von Ludger Volmer

Versuch einer Problemskizze

Die Bundestagswahl hat gezeigt, dass die alte Lagerstrategie bis auf weiteres obsolet geworden ist. Die Gründe mögen an anderer Stelle diskutiert werden. Heute stellt sich das Bild m.E. folgendermaßen dar: Es gibt einen gesellschaftspolitischen Mainstream, ausgedrückt durch die Jamaika-Parteien plus rechter SPD, welche die Regierungspolitik unter sich ausmachen. In diesem Mainstream geht es maximal um graduelle Positionsverschiebungen zwischen den Polen Grüne und CSU. Anhänger sozialer, sozialistischer, feministischer, linksökologischer Politik können sich aber nicht darauf beschränken, den Grünen die Daumen zu drücken. Denn jenseits von Jamaika stellt sich die Frage, welche politische Kraft die Alternative zum Mainstream markieren kann. Zurzeit sind völkisch-rassistische Ideologien der Rechtsparteien in der Offensive. Umso wichtiger ist es, dass die linken Kräfte sich neu verständigen und formieren, um ihre humanistischen Deutungsangebote offensiver in die Gesellschaft zu tragen und auf mittlere Sicht Mitte-links-Koalitionen möglich zu machen.

Einhundert Jahre nach dem historischen Schisma der Linken sollte dabei alles vermieden werden, was die alte Spaltung zementiert und aktuelle Differenzen emotional vertieft. Das betrifft auch die Sprache. Theoretische Klarheit scheint wünschenswert, Stigmatisierung nicht.
Dies gilt insbesondere für das in jeder Hinsicht aufgeladene Thema der Zuwanderung. Die scheinbare gesellschaftliche Bipolarität in dieser Frage (Rassisten vs. Humanisten, Nationalisten vs. Internationalisten, Pack vs. Liberales Bildungsbürgertum) sollte nicht auch noch von linker Seite verfestigt werden. Denn ganz so einfach ist es nicht. Jeder Rassist ist Ausländerfeind; aber nicht jeder Skeptiker der Zuwanderungspolitik ist Rassist.

