Zivilisatorische Leistungen wie Eisenbahn- oder Brückenbau, Häfen und andere Formen von Industrialisierung werden seit einigen Jahren als aggressive Strategien bewertet. Wenn China das im Ausland so betreibt, wie es das im Inland schon getan hat. Niemand bestreitet, dass das in unvorstellbarer Geschwindigkeit Weltmacht gewordene “Entwicklungsland” im Inland erstaunlich erfolgreich Hunger und Armut zurückgedrängt hat. Mächtig geworden, ist es nun ein “gefährlicher” Konkurrent für die bisherigen Mächtigen. In den 70ern waren auch Pipelines noch Verbindungen, die den Frieden sicherer machten – jetzt werden sie als Bedrohungen wahrgenommen (obwohl sie meine Heizkosten zuhause unter Kontrolle halten könnten).
Für uns Konsument*inn*en, Leser*innen, Glotzer*innen ist es schwieriger geworden, Informationen zu gewinnen, strategische Spins von faktenorientierten Darstellungen zu unterscheiden. In meinen Augen ist dem von mir schon mehrmals als Besserwisser kritisierten Peter Nowak/telepolis diese Gratwanderung mal richtig gut gelungen. Schade, dass abwägende Diskussionsbeiträge dieser Art heute so selten sind (im deutschen Sprachraum jedenfalls).
Schon in der Debatte um das berüchtigte Social-Credit-System waren mir Widersprüchlichkeiten aufgefallen. In unseren Betrachtungen werden Big-Brother-Albträume aufgerufen. Die Alltagspraxis in China ist jedoch bisher ein Experimental-Mosaik von privaten (wie bei unseren “Schufas” und Versicherungskonzernen) und staatlichen Systemen – die in der Tat eines Tages von einem Despotenregime vereinheitlicht, verstaatlicht und zusammengeschaltet werden könnten (aber noch nicht sind). Viele Chines*inn*en finden solche “objektiven” Systeme besser, als die heutige oftmals korrupte Politik- und Verwaltungspraxis vor Ort, und versprechen sich davon eine bessere Transparenz und Kontrolle der Parteikader, die sie derzeit vor Ort schurigeln. Also so ähnlich, wie die Mehrheit hiesiger Schwachköpfe, die glauben, mit Videoüberwachungen “mehr Sicherheit” zu bekommen. Der Gegenbeweis ist massenhaft erbracht, spielt aber in den veröffentlichten Diskursen keine Rolle.
Zum Stand der Überwachungsdinge in unserer Region lesen Sie Alexander Fanta/netzpolitik hier und hier.
Immerhin können wir als Wähler*innen unsere Regierung noch gefahrlos auswechseln lassen. Und – so wie ich hier an dieser Stelle – unsere Meinung frei äussern, ohne dass mir meine Rente gekürzt wird, oder ich irgendwohin verschwinde (ich bin ja auch nicht wirklich gefährlich für irgendjemand). Darum lebe ich lieber hier im Rheinland, als in irgendeiner chinesischen Provinz. Aber vieles ist doch vertrackt ähnlich. Oder wird es.

Über Martin Böttger:

Martin Böttger ist seit 2014 Herausgeber des Beueler-Extradienst. Sein Lebenslauf findet sich hier...
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