil des Ernährungssystems indigener Völker und für Menschen in abgelegenen Regionen manchmal sogar die einzige Proteinquelle.«
Und wir dürfen nicht blind sein dafür, dass die Fleischindustrie nur darauf wartet, sie durch Intensivtierhaltung mit Megaschlachthöfen zu ersetzen. Im Mai 2020 erreichten die chinesischen Fleischeinfuhren infolge der dort grassierenden Afrikanischen Schweinepest (ASP) Rekordmengen – mit wachsenden Anteilen aus Deutschland. Mit den Fleischüberschüssen steigt die Abhängigkeit der Schweinemäster: Tönnies exportiert inzwischen circa 50 Prozent und Westfleisch 40 Prozent seiner Produktion. Obwohl es nur eine Frage der Zeit war, zitterten die Schweineproduzenten und der Bauernverband vor der ASP, statt den Ausstieg aus der politisch gewollten Exportstrategie zu betreiben. Am 11. September 2020 wurde der Ausbruch der Afrikanischen Schweinepest (ASP) in Brandenburg amtlich bestätigt. Wie absehbar schließen seitdem einige Länder ihre Grenzen und die Schlachthofbetreiber senken die Preise für Schweine.
Weltmarkt bedeutet Risiko und vernichtet bäuerliche Existenzen. Der Strukturwandel ist gewollt – ein »Fortschritt« auf Kosten von Tier, Umwelt und Mensch, dem in Deutschland schon vor über 40 Jahren auch das Weideschwein erlag.
Der Umbau der Landwirtschaft und das Überleben der Betriebe auch mit bedrohten Arche-Passagieren kann nur auf wahrer Tiergesundheit als Zuchtziel basieren. Das erfordert transparente Preise und neben dem Rückgang des Fleischkonsums Rahmenbedingungen für Weidegang sowie Regionalität bei der Mast, (mobilen) Schlachtung und Verarbeitung. Ganz im Sinne von Ursula Hudson: »Lesson learned« vor der eigenen Haustür.
Dieser Beitrag ist eine Übernahme aus dem Slowfood-Magazin 6/2020/21 Dezember/Januar, mit freundlicher Genehmigung der Autorin und der Redaktion.
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