These 1:
In der Frage der Zuwanderung gibt es – solange man auf innen- und rechtspolitischem Terrain bleibt – nur reaktionäre, konservative oder liberale Antworten, aber keine dezidiert linken. Dann und nur dann, wenn das Problem mit Blick auf globale ökonomische, ökologische, ethno-religiöse und genderpolitische Probleme umdefiniert wird, entsteht Raum für linke Konzepte.
Ein Teil der Linken unterstützt linksliberale Strategien oder will sie noch weiter ausbauen Richtung offener Grenzen. Die Solidarisierungsrichtung geht nach außen, hin zu den Opfern von historischem Kolonialismus, aktuellem Neoliberalismus und seinen fatalen Regionalpolitiken. Ein anderer Teil solidarisiert sich eher nach innen mit den sozialen Gruppen, die objektiv oder nach eigenem Empfinden die Hauptlast der Migration zu tragen haben. Beide Sichtweisen haben ihre Widersprüche, die nicht leicht aufzulösen sind.
Eine soziale Politik, die den Nationalstaat als Grenze der Solidarität fixieren will, läuft Gefahr, die internationale Bedingtheit und die daraus erwachsende Dynamik der Zuwanderung zu verdrängen. Die Beschränkung auf die sozialen Interessen der eingeborenen Unterschichten neigt zur Bestärkung von Ressentiments gegenüber Zuwanderern und zur Verengung tatsächlich vorhandener Spielräume. Sie setzt das Gebot der Aufklärung aufs Spiel zugunsten oberflächlichen Sympathiegewinns. Das autoritäre Sozialstaatsverständnis will zwar Benachteiligte besser behandeln, kämpft aber nicht dafür, sie selbst im emanzipatorischen Sinne handlungsfähig zu machen. Seine politische Ethik gebietet die Verteidigung des nationalen Status quo gegenüber einer unkalkulierbaren gesellschaftlichen Dynamik, die seiner eigenen Klientel noch weiter zusetzen könnte. Sie will Zumutungen begrenzen, um ihre Klientel nicht noch anfälliger für rechte Erlösungsangebote zu machen. Die traditionssozialistische, nationalstaatliche Ausrichtung sozialer Politik trägt zur Re-Nationalisierung des politischen Denkens insgesamt bei und unterläuft die Erkenntnis, dass in Zeiten einer unumkehrbaren ökonomischen Globalisierung Nationalismus immer das Problem und nie die Lösung ist. Von integrativer Außenpolitik auf der Basis friedlichen Interessenausgleichs gar nicht zu reden.
Die internationalistische Linke versucht, diese Fallen zu vermeiden, tappt aber in andere. Warum soll es progressiv sein, Instabilitäten, die im internationalen Raum entstanden sind, zu importieren, statt Stabilität zu exportieren? Wenn man durch offene Grenzen den Nationalstaat faktisch eliminiert, wie soll dann eine praktikable politische Verfasstheit aussehen? Die Idee der entgrenzten Weltgesellschaft hat bisher noch kein plausibles Konzept einer dann notwendigen Weltinnenpolitik hervorgebracht. Wie soll man hiesige Mittelschichten mit ihren Abstiegsängsten für eine ökonomisch nivellierende internationale Politik gewinnen, die für sie Anpassung nach unten bedeutet? Wie soll vermieden werden, dass das Chaos der Übergangszeit durch eine Diktatur abgelöst wird? Wenn Grenzen aber nicht völlig offen sein sollen, dann gibt es – wie bei traditionellen Sozialstaatlern – Diskussionen über Be-Grenzungen durch Kriterien, Mechanismen und Quantitäten. Ist das dann automatisch rassistisch? Und wo in diesem Flüchtlingselend soll der Keim einer neuen solidarischen Gesellschaft liegen? Wer sind die Subjekte? Die Geflüchteten? Die Flüchtlingshelfer? Wann hat je humanitäre Hilfe – und darum handelt es sich auch bei der engagiertesten Flüchtlingshilfe – ungerechte Strukturen verändert? Wollen die wenigen Flüchtlinge, die sich von einer autoritären Sozialpolitik emanzipieren können, nicht anschließend die Normen des Mainstreams besonders gut erfüllen, statt revolutionäre Subjekte im Sinne linker Theorie zu werden? Ein Geflüchteter ist nicht per se ein besserer Mensch. Er kann Opfer in dem einen Kontext sein und Täter in einem anderen. Sind alle diese Fragen irrelevant, weil es eigentlich gar kein Problem gibt, sondern nur guter Wille fehlt? Wie aber sehen das all die Kommunalpolitiker, die den guten Willen „on the ground“ umsetzen müssen und oft daran verzweifeln?
„Wir schaffen das“ oder „Wir schaffen das nicht“ – die einen appellieren an den guten Willen, andere sehen die praktischen Hindernisse. Statt zu einem der beiden Fähnlein zu eilen, sollte der linke Diskurs eine differenzierte und genauere Analyse des Problems und der Handlungsbedingungen versuchen.

These 2:
Sowohl politischer Mainstream als auch jede linke Alternative verfangen sich m.E. in je einem grundlegenden Widerspruch in der Flüchtlingspolitik. Beide betonen die Notwendigkeit, zuvörderst Fluchtursachen zu bekämpfen. Der Mainstream aber kann und will dies nicht konsequent umsetzen, weil er seine eigene ökonomische Basis damit untergraben würde. Für die linke Alternative liegt der Widerspruch hingegen in der Inkongruenz von transnationalen Fluchtursachen, aber nationalen bzw. regionalen Handlungsmöglichkeiten.
Eine linke Strategie könnte sich darauf verständigen, nicht nur den heimischen Wohlfahrtsstaat im Blick zu haben, sondern zugleich im nationalen wie globalen Rahmen anti-kapitalistisch, anti-rassistisch und feministisch zu agieren.
Das große Dilemma: der Handlungsrahmen diesseits von Utopien, Visionen und Illusionen bleibt – ob man mag oder nicht – bis auf weiteres in erster Linie der eigene Nationalstaat mit seiner Gesetzes- und Budgetkompetenz, an zweiter Stelle das regionale Bündnis der Europäischen Union und an dritter UNO und internationale Regime. Wie richtig auch geopolitische Analysen und globale Entwürfe sind, die Theorie wird, wenn sie nicht akademischer Diskurs bleiben, sondern handlungsmächtig werden will, an den gegebenen politisch-institutionellen Rahmen stoßen. Wenn man sich nicht in dem revolutionären Traum verlieren möchte, dass alle Opfer globaler Ungerechtigkeit aufstehen, in einem kollektiven Akt das alte System wegwischen und die neue Weltgesellschaft aufbauen, dann bleibt nichts anderes übrig, als sich um eine Strategie zu bemühen, die im gegebenen institutionellen Rahmen agiert, wobei sie zugleich versucht, ihn zu transzendieren. Das schließt Massenproteste mit ein.
Wie sieht der institutionelle Raum aus? Die Spaltung der EU in liberale und reaktionäre Staaten ist offensichtlich. In Deutschland zeichnet sich eine Politik ab, die linksliberale Einstellungen der Grünen und reaktionäre der CSU austariert. Die Bundesländer können und wollen nicht mehr tun, als in der Konkurrenz von konservativen und liberalen Modellen graduelle Verschiebungen zu erreichen. Die Kommunen müssen letztlich die globalen Widersprüche, die durch EU- und nationale Politik nicht angefasst und gelöst werden, durch konfliktträchtiges Verwaltungshandeln klein arbeiten.
Das Management von Zuwanderung und Flüchtlingselend ist in diesem institutionellen Rahmen nicht sauber und widerspruchsfrei hinzubekommen. Die Ausblendung wie auch die reibungsarme Internalisierung externer Konflikte gelingt, wenn überhaupt, nur Diktaturen. In einer Demokratie werden direkt und indirekt, tatsächlich und vermeintlich Betroffene immer um die Lastenverteilung streiten. Innenpolitisch also heißt es, sich durchzuwursteln – das gilt für Liberale wie für Linke. Die Chance für eine global orientierte, solidarische Politik besteht m.E. nur darin, den gesamten Diskurs zu verschieben.

These 3:
Entscheidend ist das „Agenda-Setting“. Wer sich auf die Problemdefinition der bürgerlichen oder rechten Parteien einlässt, hat schon verloren, selbst wenn er sich im humanistisch-solidarischen Sinne verbal-radikaler gebärdet. Die Stärkung linksliberaler Positionen gegen konservative drängt sich auf. Doch ist damit die Gefahr verbunden, auch den Liberalismus an sich zu stärken. Dieser aber ist in der Gestalt des Neo- oder Wirtschaftsliberalismus gerade das Problem und nicht die Lösung. Wer sich zu sehr auf den Liberalismus einlässt, hilft zugleich mit, den globalisierungskritischen Diskurs zu verdrängen.
Noch bemühen sich Grüne zum Beispiel, ihren linksliberalen bürgerrechtlichen Ansatz vom neoliberalen der FDP abzugrenzen. Doch seit gut 20 Jahren ist eine deutliche Verschiebung des öffentlichen grünen Profils von sozialen, gar öko-sozialistischen Positionen zu liberalen Positionen zu verfolgen. Ob die innere Widerständigkeit ausreicht, sich unter den Bedingungen einer Jamaika-Koalition gegen neoliberale Zumutungen zu behaupten, bleibt abzuwarten.
Eine Politik sozialer Solidarität jedenfalls braucht ein prägnanteres Profil. Sie muss die Veränderung der globalen Strukturen, die nicht nur das Flüchtlingselend, sondern auch die Degradierung von Arbeitnehmern und die Abstiegsangst von Mittelschichten verursachen, ins Zentrum rücken. Antworten hierzu finden sich eher bei attac als bei „Refugees welcome“. Sie handeln von Neoliberalismus und Turbokapitalismus, von Nationalismus und religiösem Wahn, von Warlords und Kriegsökonomien, von Umweltkrisen und Überbevölkerung.
An einem handlungsfähigen Staat geht nichts vorbei. Doch müssen die nationalstaatlichen Beschränkungen überwunden, statt verfestigt werden – angesichts der Renationalisierungstendenzen ein schwieriges Unterfangen. Bei aller Notwendigkeit tiefgreifender Reformen bedeutet dies zumindest das eindeutige Bekenntnis zu einer vertieften Europäischen Union.
Ein solidarischer Diskurs verlangt, auf stigmatisierende Begriffe zu verzichten. Individuen, besonders wenn sie in subjektiv fragilen oder überkomplexen Situationen leben, reagieren auf zusätzliche Zumutungen mit Angst, auch mit Fremdenangst. Reicht es, diese Leute zu beschimpfen? Oder lohnt es vielleicht, sich einmal grundsätzlicher mit den widersprüchlichen Postulaten von Evolutionsbiologie und Sozialphilosophie zu befassen: ererbte oder tradierte Disposition und ihre durch bewusstseinsmäßige Reflexion gegebene Veränderbarkeit als Determinanten kulturellen Lernens. Eine progressive Politik, die sich dem Humanismus verpflichtet fühlt, müsste diesen Faktor im Blick haben.

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Zum gleichen Thema s. auch den taz-Kommentar von Houssam Hamade zur Debatte in der Partei “Die Linke”.

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